7.
D er folgende Morgen begann mit einer vielversprechenden Neuigkeit.
Gruber erwartete Benno im Büro mit der Information, dass die Befragung der örtlichen Juweliere bereits ein positives Ergebnis gebracht hatte. In einem der Läden war tatsächlich vor drei Tagen jemand gewesen und hatte versucht, eine wertvolle Uhr zu verkaufen. Der Aussage des Mannes zufolge, war dem die Sache jedoch zu heikel gewesen, da der Verkäufer zum einen keinerlei Zertifikat vorlegen konnte und zum anderen während der Begutachtung der Uhr auf ihn ausgesprochen nervös gewirkt hatte. Als er auf eine erste Ablehnung dann noch mit einer drastischen Reduzierung des geforderten Preises reagiert hatte, war dem Juwelier die Sache endgültig verdächtig vorgekommen und er hatte den Mann sicherheitshalber weggeschickt.
„Und weißt du, was das Beste ist, Benno?“, schloss Gruber seinen Bericht.
„Na?“
„Es gibt eine Videoaufzeichnung von dem Ganzen. Ich hab’ sie mir schon angesehen und das Material ist sogar um einiges besser als erwartet. Zwar schwarzweiß, aber ziemlich scharf. Der Juwelier hat gemeint, er hätte nach einem Überfall auf seinen Laden vor einigen Jahren lieber etwas mehr in die Sicherheit investiert. Hier, schau dir das an!“
Er winkte Benno, zu ihm herüberzukommen und drehte den Monitor seines Computers so, dass der gute Sicht auf das kurze Filmchen hatte. Es war das typische Setting einer Sicherheitskamera, mit Datum und Uhrzeit am oberen Bildrand, aber tatsächlich um einiges schärfer als viele ähnliche Bilder, die Benno im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit bereits gesehen hatte.
Der Mann, der da nervös vor dem Tresen des Ladens herumzappelte, während der Juwelier eine Uhr in Händen hielt und sie aufmerksam untersuchte, war ziemlich jung. Benno schätzte ihn auf maximal Anfang zwanzig. Er war eher klein, sehr schlank, fast schon zierlich und sein kurzes Haar schien blond zu sein. Irgendwann drehte er das Gesicht direkt in Richtung der Kamera und in diesem Moment stoppte Gruber den Film.
„Damit sollte sich doch eigentlich was anfangen lassen, oder?“, meinte er, an Benno gerichtet.
„Einen Versuch ist es jedenfalls wert“, stimmte der zu. „Vielleicht ist er ja tatsächlich in der Kartei.“
Gruber nickte.
„Die Suche läuft schon.“
Wie aufs Stichwort klopfte es und ein uniformierter Kollege kam herein, ein Blatt Papier in den Händen.
„Nun sag’ bloß, ihr habt schon was gefunden?“
Benno hob verblüfft die Brauen, als der Beamte nickte und ihm das Blatt überreichte.
„Sieht ganz so aus. Zumindest hat die Gesichtserkennung eine Übereinstimmung gefunden“, erwiderte er.
Sollte ihnen die Lösung des Falles diesmal wirklich so einfach gemacht werden? Benno senkte den Blick auf den Ausdruck und studierte die Informationen, die dort standen. Das Foto, das oben rechts in der Ecke zu sehen war, ähnelte dem Mann in dem Überwachungsvideo tatsächlich auffallend.
„Timo Marquardt“, las er vor. „Alter zweiundzwanzig, mehrere Anzeigen im Laufe der letzten sechs Jahre, wegen Laden- und Taschendiebstahl, Schwarzfahren, Sachbeschädigung und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Die Verfahren wurden jedes Mal wegen Geringfügigkeit eingestellt. Ansonsten keine weiteren Einträge, jedenfalls nichts Gewalttätiges.“
„Erregung öffentlichen Ärgernisses?“, hakte Gruber nach.
„Hier steht, er wurde vor drei Jahren nackt und zugedröhnt auf der Straße aufgegriffen, nachdem er Passanten beleidigt, angespuckt und gegen eine Hauswand uriniert hat. Offenbar war es das Haus seiner Eltern, wenn ich das richtig lese. Anschließend hat er mit einem Stein noch ein Fenster im Erdgeschoss eingeschlagen, bevor ihn die Polizei festgenommen hat. Die Anzeige seiner Eltern gegen ihn wurde aber später wieder zurückgezogen.“
„Gibt es eine aktuelle Meldeadresse?“, wollte Gruber wissen.
„Ja. Am Birkenhof 1 , steht hier zumindest.“ Er schaute auf. „Sagt dir das irgendwas?“
Sein Partner nickte und verschränkte die Arme.
