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Logan
Keine zehn Minuten später stehen wir vor den riesigen Hallen des Football Stadions. Ich habe in der Hoffnung, dass er immer noch da arbeitet, meinem Freund Bob eine Nachricht geschickt. Obwohl wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen haben, antwortet er sofort, dass er mich erwartet. »Ich bin mir auf einmal nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war«, murmelt Maya zögerlich mit dem Blick auf das Tor.
»Ach komm schon, sei kein Spielverderber. Ich fing gerade an, dich zu mögen«, necke ich sie und versuche die Stimmung zu lockern, obwohl ich mich ziemlich merkwürdig fühle. Schließlich läuft man nicht jeden Tag mit seinem toten Vater durch die Gegend. Ihn hier in den Händen zu halten fühlt sich verdammt unwirklich an.
»Na dann«, sagt sie, strafft die Schultern und reckt das Kinn. »Diese Chance will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.«
»Gutes Mädchen«, lobe ich anerkennend und entdecke Bob aus einer kleineren Seitentür heraustreten. Wie schon damals hat er eine Kappe umgekehrt auf dem Kopf sitzen und ein breites, dämliches Grinsen auf dem Gesicht. Sofort muss ich es ihm gleichtun. Erstaunlich, wie man sofort wieder fünf Jahre jünger wird. »Na du Wichser?«, ruft er von weitem und beschleunigt seine Schritte.
»Na du Affe?« Ich reiche Maya die Urne, die sie nur widerwillig annimmt und umarme meinen alten Freund. Seit damals habe ich kaum jemand anderen an mich herangelassen. Bob und die andern kannte ich von Kindergartentagen an, weshalb sie die einzigen waren, die auch nach dem Tod meines Vaters noch zu mir gehalten haben. Ich war nicht gerade ein Sonnenschein und habe die meisten andern vergrault.
»Ach, bevor du überrumpelt wirst: Ich habe einigen Leuten Bescheid gegeben, dass du hier bist«, grinst Bob breit, obwohl ich ihn eigentlich gebeten habe, die Sache geheim zu halten.
»Lolli!«, ertönt da schon eine grelle Stimme und Sekunden später springt mich eine zierliche Gestalt an. Nach all den Jahren erkenne ich sie wieder – was nicht alleine an dem absolut dämlichen Spitznamen liegt. »J-J«, sage ich und drücke sie. Julia ist eine der wenigen Frauen, die ich wirklich mochte. Was vielleicht daran liegt, dass sie nicht auf Schwänze steht und somit in meinem Beuteschema erst gar nicht vorkommt .
»Fünf Jahre lässt du dich nicht blicken und tauchst dann einfach auf, ohne uns Bescheid zu sagen?«, ruft da auch eine andere bekannte Stimme. Lester klatscht mit mir ab und wendet sich dann an Maya, die immer noch völlig verblüfft dasteht und die Urne vor sich her gestreckt hält. »Und wenn ich mich nicht irre, ist diese Schönheit der Grund dafür.«
»Schönheit? Absolut heiß!«, unterbricht Bob ihn und mustert Maya von oben bis unten. »Du hast deinen Geschmack nicht verloren, Bro!«
»Leute«, lache ich, nehme ihr die Urne ab, sodass sie meinen Freunden die Hand schütteln kann. »Das ist Maya. Meine Stiefschwester.«
»Heilige Scheiße!«, bemerkt Bob anerkennend und grinst immer breiter. Gott wie ich den Kerl vermisst habe. Bob ist einer der nettesten Menschen, die ich kenne. Was man auf den ersten Blick und wahrscheinlich auch auf den zweiten nicht vermuten würde.
»Enchanté.« Lester zieht seinen imaginären Hut, verbeugt sich und gibt Maya einen Handkuss. Er hat sich kein Bisschen verändert.
»Wir sollten es endlich hinter uns bringen«, schlage ich vor und deute auf meinen Vater. J-Js zierliche Hand drückt meine Schulter. »Wir sind für dich da.« Sonst sagt niemand etwas, wofür ich ihnen endlos dankbar bin. Sie wissen, was das für mich und meine Familie bedeutet. Sie gehören zu den einzigen Menschen, die es verstehen.
