»Treffen wir uns um ein Uhr im Coyote?« Ich nicke Trish zu, hebe die Hand zum Abschied und folge Bryan und Jenna zur ersten Vorlesung an diesem Tag. Die beiden sind keine echten Zwillinge und doch erinnern sie mich in ihrem Verhalten immer wieder an Logan, Neal und Maggie. Bryans Familie hat Jenna adoptiert, als beide noch Babys waren, es ist also kaum verwunderlich, dass sie wie Pech und Schwefel sind. Eigentlich gibt es keinen Moment, in dem man einen der beiden alleine antrifft. Einzige Ausnahme sind die Toilettengänge, und sollte Jenna dort irgendetwas erfahren, was Bryan noch nicht weiß, wird keine Sekunde später alles weitergetratscht. Ich mag die beiden. Sie sind solche Freunde, auf die man in der Schule oder Uni oder späterem Arbeitsplatz niemals verzichten könnte, die man aber außerhalb nicht anruft. Manchmal kommt es mir vor, als führe ich zwei Leben. Das eine auf der Uni und das andere daheim.
Ich setze mich neben die beiden und höre Mr. Jakobs zu, wie er über irgendwelche mathematischen Erkenntnisse berichtet. Mich interessiert das Ganze recht wenig und immer öfter frage ich mich, was ich hier eigentlich soll. Ich habe keine Richtung, in die ich mich bewege.
Die Fächer, die ich mir ausgesucht habe, sind die eines Menschen, der keine Ahnung hat, was er schlussendlich damit anfangen soll. Seufzend lasse ich den Kopf auf meine Arme sinken und verbringe so die nächsten Stunden, ohne ein einziges Mal gemaßregelt zu werden. Wen interessiert es auch schon, ob ich aufpasse? Ich bin auch nur eine Zahl unter all den Studenten hier.
»Sweety! Essen fassen. Das wird dich wieder aufmuntern.« Bryan grinst mich breit an und hebt mich an den Schultern an, sodass ich aufrecht sitze. Er legt einen Finger unter mein Kinn und hebt auch dieses an. »Lass die Leute nicht sehen, wie schlecht es dir geht.«
»Schon gar nicht, wenn du nicht einmal uns erzählen willst, woran es liegt«, fügt Jenna hinzu und schubst mich sachte in Richtung Ausgang. Eine Woche. Zwei Wochen. Pff. Drei Wochen ist Logan jetzt schon in New York. Es ist nicht so, dass ich ihn vermisse, aber … Ja, doch! Ich vermisse ihn. Und zwar so sehr, dass meine Laune mit jedem Tag weiter sinkt.
Wie verabredet treffen wir Trish im Coyote, wo sie uns einen Viererplatz in der Ecke des Raumes reserviert hat. Das Restaurant boomt und das ist wirklich kein Wunder. Es liegt gleich neben der Uni und ist der coolste Schuppen weit und breit. Vom köstlichen Essen ganz zu schweigen. Ich setze mich neben Trish, die uns schon eine große Portion Pommes bestellt hat. »Wo bleibt ihr
denn? Ich verhungere!« Sofort schlägt sie zu, als hätte sie nur auf uns gewartet, um den Teller dann doch fast alleine zu leeren.
»Ich muss euch etwas sagen«, beginnt Jenna und sieht erst Bryan an, der schwer seufzt, und dann uns. »Ich werde mein Studium abbrechen und eine Ausbildung in dem Restaurant unseres Onkels machen.« Bryan zieht eine Schnute und nickt uns traurig zu, als müsse er diese Information erst einmal bestätigen.
»Wie kommt´s?«, fragt Trish, wendet sich aber nicht von ihrem Essen ab.
»Mom hat uns gezwungen, ein Praktikum separat voneinander zu machen. Während ich alten Leuten den Arsch abputzen durfte, hat mein Schwesterchen wohl ihre Berufung gefunden.« Er verdreht die Augen und wirft Jenna missbilligende Blicke zu.