„Das sagt mir allerdings was. Wenn auch nichts Gutes. Dieser Birkenhof ist ein alter Aussiedlerhof, ungefähr fünf Kilometer außerhalb der Stadt. Früher war das ein ganz normaler Bauernhof, so eine Art Gutshof, dann wurde er ein paar Jahre lang als Gestüt genutzt und schließlich hat so ein zwielichtiger Typ das Anwesen gekauft. Sergej irgendwas, glaube ich. Ein Russe, wenn mich nicht alles täuscht. Der hat in diesen Hof eine Menge Kohle gesteckt und einen sogenannten 'Privatclub' daraus gemacht.“
Benno runzelte die Stirn.
„Du meinst jetzt aber nicht diesen zwielichtigen Schuppen … wie heißt der noch gleich? Irgendwas mit Maus, oder?“
„Richtig. Mouse Trap . Genau den meine ich“, bestätigte Gruber. „Offiziell eine sogenannte – Clublounge  …“ Er verzog das Gesicht und malte Gänsefüßchen in die Luft. „Aber nach allem was ich gehört habe, ist das wohl nichts anderes als eine Art Privatpuff.“
Benno setzte sich und rieb sich nachdenklich das Kinn. Wie passte das alles zusammen?
„Hm. Also, wenn du von einem Puff redest – meinst du dann ein gewöhnliches Bordell? Nur für Heteros? Oder geht da noch mehr ab?“, hakte er nach.
„Worauf willst du hinaus?“
„Na ja, ich weiß nicht so recht“, erwiderte Benno. „Überleg’ doch mal: Nach allem was wir wissen, hat bei Kuwilski vor dessen Ermordung irgendeine wilde Sex-Orgie stattgefunden, an der drei Personen beteiligt waren. Er und zwei weitere Männer. Seine Ex-Frau erzählt uns, dass ihr Mann dominant veranlagt war und offenbar irgendeinen neuen Liebhaber am Start hatte, der womöglich ebenfalls in der SM-Szene zuhause war. Und nun versucht dieser Timo Marquardt, ungefähr eineinhalb Wochen nach dem Mord an Kuwilski, eine Uhr zu verkaufen, die möglicherweise zu denen gehört, die aus dessen Wohnung verschwunden sind. Und der Typ wohnt ausgerechnet in diesem komischen Mäuse-Schuppen? Horst, ich bitte dich – das stinkt doch zum Himmel! Woher soll er die Uhr gehabt haben, wenn nicht von Kuwilski?“
„Hm. Das sehe ich genauso“, pflichtete Gruber ihm bei. „Aber noch steht ja nicht mal fest, dass die Uhren wirklich gestohlen worden sind. Am Safe fanden sich keinerlei Einbruchsspuren und auch wenn es uns weit hergeholt erscheint, besteht immerhin die theoretische Möglichkeit, dass Kuwilski diesem Marquardt eine oder mehrere davon geschenkt hat. Oder vielleicht hat er sie auch selbst verkauft und Marquardt ist auf einem ganz anderen Weg da rangekommen. Allerdings pflichte ich dir bei, dass wir auf jeden Fall diesem Timo Marquardt mal auf den Zahn fühlen sollten. Die Kollegen von der Streife sollen ihn herbringen.“
Er griff nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch, doch Benno stoppte ihn mit einer Handbewegung.
„Warte!“, bat er. „Vielleicht ist es ja gar keine so schlechte Idee, wenn wir uns auf diesem sogenannten Birkenhof mal direkt umsehen. Wenn die Uhr, die der Junge verkaufen wollte, wirklich Kuwilski gehört hat, und mal angenommen, der hat sie nicht selbst verkauft, dann finden wir die anderen – oder zumindest einen Teil der Sammlung – vielleicht auch noch da draußen.“
„Du weißt aber schon, dass Marquardt uns im Grunde nicht mal reinlassen muss, oder?“, gab Gruber zu bedenken. „Wir haben bis jetzt nichts, was dafür spricht, dass er jemals in Kuwilskis Wohnung war. Es gibt keine Zeugen, keine brauchbaren Fingerabdrücke, gar nichts. Bei der dünnen Beweislage kriegen wir auch unter Garantie keinen richterlichen Beschluss, mit dem wir seine DNA für einen Vergleich nehmen dürften. Und meiner Erfahrung nach wissen böse Jungs über ihre Rechte immer ganz besonders gut Bescheid.“
„Stimmt schon“, meinte Benno. „Aber wenn er wirklich irgendwie in der Sache drinsteckt, sollte er doch viel mehr daran interessiert sein, möglichst gut dazustehen. Uns dann von Anfang an jede Unterhaltung zu verweigern, wäre dem sicher nicht zuträglich. Außerdem macht seine Akte auf mich nicht den Eindruck, als wäre er ein abgebrühter Verbrecher, sondern eher wie einer, der abgerutscht ist“, erwiderte Benno. „Vielleicht hilft es ja, wenn wir ihm klarmachen, dass es zu seinem eigenen Besten ist, wenn er mit uns kooperiert. – Immer vorausgesetzt den Fall, er hat wirklich mit dem Mord zu tun. Und falls nicht, dann liegt es doch erst recht in seinem Interesse. Also, wie sieht’s aus? Lust auf einen kleinen Ausflug?“