»Logan.« Eine leise Stimme erklingt und ich bin mir sicher, dass ich träume, denn diese Stimme dominiert seit einer Woche jeden meiner Träume. »Hey, aufwachen.« Müde öffne ich die Augen. Kann es einen schöneren Start in den Tag geben, als dieses Gesicht zu sehen? Kopfschüttelnd verscheuche ich diesen Gedanken – der in verschiedenster Form immer wieder auftaucht. »Maya«, antworte ich mit verschlafener Stimme und setze mich auf. Durch die dünnen Jalousien dringt das Morgenlicht in mein Zimmer. Mit einem Blick zur Seite sehe ich, dass Neal bereits aufgestanden ist. »Wie spät ist es?«, frage ich gähnend und befürchte bereits, verschlafen zu haben, da beugt Maya sich grinsend vor und küsst mich. Ach scheiß drauf! Von mir aus würde ich jeden Tag meines Lebens verschlafen, wenn das die Quittung dafür ist.
»Kurz vor sieben Uhr. Pat will die Boutique komplett umräumen, weshalb wir heute früher da sein sollen. Ich muss also bald los, aber ich wollte …« Sie druckst herum, streicht von meinen Schultern zum Hals und zeichnet mit den Fingernägeln kleine Kreise darauf. Sie weiß nicht, dass diese Berührungen eine Gänsehaut bis in me
ine Hose verursachen. »Was wolltest du, Maya?« Es ist das erste Mal, dass ich ein Mädchen so oft und gern bei ihrem Namen nenne. Kosenamen gehen mir für gewöhnlich leichter über die Lippen, doch dieser Name … diese zwei Silben klingen einfach perfekt.
»Ich wollte fragen, ob wir heute Nachmittag etwas unternehmen wollen? Das Wetter soll heute nochmal wahnsinnig gut werden. Danach wird der Herbst wohl voll einschlagen. Aber nur, wenn du willst. Wenn nicht – « Ich unterbreche sie, indem ich sie bei der dünnen Jacke packe und zu mir ziehe. Werde ich jemals genug davon bekommen, sie zu küssen?
»Gerne. Ich arbeite bis fünf Uhr. Soll ich dich abholen? Was hast du vor?«
Ein Grinsen breitet sich auf ihrem Mund aus. »Ja. Und das ist eine Überraschung«, verkündet sie feierlich, springt auf und hastet davon. Idiotisch lächelnd lasse ich mich ein letztes Mal in das Laken fallen.
Ich antworte gerade noch auf eine Nachricht, die Maya mir geschickt hat, als ich die Werkstatt betrete, und schon die dunkle Stimme meines Vorgesetzten aus der Ferne vernehme
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»Gut drauf?«, ruft er. Das Klirren von Metall und ein schlecht eingestellter Radiosender sind die stete Geräuschkulisse hier drin.
»Bis jetzt schon«, sage ich und verstaue das Handy in meiner Hose. Frank legt den Schraubenzieher auf den Werkzeugschrank neben dem aufgebockten BMW und kommt auf mich zu. Seine Hände sind ölbeschmiert. Er trägt immer noch das gleiche Shirt wie gestern und auch die grauen Stoppeln im Gesicht zeugen davon, dass er letzte Nacht wieder nicht Zuhause war. Frank verbringt immer öfter die Abende und Nächte lieber hier in der Werkstatt mit ein paar Bier als Zuhause bei seiner Frau. »Das könnte sich gleich ändern. Gestern hast du ´nen Wagen ohne Scheibenwischer abgegeben! Logan, solche Fehler häufen sich in letzter Zeit. Konzentrier dich, oder du bist raus!« Meine Miene verfinstert sich, während ich ihn fixiere. Dass er vor zwei Wochen einen Wagen abgeben wollte, dessen Reifen nicht ordentlich befestigt waren, ist offensichtlich vergessen. Dass ich ihn kontrolliert, und damit Schlimmeres verhindert habe, scheint für ihn jetzt nicht mehr von Belang zu sein.
»Kommt nicht mehr vor«, knurre ich und gehe an meine Arbeit.
»Pass auf, wie du dich benimmst, Junge. Du bist gut, aber so gut auch wieder nicht.« Obwohl seine Stimme laut und dunkel ist, verliert sie immer mehr an Autorität.
Wie soll man so einen Kerl auch bitteschön ernstnehmen?