»Ich hätte niemals gedacht, dass es für mich sowas wie einen Traumberuf gibt, aber ich habe mich geirrt. Man muss sich nur trauen, es zuzulassen.« Sie lächelt uns an und ich habe das Gefühl, dass sie mich ein wenig länger dabei ansieht als die andern. Ich wende mich ab und bin genervt, dass sogar sie sich Sorgen um meine Zukunft zu machen scheint. Sie, die bis zu diesen Ferien nicht einen Tag in ihrem Leben gearbeitet hat. Weil ich aber keine Lust auf eine Diskussion habe, spreche ich ein Thema an, das alle Anwesenden sofort von mir und meiner
Zukunft ablenken wird. »Mr. Masons Arsch sah in der Hose heute aber wieder zum Anbeißen aus, was?« Trish grinst mich funkelnd an, weil sie mich sofort durchschaut hat, steigt aber sofort in die entfachte Diskussion ein.
Wir beschweren uns gerade über den neuen Kellner, der uns zum dritten Mal die falschen Getränke an den Tisch gebracht hat, als Bryan mit der Zunge schnalzt und sich kerzengerade aufsetzt. »Schnuckelchen auf zehn Uhr und er kommt genau auf uns zu«, schwärmt er, wendet sich an Jenna und streicht über seinen Bart, den er sich neuerdings wachsen lässt. »Sehe ich gut aus?« Sie zupft ihm einen Krümel vom Kinn und nickt. Als ich mich unauffällig umdrehe, fällt mir die Gabel aus der Hand. Trish zuckt zusammen und wirft mit einer Pommes nach mir, die sich in meinen Haaren verfängt, aber damit werde ich mich später befassen. »Logan«, hauche ich und spüre, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht verschwindet.
»Logan?«, fragen Jenna und Bryan im Chor. Dann dreht auch Trish sich verschwörerisch grinsend um und winkt Logan zu. Sie muss ihm verraten haben, wo wir sind. »Kennst du diesen Kerl etwa?« Jenna klingt beinahe stolz. Es dauert keine zwei Sekunden, da kreuzen sich unsere Blicke und Logan kommt auf mich zu. Ich stehe auf und einen Augenblick später liege ich in seinen Armen. »Oh. Okay, sie kennt ihn«, erkennt Jenna und bekommt von Trish die Kurzfassung erzählt. Aber
davon bekomme ich nur noch wenig mit, denn Logans Lippen lenken mich viel zu sehr ab.
»Ich hab dich vermisst«, flüstert er an meinem Ohr, sobald wir es schaffen, uns voneinander zu lösen. »Wie lange hast du frei?«
»Nur noch eine halbe Stunde«, murmle ich atemlos. Mein Herz spielt verrückt und droht mir aus der Brust zu springen.
»Schade«, sagt er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. »Können wir irgendwo etwas trinken?«
Ich überlege, wo wir hingehen könnten, da stehen meine Freunde schon auf und überlassen uns bereitwillig den Tisch. »Das Essen geht auf Logan«, sagt Trish, drückt mir einen Schmatzer auf die Wange und gibt den andern zu verstehen, dass sie jetzt abhauen. Das tun sie auch, aber nicht ohne eindeutige Blicke. Bryan streckt hinter Logans Rücken sogar beide Daumen in die Luft und nickt heftig. Ich lache und setze mich kopfschüttelnd wieder an unseren Tisch. Ich hätte nicht gedacht, dass der heutige Tag doch noch etwas Positives mit sich bringen könnte.
»Warum bist du hier? Du hättest mich doch in ein paar Stunden auch Zuhause erwarten können«, frage ich und kümmere mich um die Pommes, die immer noch in meinen Haaren klebt
.
»Ich konnte nicht länger warten«, gesteht er und hilft mir grinsend bei der Pommessache.
»Ich fühle mich furchtbar«, verkündet er, als wir es endlich geschafft haben und der Kellner uns unsere Getränke bringt. »Ich habe gekündigt, um bei Neal zu bleiben, und dann haue ich erst einmal drei Wochen ab.«
»Mit Neal ist alles okay. Ich habe auf ihn aufgepasst.« Eigentlich haben wir uns gegenseitig umeinander gekümmert. Er war genauso deprimiert wie ich und wir haben uns einen Film nach dem anderen reingezogen. Bis es ihm besser ging und er die Tage mit Trish in seinem Zimmer verbracht hat. Ich habe die ganze Zeit über versucht die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Vergebens. Also müsste Logan sich eher meinetwegen furchtbar fühlen.
