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Logan
Eine Woche sind wir jetzt schon in unserem neuen Heim und so langsam scheint sich ein Rhythmus einzufinden. Ich frage mich, ob ich mich hier irgendwann wirklich Zuhause fühle, aber wann habe ich das schon jemals? Seit dem Tod meines Vaters sind wir immer wieder umgezogen. Nicht, weil wir uns das Haus nicht mehr leisten konnten – unser Vater hat uns einiges an Geld hinterlassen – sondern, weil die Trauer des Verlustes immer wieder aufgetaucht ist. Immer wieder ist meine Mutter in tiefe Depressionen verfallen. Hat sich von ihren Schmerzen verfolgt gefühlt, sobald Normalität in unser Leben eingetreten ist. Ich wünsche ihr, dass es nun anders ist. Dass sie endlich einen Menschen gefunden hat, der sie wieder glücklich machen kann. Immerhin ist Christopher der erste Mann, den sie in unser Leben gelassen hat. Und er scheint gut zu ihr zu sein.
Ich liege auf der Couch und studiere die Stellenangebote der Umgebung. Nicht wirklich etwas Vielversprechendes zu finden. Wer hätte das geahnt. Bis auf meine Mom und Christopher, die das Frühstück vorbereiten, bin ich der Einzige, der schon auf den Beinen ist. Anders als meine Geschwister bin ich alles andere als ein Langschläfer. Wenn ich könnte, würde ich überhaupt nicht schlafen. Zu viele Gedanken, die sich im Schlaf in Bilder verwandeln, die ich nicht sehen will.
Die Haustür öffnet sich und ich sehe von der Zeitung auf. Maya steht im Flur und redet auf irgendwen ein. Vermutlich auf diesen Mike, bei dem sie die letzte Nacht verbracht hat. Ich versuche mir meine Neugierde nicht anmerken zu lassen, als ich wie zufällig an ihnen vorbei zur Küche laufe. Dabei mustere ich ihn ganz genau. Der Kerl sieht aus wie mindestens 100. Zumindest seinem Klamottenstil nach zu urteilen. Die blonden Haare hat er akkurat nach hinten gekämmt, während ich meine heute nicht einmal gekämmt habe. Zu meinem Glück scheinen die Frauen auf diesen »wilden« Look zu stehen.
»Ich hoffe ihr hattet Spaß«, sage ich und zwinkere den beiden zu. Mal sehen, wie der Kerl so drauf ist. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu und strecke die Hand aus. »Ich bin Logan.«
Er hebt abschätzig eine Augenbraue, bevor er den Blick erst über mich streifen und dann zu seiner Armbanduhr wandern lässt. »Als Maya mir erzählt hat, dass du nicht studierst, nahm ich an, dass du arbeitest.«
Er will mich beleidigen, aber zum Glück habe ich irgendwann gelernt, einfach all die dummen Sprüche an mir abprallen zu lassen. Stattdessen hebe ich einen Mundwinkel und sehe demonstrativ zwischen den beiden hin und her. »Das ist ja interessant, dass ihr euch anscheinend so genau über mich unterhaltet, obwohl ihr euch Monate lang nicht gesehen habt. Also ich hätte da anderes mit meiner Freundin zu tun.«
»Logan!«, knurrt Maya. Und sogar in dem Tonfall mag ich es, wie sie meinen Namen ausspricht. Vielleicht ist das sogar bisher der Tonfall, der mir am besten gefällt.
»Ich bin ja schon ruhig«, sage ich und hebe beschwichtigend die Hände.
»Guten Morgen zusammen!«, flötet Maggie, die von dem Morgenmuffel Neal begleitet in die Küche kommt und sich freudestrahlend neben Maya setzt. Ich frage mich immer wieder, wie wir so unterschiedlich sein können. Maggie ist gutgelaunt, sobald sie ihre Decke von sich strampelt. Neal ist erst nach dem zweiten Kaffee ansprechbar. Und ich bräuchte keinen Schlaf. Der Küchentisch ist für uns alle eigentlich schon zu schmal, weshalb wir den Gartentisch von draußen noch mit reingestellt haben, aber durch Mike ist die ganze Dynamik jetzt endgültig gestört. Aber anscheinend sehe nur ich das so, denn alle andern rutschen einfach ein bisschen näher an ihren Nachbarn. Ich rühre mit dem Löffel in meinem Kaffee, verändert sonst allerdings überhaupt nichts an meiner Position .
»Schön, dich wiederzusehen, Mike. Wie läuft das Studium?«, fragt Christopher und reicht das Brotkörbchen herum.