»Wieso eigentlich hier?«, fragt Maya, während wir Bob den schmalen Gang entlang folgen. Er gehört zu der Crew, die das Stadion in Bestand halten. Er geht ein großes Risiko ein, indem er uns hier reinlässt, aber er hat auf meine Anfrage hin keine Sekunde gezögert.
»Dad war eigentlich nie Zuhause«, erkläre ich und erinnere mich schmerzhaft an damals. »Nur am Wochenende nahm er Neal und mich mit zu den Spielen der Philadelphia Eagles.«
Sie macht ein verstehendes Geräusch. »Du bist also Football-Fan?«
»Ich hasse es!«, lache ich kopfschüttelnd. Bis heute kann ich nicht verstehen, was die Menschen an diesem Sport spannend finden. Was die Leute überhaupt an Sport interessant finden. Als Sportler selbst klar, aber als Zuschauer? »Aber das waren die einzigen Momente, an denen Dad frei zu sein schien. Er musste nicht an seinen stressigen Job denken oder an all die anderen Probleme im Leben. Ich genoss jede Sekunde. Nur dann waren wir uns wirklich nah.« Ich spüre die aufkommenden Tränen in meinen Augen kitzeln, blinzle sie aber schnell wieder weg. Sie kommen viele Jahre zu spät. Auch, wenn heute ein Schlussstrich gezogen wird, habe ich mich schon vor Jahren von meinem Vater verabschiedet. Und zwar ohne eine einzige Träne.
Es ist ein unglaubliches Gefühl, wieder hier zu stehen. Auf der Tribüne hatten wir immer unsere Stammplätze. Sie waren nicht unbedingt spitze, aber sie haben sich richtig angefühlt. Maya, J-J, Bob und Lester haben mich alleine herkommen lassen und warten im Gang auf mich. Ich öffne den Deckel mit zittrigen Fingern. Plötzlich bleibt mir die Luft weg und ich kann die Tränen nicht mehr verhindern. Scheiße, ich wollte doch nicht weinen! Nicht um ihn. Und doch lasse ich sie laufen, während ich seine Asche erst zögerlich dann in größeren Schüben hinausstreue. »Ich hoffe du bis jetzt frei«, flüstere ich und schließe wieder den Deckel.
Wie betäubt bleibe ich eine ganze Zeit lang so stehen und starre ins Leere. Ich beobachte nichts Bestimmtes und bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich die Augen offen oder geschlossen halte. Ich habe gehofft, dass ich mich auch frei fühle, aber dieses Gefühl bleibt aus. Ich empfinde nichts. Enttäuscht und mit einem fetten Kloß im Hals schlendere ich wieder zu den andern, die sich leise miteinander unterhalten.
»Kommt ihr noch mit zu Murph`s?«, fragt Lester und legt mir eine Hand auf die Schulter. Mit denselben einfühlsamen Augen wie damals blickt er mir tief in die Seele.
»Murph`s?«, fragt Maya begeistert. Sie scheint sich gut mit meinen Freunden zu verstehen, was mich irgendwie wundert. Eigentlich habe ich gedacht, sie würde sie verächtlich oder zumindest belustigt beäugen. Maya sieht nicht so aus, als würde sie mit uns die Nächte durchmachen, auf Lesters Boden oder in J-Js Wohnwagen übernachten. Sie ähnelt eher den Mädchen, die über uns die Nase gerümpft und schlussendlich doch mit einem von uns in der Kiste gelandet sind. Es überrascht mich, dass auch meine Freunde sie zu mögen scheinen.
»Die coolste Bar in ganz Philly«, erklärt J-J und legt mir einen Arm um die Schultern. »Logan hat sogar ´ne Zeitlang da gejobbt. Hauptsächlich um Mädels abzuschleppen. Und die sind genau deshalb gekommen.« Sie grinst mich an und knufft meine Schulter. »Ich wette, die süße Patrice arbeitet auch noch da.« Eigentlich müssten wir zurück, aber warum eigentlich nicht? Scheiße, ich habe meinen Vater eben in einem verdammten Stadion verstreut. Natürlich sollten wir bleiben. Fragend blicke ich zu Maya, doch diese nickt nur vage. »Wenn du nicht willst, fahren wir heim.«
J-J quietscht, als wäre ich ein Hundewelpe und hätte gerade einen Purzelbaum gemacht. »Wie süß und fürsorglich du geworden bist, Lolli! «
»Bin ich nicht«, verteidige ich mich kopfschüttelnd.