Der Morgen verging trotz meiner mittlerweile mehr als finsteren Laune wie im Flug, doch nach der Mittagspause ist wie so oft Ebbe. Ich sitze im Aufenthaltsraum mit meiner Cola in der Hand und lausche dem absurden Gespräch des Radiomoderators mit einer Frau, die ihre Meinung zur Präsidentenwahl abgibt. Manchen Menschen ist einfach nicht mehr zu helfen. Die schwere Metalltür öffnet sich und als Erstes fallen mir die langen nackten Beine auf, die hindurchstolzieren. Kims Körper steckt in einem knallengen roten Kleid, das für diese Arbeitsstelle – und für so gut wie jede andere – viel zu unangemessen ist. Ihre Titten springen einem beim bloßen Anschauen schon ins Gesicht. Ihre roten Lippen verziehen sich zu einem Fischmund, als sie sich lasziv auf den Tisch vor mir setzt. Die Beine überschlagen, der Oberkörper so weit nach vorne gebogen, dass ich mich nach hinten legen muss, um ihrer Oberweite zu entkommen. »Hey, Logi. Hast du gerade nichts zu tun?«
»Gerade nicht«, gebe ich gleichgültig zurück und trinke ein Schluck, um mein Desinteresse zu demonstrieren. Seit Wochen geht sie mir auf den Sack. Einmal in der Kiste und sie denkt, das würde irgendetwas bedeuten
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»Ich auch nicht«, sagt sie zwinkernd und rutscht ein bisschen näher an mich heran. »Wir könnten uns die Zeit ein wenig miteinander vertreiben, wenn du willst?«
»Kim«, sage ich genervt. »Ich habe kein Interesse. Wann kapierst du das endlich?« Mit einem Blick auf die Uhr erkenne ich zu meinem Glück, dass ich nur noch eine Viertelstunde ausharren muss. Sie ist hartnäckig, was mir in einer anderen Situation vielleicht gefallen hätte, aber jetzt … jetzt ist es anders.
»Aber wieso denn?«, fragt sie schmollend und klimpert mit den Wimpern. »Wir könnten uns auf die Personaltoilette verziehen. Du stehst doch auf die Gefahr, erwischt zu werden.« Früher hätte ich sie nicht einmal den ersten Satz aussprechen lassen und sie flachgelegt, jetzt lassen mich ihre Verführungsversuche völlig kalt.
Ich seufze. »Ich habe einfach keinen Bock mehr auf dich. Versteh das endlich.« Vielleicht bin ich zu hart, aber Kim scheint es nicht anders zu verstehen. Wieso können Frauen nicht einfach akzeptieren, wenn sie einen Mann nicht mehr an der Angel haben?
»Ach, hast du jetzt was Besseres fürs Bett gefunden?«, fragt sie schnippisch und springt vom Tisch. Endlich!
»Ja.« Auch, wenn es mir schwerfällt, das zu sagen, denn Maya ist mehr als nur Eine fürs Bett. Maya ist eher
eine fürs Leben. Nur eben nicht für mich. Meine schlechte Laune steigt von Sekunde zu Sekunde an. Ist es richtig, was wir tun? Sie hat mir zwar erklärt, dass es okay für sie ist, doch wie kann ich mir da sicher sein? Was, wenn sie sich doch in mich verliebt? Unsere Eltern scheinen sich wirklich zu lieben. Wie soll es werden, wenn Maya mich irgendwann hasst? Die Familientreffen, die Feiertage werden die Hölle werden.
Sobald die Uhr Fünf zeigt, schnappe ich meine Sachen und mache mich auf den Weg zur Boutique.
Das Glöckchen kündigt meine Ankunft in dem kleinen Laden an und keine Sekunde später kommt Maya angelaufen. Als sie mich erkennt, breitet sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Mein Puls geht schneller. Scheiße
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»Hey! Da bist du ja schon«, sagt sie.
»Ich habe Gas gegeben. Normalerweise komme ich nicht zu früh.« Sie verdreht die Augen über meine Zweideutigkeit, blickt sich zum Hinterzimmer um und umarmt mich fest. Offensichtlich braucht sie das gerade ebenso wie ich. »Scheiß Tag?«, frage ich und sie nickt an meine Brust geschmiegt.
