8.
D
er sogenannte Birkenhof entpuppte sich als äußerlich leicht heruntergekommene Hofreite, bestehend aus einem gedrungen wirkenden, dreistöckigen Wohnhaus und u-förmig daran anschließende Wirtschaftsgebäude. Das Fachwerk hätte einen frischen Anstrich gut vertragen können, ebenso wie die Fensterrahmen und die beiden großen, hölzernen Tore der Nebengebäude. Der von drei Seiten umschlossene Hof war grob gepflastert und in der Mitte desselben, da, wo sich, in einer flächigen Vertiefung, vermutlich früher einmal der Misthaufen befunden hatte, breitete ein mächtiger Baum seine kahlen Zweige aus.
Zwei Autos standen im Hof, direkt unter den Baum, eines davon ein rostfleckiger, silberner Mercedes älteren Baujahres, das andere ein gepflegter, schwarzer Mini. Keine Menschenseele war zu sehen und auch ein Schild oder irgendetwas anderes, was darauf hinwies, dass es sich bei dem Anwesen nicht einfach bloß um ein Wohnobjekt handelte, suchte man vergebens.
„Bist du sicher, dass das hier ein Club ist? Oder sogar ein Puff? Sieht irgendwie nicht so aus, oder?“, fragte Benno skeptisch, nachdem sie ausgestiegen waren und er die Umgebung aufmerksam gemustert hatte. Er warf Gruber einen Blick zu, den der mit erhobenen Brauen missmutig erwiderte.
„Ich sagte, nach allem was ich gehört habe, wäre es eine Art
Privatpuff.
Selbst war ich auch noch nie hier“, erläuterte er. „Und es gibt schon so einiges, was dafür spricht – zumindest wenn man sich mit den Kollegen von der Streife unterhält.
Gelegentlich werden die nämlich hier rausgerufen, wenn wieder mal irgendein Gast austickt oder es irgendwelchen anderen Ärger gibt. Es gab sogar schon mal eine Schießerei zwischen verfeindeten Zuhältern. Ist allerdings ein paar Jahre her.“
Benno nickte verstehend.
„Geht es denn immer nur Zuhälter und randalierende Gäste, oder wird hier auch mit Drogen gehandelt?“, hakte er nach, eingedenk seines Fundes in Kuwilskis Wohnung. Gruber zuckte die Achseln.
„Du weißt doch, wie das ist. Offizielle Beweise gab es bisher nicht, aber wo das Eine ist, ist das Andere nie weit weg in diesem Milieu.“
„Na, dann lass uns mal auf den Busch klopfen.“
Benno setzte sich in Bewegung und marschierte auf die Haustür zu, doch offenbar war ihre Ankunft nicht ganz so unbemerkt geblieben, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. Er hatte etwa die Hälfte der Strecke bis zum Haus zurückgelegt, als die Tür geöffnet wurde und ein großer, breitschultriger Mann auf deren Schwelle erschien.
Er trug einen grob gestrickten graublauen Pullover und Jeans, seine blonden Haare waren militärisch kurz geschnitten und seine Augen von einem auffallend hellen Grau.
Sein Blick war kühl, regelrecht feindselig, als er sich im Türrahmen aufbaute und ihnen entgegenrief: „Der Club ist heute geschlossen. Außerdem haben nur zahlende Mitglieder Zutritt.“
Benno setzte seinen Weg unbeirrt fort, fischte im Gehen den Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Mann vor die Nase, als er ihn erreicht hatte.
„Mein Name ist Benno Hagemann, Kripo. Das ist mein Kollege, Kommissar Horst Gruber.“ Er deutete auf seinen Partner.
Der Mann zog die Brauen zusammen und studierte den Dienstausweis, verlangte dann, auch den von Gruber
ausführlich in Augenschein zu nehmen und richtete anschließend den Blick wieder auf Benno.
„Was wollen Sie hier?“
„Fürs Erste wüsste ich gern Ihren Namen“, gab Benno trocken zurück.
„Sergej Lukanienko“, brummte der Mann.
„Sind Sie der Eigentümer dieses Etablissements?“
Ein stummes Nicken.
„Wohnt hier ein Timo Marquardt?“
„Ja.“
Himmel, der Bursche war zäh. Aber Benno auch, wenn nötig.
„Zu dem wollen wir. Können Sie uns sagen, wo er ist?“, hakte er nach.
„Nein.“
Benno wartete, aber als keine Erklärung erfolgte, sah er sich genötigt, weiter nachzufragen.
„Sie wissen also nicht, wo er ist?“
Kopfschütteln.
„Aber er wohnt hier?“
Nicken.
„Gut. Dann zeigen Sie uns doch bitte seine Wohnung oder sein Zimmer oder was auch immer. Wir möchten uns dort gern ein wenig umsehen.“
„Warum?“
„Wir ermitteln in einem Mordfall und es wäre möglich, dass Herr Marquardt uns helfen kann. Darum.“
Allmählich ging Benno dieser Lukianenko auf die Nerven, doch er zwang sich zur Ruhe.
„Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?“, fragte der Mann.
„Nein, haben wir nicht. Brauchen wir denn einen?“, konterte Benno. „Versteckt Timo Marquardt irgendwas in seiner Wohnung, was wir nicht sehen dürfen?“
Lukianenko zuckte die Achseln.