Über den Tisch hinweg nimmt Logan meine Hand und mir wird immer bewusster, wie sehr er mir gefehlt hat. Und wie sehr ich ihn liebe. »Du bist wundervoll, weißt du das?«
Ich schlucke, lache matt, um meine Gefühle zu überspielen, und winke ab. »Ja, ich weiß.«
Wir trinken unsere Gläser leer, ohne, dass jemand ein Wort sagt. Es ist seltsam, ihn wieder hier bei mir zu haben. Irgendetwas hat sich verändert zwischen uns, und
ich habe noch nicht herausgefunden, ob es mir gefällt oder nicht.
»Wieso bist du abgehauen, Logan?« Ich liebe das Gefühl, das sein Name auf meiner Zunge hinterlässt. Ich liebe seinen Klang. Ich liebe es, dass er mir jedes Mal tief in die Augen blickt, wenn Logan ihn aus meinem Mund hört. Fast glaube ich, dass sein Name das Zauberwort ist, um an seine Seele zu gelangen. Dass er sich mir nur dann wirklich öffnen kann, oder will.
»Wegen … Wegen der Hochzeit. Wegen meiner Mutter.« Er streicht sich über das stoppelige Gesicht und seufzt. »Ich weiß, dass es dämlich ist. Ich wünsche mir ja, dass sie glücklich ist.«
»Du liebst sie«, sage ich. Ich kenne kaum einen Menschen, der so intensiv und mit solcher Hingabe liebt wie Logan. Es gibt nichts, was ich mir mehr ersehne, als irgendwann zu den Menschen zu gehören, denen er dieses Geschenk macht.
»Natürlich. Sie ist meine Mutter«, bestätigt er, wirkt aber müde und fast klingt es wie eine Entschuldigung. Oder eine Anschuldigung. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.
»Aber?«, frage ich sanft und streiche ihm zärtlich über den Arm. Seine Härchen stellen sich auf. Ich lächle
.
»Aber … Ich habe es nicht ausgehalten. Sie heiratet und es sollte mich erleichtern, dass sie endlich wieder jemanden gefunden hat, der sich um sie kümmert und sie glücklich macht. Aber …« Er schüttelt den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er gerade sagt. »Was, wenn ich irgendwann nicht mehr gebraucht werde? Ich habe so viel aufgegeben und ich bereue nichts davon. Ich habe mich damit abgefunden, mich um meine Familie zu kümmern. Ich wüsste gar nicht, was ich tun soll, wenn es nicht mehr so ist.« Mit einem Mal tut Logan mir unheimlich leid. Es ist genau das eingetreten, was ich nicht wollte. Ich will ihn nicht bemitleiden. Aber mir wird auch klar, dass ich nicht zulassen kann, dass er sein Leben wegwirft.
»Wir sind uns ähnlicher, als du denkst«, beginne ich. »Nachdem meine Mutter uns verlassen hat, wollte ich niemals so werden wie sie und habe mir vorgenommen, keine Träume zu haben, denen ich irgendwann hinterhertrauern kann. Ich wollte nie jemanden so gebrochen zurücklassen, wie sie meinen Vater und mich zurückgelassen hat. Und was war die beste Lösung? Mike.«
Er schnaubt abfällig. »Mike war eher das Problem als die Lösung.«
Ich zucke mit den Schultern. Wissend, dass er natürlich recht hat. Mike war nie das, was ich gebraucht
habe. Offensichtlich habe ich gedacht, dass er es ist, aber im Endeffekt war es genau das Gegenteil. Ich habe niemanden gebraucht, der mich noch zusätzlich bremst. Ich habe jemanden gebraucht, der mich zum Leben animiert – auch, wenn er selbst nicht genau weiß, wie das in all seinen Facetten funktioniert. »Vielleicht. Aber immerhin hat er mir Stabilität geboten. Nichts, was mich dazu veranlagt hat, zu träumen, aber unsere Träume machen uns zu Individuen. Ohne sie verschmelzen wir mit der Masse.« Beinahe komme ich mir vor wie einer dieser Fanatiker, die an den Türen der Leute versuchen, sie von Gottes Existenz zu überzeugen. Logan nickt, betrachtet nachdenklich unsere Hände. Ich weiß, dass meine freie Zeit abläuft, aber ich bringe es nicht übers Herz, ihn wieder loszulassen.