»Du siehst aber auch nicht unbedingt glücklich aus. Alles okay?«, fragt sie, sobald sie sich von mir gelöst und gemustert hat. Es rührt mich, dass sie erst an mich denkt, bevor sie ihren Frust rauslässt
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»Hey«, macht Maggie überrascht, die gerade einen Stapel Pullover von hinten nach vorne bringt und in einem Regal verstaut. »Was machst du denn hier?« Maya versucht unbemerkt einen weiteren Schritt von mir wegzukommen. Ich grinse und wende meine ganze Aufmerksamkeit meiner Schwester zu.
»Maya hat mich gebeten, herzukommen. Sie hat heute etwas vor«, verkünde ich augenzwinkernd und Maggie reißt die Augen auf. »Oh cool! Wo geht’s hin? Ich hol nur schnell meine Tasche.«
»Es … Also eigentlich wollte ich mit Logan …« Hilfesuchend sieht Maya mich an. Bei diesem Anblick hebt sich meine Laune sofort ein weiteres Stück. Keine fünf Minuten, und der Mist des ganzen Tages ist verflogen.
»Maya wollte mir etwas zeigen, worüber wir vor ein paar Tagen gesprochen haben.« Ich lege meinen Arm um Maya – freundschaftlich natürlich – und doch spüre ich, wie sie sich versteift. Ich grinse meine Schwester an, Mayas Lächeln sieht hingegen einfach nur gequält aus. Entweder Maggie kauft uns die Geschichte ab, oder sie ignoriert es gekonnt. Mit einem Schulterzucken öffnet sie die Tür. »Okay! Kein Problem. Ich wollte heute eh
Shoppen. Viel Spaß euch.« Sie wirft uns einen Handkuss zu und zieht die Tür hinter sich zu.
»Puh! Das war knapp«, seufzt Maya und sackt ein Stückchen in sich zusammen. Man kann regelrecht sehen, wie die Anspannung von ihr abfällt.
»Nein, war es nicht«, lache ich und ziehe sie wieder enger an mich. Wie konnte ich nur daran zweifeln, dass das
hier eine gute Idee ist?
»Verrätst du mir jetzt endlich, wo wir hinfahren?« Wir fahren seit etwa einer halben Stunde umher. Das Navi auf Mayas Handy dirigiert mich gefühlt immer wieder im Kreis. Ob es den Weg überhaupt kennt?
»Stopp! Wir sind da«, ruft Maya nach weiteren zehn Minuten euphorisch. Den Blick hat sie aus der Seitenscheibe gewandt, aber das Grinsen kann ich trotzdem erkennen. Ich weiß nicht, was wir hier wollen, aber Maya so strahlen zu sehen, ist es allemal wert. Als ich mich umsehe, bezweifle ich allerdings, dass wir hier richtig sind. »Wir sind auf einer Brücke.« Genau genommen stehen wir vor einer Brücke.
»Korrekt«, sagt sie und sieht mich an. »Fahr da auf den Parkplatz.« Ich nicke und folge ihrer Anweisung
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Fünf Minuten später ahne ich, was wir hier wollen. In der Mitte der Brücke entdecke ich einige Menschen herumstehen. Maya klammert sich an meinen Arm und sieht mich an wie ein Kind, das seinen Eltern zum ersten Mal ein Weihnachtsgeschenk gemacht und jetzt auf die Reaktion wartet. »Und? Wie findest du es?« Ich bin sprachlos, als ich verstehe, dass sie das für mich gemacht hat. »Du meintest, dass du das Leben gerne genießt und Abenteuer liebst und in letzter Zeit hattest du nicht besonders viele davon.« Ich halte sie an der Hand zurück, als sie zu den beiden Männern laufen will, die bereits auf uns warten. Meine Hände finden wie von selbst ihr Gesicht, meine Lippen ihren Mund. Mein Herz fühlt sich seltsam schwer an. So, als wäre es gerade ein ganzes Stück gewachsen. Maya legt ihre zierlichen Arme um meinen Hals und zieht mich näher zu sich hinab. »Gefällt es dir?«, flüstert sie sobald wir und voneinander lösen.