Wir sind eine verdammte Großfamilie! In Momenten wie diesen wird mir das erst richtig bewusst. Meine Mom strahlt über den ganzen Tisch, ist aber nicht wirklich gesprächiger als sonst. Genaugenommen höre ich meine Mutter so selten sprechen, dass es einen manchmal sogar erschreckt, ihre leise Stimme zu hören. Aber immerhin kann ich sie in letzter Zeit wieder öfter lachen hören.
Als alle Mike anschauen, um auf seine Antwort zu warten – mit der er sich Zeit lässt – richtet er sich auf und lächelt in die Runde. Sein Blick bleibt einen Moment zu lange auf mir liegen und ich würde ihn ihm am liebsten aus dem Gesicht wischen. »Läuft alles ganz prächtig, Mr. Lewis. Ich habe einen äußerst begehrten Praktikumsplatz für die Semesterferien ergattern können.«
Maya, die bis eben selig lächelnd ihr Brötchen aufgeschnitten hat, legt das Messer hin und schaut ihn entgeistert an. »Davon hast du mir noch gar nichts gesagt. Wann musst du wieder zurück?«
»In vier Wochen«, antwortet er, ohne auch nur die Miene zu verziehen .
»Und wieso hast du mir nichts gesagt?«, fragt sie leise. Als ob wir ihnen jetzt nicht ohnehin schon alle gespannt lauschen würden. Neal tut noch so, als würde er sich auf sein Brötchen konzentrieren, obwohl er immer wieder mit dem Messer über die gleiche Stelle streicht, während Maggie und Christopher die beiden genau beobachten. Meine Mutter ist gerade aufgesprungen und hantiert an der Küchenzeile.
»Ich dachte, es wäre klar, dass ich nicht meine ganzen Ferien faul auf der Haut liegen werde.« Beinahe klingt es wie ein Angriff. Die Frage ist nur: auf wen?
»Okay.«
»Will jemand noch Kaffee?«, fragt meine Mutter, die jedem Konflikt am liebsten schon im Vorfeld aus dem Weg geht. Ich dachte immer, sie wäre nach dem Tod meines Vaters so geworden, aber eigentlich war sie schon immer so. Es gibt Menschen, die nicht sehen wollen, was schiefläuft.
Bis es zu spät ist.
Nachdem meine Mutter ihre geheime Superkraft eingesetzt und das Thema gekonnt geändert hat, verlief das Frühstück dann doch noch sehr harmonisch ab. Mike hatte kurz nach seinem Geständnis seinen Hemdärmel hochgezogen – welcher Kerl in unserem Alter geht bitteschön im Hemd frühstücken? – und mit einem Blick auf die Uhr verkündet, dass er wieder losmüsse. Ich mag ihn nicht. Und das liegt nicht nur daran, dass er sich einen Scheiß dafür interessiert, was andere denken. Solch ein egoistischer Mensch passt nicht hierhin. Ich muss grinsen, als ich realisiere, dass ich diese Familie jetzt schon als Einheit sehe und schützen will, obwohl wir gerade erst hierhergezogen sind.
»Was denn?«, fragt Maya und sieht mich lächelnd an. Sie reicht mir einen Teller, den sie gerade abgespült hat, damit ich ihn trocknen und zurückräumen kann. In einer so großen Familie herrscht nur Ordnung, wenn jeder seine Aufgaben hat. Und zu meinem Glück bin ich mit Maya fürs Abräumen zuständig. Ob ich will oder nicht, mag ich ihre Anwesenheit. Ich meine: Sie ist ein Augenschmaus, wie kann man das nicht mögen? Doch auch die kleinen Diskussionen mit ihr sind jedes Mal unterhaltsam.
»Ich habe nur gerade dran gedacht, dass ich deinen Freund am liebsten direkt rausgeschmissen hätte, sobald er seinen Mund geöffnet hat.«
»Nett«, lacht sie, nimmt mir das Tuch aus der Hand und schlägt damit nach mir.
»Tut mir leid, aber er ist einfach ein Kotzbrocken.«
Sie seufzt, legt das Tuch hinter uns auf die Ablage und hievt sich daran hoch. »Mike kann manchmal ein bisschen überheblich sein.«
»Manchmal?« Ich lehne mich dagegen, sodass ich beinahe ihr Bein berühre .