Maya lacht. »Das kann ich bestätigen. Er ist eher total nervig«, erklärt sie meinen Freunden. »Aber ich würde gerne mit euch kommen. Ich habe eh nichts Besseres zu tun.«
»Ja. Weil ihr Freund ganz furchtbar wichtige Dinge zu erledigen hat, anstatt seine Freundin zu ficken.« Maya verdreht kopfschüttelnd die Augen, aber ich sehe wie sie grinst.
»Du hast dich absolut nicht verändert«, lacht Bob laut und klatscht mit mir ab.
Zusammen fahren wir zu Murph´s und sofort kommt mir der alte Murph höchstpersönlich entgegengestürmt und zieht mich in eine Umarmung, dass mir die Luft wegbleibt. »Was für eine Überraschung!«, ruft er und mustert mich von oben bis unten. »Hätte nicht gedacht, dich nochmal wieder zu sehen. Nach Dons Tod seid ihr ja so schnell abgehauen, als wäre ein Schwarm tollwütiger Hunde hinter euch her.« Beim Namen meines Vaters zucke ich zusammen. Es ist eine ganze Weile her, dass ich ihn das letzte Mal gehört habe.
»Ja ich weiß.«
»Eure erste Runde geht auf mich«, verkündet er mit seiner rauen Stimme und klopft mir fest auf den Rücken, bevor er wieder hinter der Theke verschwindet. Seine Haare sind mittlerweile komplett ausgefallen, seine Haut ist fahl und eingefallen und doch strotzt er immer noch voller Leben.
Ich sehe mich in der Bar um, in der ich früher so viel Zeit verbracht habe. Es sieht immer noch alles genau gleich aus. Die rustikalen Möbel harmonieren perfekt zu den Backsteinwänden. Der Tresen ist wie immer gut besetzt, von gut gelaunten Leuten. Murph´s ist keine dieser düsteren Bars, in denen man im Selbstmitleid zerfließen kann. Eine bittere Melancholie macht sich breit, wird aber sofort von der aus den Boxen dröhnenden Musik verscheucht. »Lasst uns einen trinken«, grölt J-J und tritt hinter der Bar hervor. Murph hat ihr schon früher immer verboten, hinter den Tresen zu kommen, um an der Musik zu spielen, aber das hat sie damals genauso wenig gestört wie heute.
»Die Drei sind ziemlich cool. Es wundert mich, dass sie mit dir befreundet sind.« Maya kommt aus Lesters Badezimmer getrottet. Ein Handtuch um den Kopf und ein langes Bandshirt am Körper. Wie versteinert starre ich auf ihre langen nackten Beine. Fuck … Sie setzt sich neben mich auf die Couch, auf der sie heute Nacht pennt. Ihre Augen wirken etwas glasig, was ich dem Alkohol zuschreibe und scheiße, ich bin froh, nichts getrunken zu haben. Meine Willenskraft ist so stark, dass ic h sie nicht berühre, was andernfalls vermutlich nicht so wäre. »Willst du damit sagen, dass ich nicht cool bin?«, feixe ich, als ich realisiere, dass sie auf eine Antwort wartet.
Auch ihr Grinsen wird immer breiter. »Könnte man so sagen, ja.« Ihre perfekten Zähne strahlen regelrecht. Sie ist wirklich verdammt hübsch. Sie löst das Handtuch, sodass ihr die blonden Haare wild über die Schultern fallen. Mit einem Schwung liegt sie unter der Decke, was mein Zeichen ist aufzustehen.
Bevor ich an der Tür angekommen bin, drehe ich mich noch einmal um und nehme meinen ganzen Mut zusammen. »Ach und … danke, dass du mitgekommen bist, Maya.«
Sie lächelt und zieht die Decke enger an sich. »Danke, dass du mich aus meinem tristen Alltag befreit hast.« Sie räkelt sich, wartet bis ich die Tür geöffnet habe, ruft mir dann aber noch etwas hinterher. »Aber denk nicht, dass wir jetzt Freunde sind.«
Lachend stoße ich die Luft zwischen den Zähnen aus. »Wir sind sozusagen Geschwister. Wir dürfen überhaupt nicht befreundet sein. «
Maya kichert. »Gute Nacht, Logan.«
»Gute Nacht, Maya.«