Ich lehne meine Stirn an ihre, muss mich und meine Stimme erst einmal sammeln. »Ich liebe es.«
»Schon mal gesprungen?«, fragt einer der Kerle und hält uns seine Hand hin. Maya ergreift sie und ich sehe, dass sie ein bisschen zittert. »Nope. Ist unser erstes Mal«, erkläre ich und spähe über den Rand in die Tiefe. Das Wasser ist so blau und klar, dass man am liebsten hineintauchen würde. Und doch bin ich mir sicher, dass es scheißweh tun würde, wenn das Seil reißt
.
Seit ich kapiert habe wozu wir hier sind, kriege ich das dümmliche Grinsen nicht mehr vom Gesicht. Adrenalin pumpt durch meine Adern, als wir die letzten Instruktionen bekommen. Die beiden Kerle lachen und spaßen mit uns wie mit alten Freunden. Sie haben vermutlich einen der geilsten Jobs der Welt. »Bereit?«, fragt einer von ihnen, sobald wir über das Geländer geklettert sind. Maya und ich sind aneinander gegurtet. Sie sieht mich aufgeregt an, nickt und vergräbt dann das Gesicht an meiner Brust. »Wenn ihr bereit seid, geht´s los!«, ruft er, doch ich bekomme es nur noch am Rande mit, denn kurz darauf fallen wir bereits.
Maya schreit.
Mein Herz schreit.
Ich lache und wünschte, dieser kurze Moment würde niemals enden. Immer schneller kommt das Wasser näher, doch dann fängt uns das Seil auf und schleudert uns wieder ein Stück nach oben. Maya klammert sich fester an mich, als würde das irgendwas ändern, würde das Seil reißen.
Einige Zeit schwingen wir noch hin und her und genießen die auf den Kopf gestellte Aussicht. Genaugenommen genießt Maya sie. Ich genieße ihren Anblick. Drei Worte bilden sich in meinem Kopf, die ich noch nie zu jemandem außerhalb meiner Familie gesagt habe. Sie liegen mir auf der Zunge. Ich will sie in die Welt
hinausschreien, und doch hindert mich etwas tief im Innern daran. Dieses Etwas, das alles in meinem Leben bestimmt. Um die Worte zu ignorieren, die so verzweifelt versuchen hinauszukommen, packe ich Mayas Kopf, drehe ihn in meine Richtung und küsse sie. Es liegt so viel Dankbarkeit in diesem Kuss, dass sie die Worte vermutlich sogar schmecken kann. Ihr Herz schlägt an meine Brust und meins gegen ihre.
Langsam werden wir wieder hochgezogen, doch ich merke davon nichts, weil ich sie nicht mehr loslassen kann und will. Von mir aus hätte man uns hängen lassen können.
»Wow! Wie war das für dich?« Maya hüpft vom Adrenalin durchflutet von einem Bein zum andern, als wir wieder oben angekommen sind und aus den Gurten befreit werden.
»Es war unglaublich«, wiederhole ich die Worte, die sie nach unserem ersten Mal gesagt hat.
»Trottel«, kichert sie und gibt mir einen Klaps auf die Brust. »Ich meine es ernst: Hast du schon jemals etwas so Unbeschreibliches gemacht?«
Ich lache, erinnere mich an all die Abenteuer, die ich schon erlebt habe. »Ich kann dir noch so viele unbeschreibliche Dinge zeigen. Du bist sicher noch nie
mit Haien getaucht? Oder mit einem Windsuit geflogen?«
»Wow, dann hab ich hiermit vermutlich total abgekackt?« Sie sieht in den Himmel. Lächelt, aber ich kann sehen, dass meine Worte sie getroffen haben, dabei war es nie meine Absicht, sie zu verletzen. Viel mehr wollte ich ihr beweisen, dass es so viele Dinge auf der Welt gibt, die sie noch nie ausprobiert hat. »Niemals«, versichere ich ihr und nehme ihre Hände. »Es war der Wahnsinn! Alleine schon zu sehen, wie frei du dich gefühlt hast, ist das beste Erlebnis aller Zeiten.« Und es stimmt. Sogar in Situationen, in denen Maya aus vollem Hals lacht oder sich gehen lässt, wird sie immer noch von diesem Ballast beschattet. Beim Sprung gab es keinen Platz für irgendwelche Päckchen, die man zu tragen hat. Wir waren frei.
Ich merke, wie sehr mir das fehlt. Seit meine Mutter mit Christopher zusammen ist, habe ich diesen Teil von mir – diesen Ausgleich, den ich brauche – viel zu sehr vernachlässigt.