»Aber irgendwie stimmt es doch schon, oder?« Sie senkt den Blick auf ihre hin und her wippenden Beine. »Du hängst den ganzen Tag nur hier rum. Was ist das denn für ein Leben?« Eigentlich müsste ich gekränkt sein. Mich beleidigt fühlen, aber in Mayas Stimme klingt keine Anklage mit – lediglich Interesse. Trotzdem muss ich lachen, weil ausgerechnet sie mir diese Frage stellt.
»Wie wäre es, wenn du dich zuerst um dein Leben kümmerst, bevor du versuchst, mich zu therapieren. Soweit ich mitbekommen habe, erlebst du auch nicht gerade besonders viel.« Ich greife um sie herum in den Kühlschrank und hole mir eine Dose Cola. Dabei zuckt sie unter meiner Berührung kurz zusammen.
»Tu ich wohl.«
»Achja? Nenn mir eine aufregende Tätigkeit der letzten Wochen.« Ich trinke einen Schluck, lasse sie aber keine Sekunde aus den Augen. Maya sieht mich zuerst verwirrt an, verdreht dann die Augen und richtet sie zur Decke. »Als wir in P-«
»In Philly warst du nur wegen mir, das zählt nicht«, komme ich ihr zuvor, woraufhin sie sofort frustriert seufzt .
»Ich gehe arbeiten?«, versucht sie es, merkt aber selbst, wie lahm das ist.
Ich lache. »Gähn. Arbeit hat nichts mit leben zu tun.«
»Trotzdem könntest du arbeiten gehen. Vielleicht musstest du das früher nicht, aber jeder hat hier seine Verantwortung zu tragen.« Wenn sie wüsste, wie viel Verantwortung ich immer getragen habe, würde sie das nicht sagen. Aber wir kennen uns nicht. Auch, wenn wir jetzt unter einem Dach leben, weiß sie rein gar nichts über meine Familie und mich. Trotzdem nicke ich. »Alles klar. Ich werde mir eine Arbeit suchen. Aber jetzt lenk nicht ab. Wir reden über dich.«
»Okay!«, stöhnt sie, kann ihr Grinsen aber nicht verbergen. »Ich gehe oft ins Kino«, kontert sie und sieht mich mit herausfordernd funkelnden Augen an.
Ich reiße die Augen auf und hebe abwehrend die Hände. »Okay, jetzt bin ich überzeugt.«
Sie zieht eine Grimasse und stößt mich an der Schulter weg. »Hey! Ich mag eben Filme. Erzähl du mir doch, was du die letzte Woche so gemacht hast!«
»Ich muss mich erst einleben«, sage ich und zucke mit den Schultern.
Sie hebt eine Augenbraue und sieht mich eindringlich an. So eindringlich, dass ich ihrem Blick nicht ausweichen kann. Und es auch nicht will. »Aha.« Ich mache einen Schritt auf sie zu, sodass ich zwischen ihren Beinen stehe. Die Arme platziere ich rechts und links neben ihr auf der Arbeitsplatte.
»Glaub mir, Prinzessin. Ich lebe.« Mit der rechten Hand streiche ich ihr eine Strähne hinters Ohr und beobachte ihr Gesicht. Sie schluckt hart, als ich meine Hand wieder wegnehme. »Vielleicht lebe ich nicht so, wie ich es mir wünschen würde, aber ich mache das Beste aus meiner Situation.«
»Und wie würdest du es dir wünschen?«, fragt sie heiser und lässt die Augen über mein Gesicht gleiten. Meine Hände rutschen näher an ihre Hüften. Ich bemerke, wie ihr Atem sich beschleunigt, dabei habe ich sie nicht einmal berührt. Ich wusste, dass der Kerl nicht das ist, was sie braucht. Ich wusste, dass sie sich nach mehr sehnt. Und ich weiß, dass ich es ihr geben will.
»Ich wüsste, was ich mir jetzt wünsche.« Maya rutscht unruhig auf der Arbeitsplatte herum, rutscht dabei automatisch immer näher an mich heran. Ob sie das vorhatte oder nicht, weiß ich nicht, aber alleine der Gedanke daran, dass sie es so gewollt hat, lässt mich hart werden.
»Ich … ich.« Bevor sie ihren Satz beenden kann, hören wir Maggies Lachen aus dem Flur. Schnell mache ich einen Satz nach links und schnappe mir das Tuch und einen Teller. Maya springt hastig von der Arbeitsfläche und läuft mit hochrotem Kopf an mir vorbei. Mit einem le tzten, verwirrten Blick stürzt sie aus der Küche und rennt an Maggie vorbei.
Grinsend trockne ich weiter ab und denke an all die schönen Dinge, die ich mir jetzt wünschen würde.