»Ich hatte nie Träume. Zumindest nicht, bevor ich dir begegnet bin.«, gesteht er leise und hat womöglich keinen blassen Schimmer, was solche Worte in mir auslösen. Ob er vergessen hat, dass ich ihm meine Liebe gestanden habe? Ob er seine Meinung über Beziehungen vielleicht doch noch geändert hat? Ich will ihn fragen, und doch habe ich viel zu große Angst vor seiner Antwort. Deshalb bleibe ich stumm. Wie so oft, wenn es um meine Gefühle ihm gegenüber geht.
Es ist, als hätte Logan nach Wochen endlich wieder Licht in mein Leben gebracht. Als ich heute mit Trish nach
Hause fahre, bin ich so gut drauf wie schon lange nicht mehr. Unter anderem wird das wohl daran liegen, dass sie mir verraten hat, dass Neal heute Nacht bei ihr übernachtet. Mir war gar nicht klar, dass es etwas so Ernstes zwischen ihnen ist, und nehme mir vor, mit Neal darüber zu reden. Schließlich muss ich den Platz von Trishs Mutter einnehmen, die sich noch nie dafür interessiert hat, was ihre Tochter so treibt. Von ihrem Vater ganz zu schweigen.
»Nimmst du Neal sofort mit?«, frage ich und höre zu spät, wie begeistert ich klinge. Erst als sie mich lachend anstupst und somit den Wagen ins Schwanken bringt, bemerke ich es. »Hast du es so nötig?«
Sobald wir die Haustür öffnen, stürmen uns Neal und Logan entgegen. Genaugenommen schiebt Logan Neal zur Tür hinaus und winkt Trish zu. »Viel Spaß, ihr Turteltauben«, ruft er, zieht mich mit einem Ruck hinein und schließt die Tür wieder hinter uns. Sofort presst er mich eng an die Tür und fixiert mich mit seinem Körper an Ort und Stelle. Seit er vor über einem Monat nach New York geflogen ist, hatten wir keinen geeigneten Zeitpunkt mehr gefunden, um ungestört zu sein. Unsere Eltern waren aus irgendeinem Grund überaus anhänglich und die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß. »Ich hab dich vermisst«, raunt er zwischen zwei Küssen. Wie immer, wenn er mich berührt, breitet sich ein alles umfassendes Kribbeln in mir aus. Es dauert nicht lang,
bis wir nackt in Logans Bett landen. Man könnte meinen, wir wären zwei Teenager, die gerade erst ihre Sexualität entdecken. Wir bekommen nicht genug voneinander. Nie hätte ich gedacht, jemals so süchtig nach einem Mann zu sein.
»Müssen wir diese Show ansehen?«, rufe ich unter der fluffigen Bettdecke hervor und wundere mich, dass Logan mich hört. Seit einer halben Stunde starre ich jetzt schon auf den Bildschirm und bemerke erst jetzt, wie dämlich die aktuelle Sendung ist. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass Logan bis vor zwei Minuten noch neben mir lag und mich im Arm hielt. Vermutlich hätte im Fernsehen gerade ein blutrünstiger Mörder sein Unwesen treiben können, und ich hätte immer noch selig vor mich her gelächelt.
»Schalte ruhig um«, lacht er aus dem Badezimmer heraus.
Mühsam befreie ich mich von der kuscheligen Decke, die ich bereits angedroht habe, mit in mein Zimmer zu nehmen. Als ich überall vergebens nach der Fernbedienung suche, lehne ich mich am Rand hinunter und spähe unters Bett. Allerdings fällt mir hier etwas Anderes zwischen die Finger. Mein Herz schlägt sofort schneller, weil ich weiß, dass ich es einfach wieder zurücklegen sollte. Ich sollte es einfach nicht weiter
betrachten, aber die Menschen tun oft Dinge, die sie nicht sollten. So auch ich. Vorsichtig öffne ich die Lederdeckel des Buches. Mir bleibt der Atem weg, als ich mit den Fingern über die sanften Bleistiftlinien streiche. Ein Portrait von Jocelyn ist auf den weißen Seiten zu sehen. Schattierungen, Züge, Sanftheit, alles nur mit einem Bleistift gezeichnet, lassen sie durch die vielen Feinheiten beinahe lebendig wirken. Auf der nächsten Seite befindet sich eine Nahaufnahme von Maggie. Noch nie habe ich sie so traurig gesehen und sofort wird mir das Herz schwer. Es folgen noch weitere unglaubliche Bilder von Menschen und Szenarien, die ich selbst nicht kenne, mich aber sofort so fühle, als wäre es anders. Ich höre, wie sich die Badezimmertür schließt und weiß, dass ich das Buch schleunigst wieder weglegen sollte. Es gibt einen Grund, wieso er es versteckt. Aber ich kann nicht.
»Was tust du da?«, höre ich die zaghafte Frage. Er klingt, als rede er mit einem bissigen Hund, der langsam auf ihn zukommt. So, als wolle er seine Furcht mit aller Kraft unterdrücken.
Ich blicke von den Zeichnungen auf in sein verspanntes Gesicht. »Ich habe es zufällig gefunden. Logan, das ist … das ist traumhaft. Wieso machst du nichts aus deinem Talent?«
Wie aus einer Trance erwacht, stürmt er auf mich zu, reißt das Buch aus meiner Hand und klappt es lautstark
zu. »Du weißt, wieso«, knurrt er, während er das Buch neben mich auf den Nachttisch legt.
Am klügsten wäre es, es gut sein zu lassen. Ich könnte mich wieder unter die Decke kuscheln, Logan Platz machen und den Rest des Abends genießen. Stattdessen knie ich mich auf die Matratze, um mit Logan annähernd auf einer Höhe zu sein. »Du kannst dein Leben nicht für sie opfern.«
Genervt legt er den Kopf in den Nacken und geht um das Bett herum. Er ist es offensichtlich leid, mit mir immer wieder über dieselben Dinge zu diskutieren. Gut so! Vielleicht kapiert er dann endlich, dass sich etwas ändern muss. »Wie ich schon einmal gesagt habe: Bei der Liebe bleibt immer einer auf der Strecke. Ich liebe meine Geschwister mehr als alles andere. Ich opfere mich gerne, damit sie klarkommen.«
Dieses Mal gebe ich nicht nach! Ich werde mich nicht geschlagen geben und ihn wieder mit seinen irrsinnigen Vorstellungen alleine lassen. Hätte er mir nicht die Augen geöffnet, wäre ich heute noch mit Mike zusammen. Jetzt ist es endlich an mir, seine Augen zu öffnen. Klar ist es riskant, etwas zu wagen. Man kann versagen, man kann enttäuscht werden. Man kann verletzt werden. Doch das Leben ist ein einziges Risiko. Wie soll man leben, wenn man nie etwas riskiert? Er kann nicht nur in der Gegenwart leben, ohne eine
Perspektive zu haben. So wie ich nicht das Jetzt ignorieren und mich an meine Zukunft klammern konnte. Wir verpassen so vieles, für das es sich zu leben lohnt. Keiner von uns hat sich für die richtige Wahl entschieden, weil sie nur zusammen funktionieren können.
Ich springe vom Bett, schnappe mir das Skizzenbuch erneut und laufe zu ihm hin. »Logan. Sie sind erwachsen. Du darfst auch endlich leben. Deine Kunst ist wunderschön. Mach etwas daraus!« Während den letzten Sätzen tippe ich mit dem Finger auf die Zeichnungen in meiner Hand. Ich werde wütend. Will ihm helfen, doch Logan will meine Hilfe einfach nicht annehmen.
»Und dann? Am Ende reicht es doch nicht.« Jetzt ist Logan nicht mehr genervt, sondern stinksauer. Sein sonst so schönes und gefasstes Gesicht ist verzerrt. Eine Ader pulsiert an seinem Hals. Ich sehe, dass er sich zurückhält, mich aber am liebsten rausschmeißen würde.
»Aber …«, beginne ich, werde aber sofort von Logan unterbrochen.
»Bitte, Maya. Akzeptier es einfach!« Ich nicke. Das Notizbuch immer noch an meinen Bauch gedrückt verlasse ich das Zimmer. Logan widmet mich keines weiteren Blickes
.
Und wieder habe ich es nicht geschafft, ihn umzustimmen. Aber immerhin habe ich seine Zeichnungen und ich habe schon eine Idee, was ich damit anstellen werde.