„Keine Ahnung, was der kleine Pisser in seiner Bude treibt. Geht mich auch nichts an. Aber wenn Sie keinen Durchsuchungsbefehl haben, lasse ich Sie nicht rein. Ich kenne meine Rechte. Und die meiner Untermieter auch.“
Benno warf einen flüchtigen Blick zu Gruber, der ihn mit einem Schulterzucken erwiderte.
„Na, schön“, sagte er. „Ganz wie Sie meinen. Aber an Sie haben wir auch noch ein paar Fragen. Dürfen wir reinkommen?“
„Nein.“ Lukianenko verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen, während er Gruber kühl musterte. „Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie hier.“
Benno knirschte mit den Zähnen, überließ es aber seinem Partner, sich weiter mit dem unverschämten Kerl zu unterhalten.
„Ist Timo Marquardt nur Ihr Mieter oder arbeitet er auch für Sie?“, wollte Gruber wissen.
„Timo ist Mädchen für alles in meinem Club. Er putzt die Klos, holt Getränkenachschub aus dem Keller, bedient im Gastraum und manchmal steht er auch hinter der Bar. Dafür lasse ich ihn mietfrei hier wohnen.“
Wow. Das waren ja tatsächlich drei ganze Sätze! Und sogar welche mit echtem Informationsgehalt!
„Kennen Sie einen Roman Kuwilski?“, wollte Gruber jetzt wissen.
Lukianenko nickte.
„Ja.“
„War er ein Gast des Hauses?“
„Ja.“
„Und kam er öfter?“
„Gelegentlich.“
„War er in letzter Zeit auch hier?“
„Nein.“
Himmel, jetzt ging das Würmer-aus-der-Nase-Ziehen schon wieder los! Benno verdrehte innerlich die Augen.
„Wann zuletzt?“
Ein Achselzucken.
„Vor ein paar Wochen, glaube ich.“
„Und wissen Sie, ob Timo Marquardt Herrn Kuwilski ebenfalls kannte?“, bohrte Gruber weiter.
Sein Gegenüber hob spöttisch eine Braue.
„Timo arbeitet hier, also nehme ich mal stark an, dass die beiden sich gelegentlich begegnet sind“, erwiderte er.
„Aber Sie können uns nicht sagen, ob die zwei sich vielleicht näher kannten, nehme ich an?“
Kopfschütteln.
„Keine Ahnung“, behauptete Lukianenko. „Was Timo in seiner Freizeit macht, geht mich nichts an. So lange ein Angestellter seine Arbeit ordentlich erledigt, interessiert mich das auch nicht.“ Er schnaufte, dann fügte er hinzu: „Wollen Sie sonst noch was? Ich hab’ nämlich nicht den ganzen Tag Zeit, um dumme Fragen zu beantworten.“
Bennos Blick war an der Fassade des Hauses auf und ab gewandert und wenn er sich nicht sehr täuschte, hatte sich im zweiten Stock eine Gardine bewegt.
„Eine Frage habe ich noch, ja“, sagte er deshalb. „Wohnen noch mehr Angestellte von Ihnen hier auf dem Hof?“
Lukianenkos Augen wurden schmal und er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Schließlich erklärte er: „Ich habe ein ordentliches Gewerbe angemeldet und ich vermiete ein paar Zimmer an junge Leute, die sonst keine Bleibe haben. Einige davon arbeiten für mich, ja und Timo ist einer davon. Den haben seine Eltern übrigens rausgeworfen, als sie ihn mit siebzehn mit einem Mann erwischt haben. Ich habe ihn aufgenommen, obwohl er drogensüchtig ist. Aber jetzt hat er zumindest ein Dach über dem Kopf und eine feste Arbeit. Die Anderen, die hier
wohnen, haben Ähnliches durchgemacht. Der Staat hat diesen jungen Leuten nicht geholfen, ich aber schon. Wenn Sie mit ihnen sprechen oder sich hier umsehen wollen, kommen Sie mit einem Gerichtsbeschluss. Andernfalls lassen Sie uns gefälligst in Ruhe.“
Damit machte er einen Schritt zurück ins Haus und knallte den beiden Kommissaren die Haustür vor der Nase zu.
Konsterniert starrte Benno sie an. Schließlich schnaubte er wütend und machte einen Schritt rückwärts, wobei sein Blick nochmals zu dem Fenster hinaufglitt, an dem er eben die Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. Doch dort rührte sich jetzt nichts mehr.
„Na, komm’“, hörte er Gruber sagen und wandte sich zu ihm um. „Fahren wir zurück.“
Natürlich wusste auch Benno, dass sie keine Möglichkeit hatten, sich hier und jetzt Zutritt zum Gebäude zu verschaffen, zumindest keine legale, trotzdem ärgerte ihn die scheinbare Gelassenheit seines Partners.
„Kaufst du dem Kerl diese Samariter-Nummer etwa ab?“, fragte er aufgebracht und deutete aufs Haus. „Der Wichser verarscht uns doch!“
Gruber machte eine auffordernde Kopfbewegung in Richtung Dienstwagen und sah Benno eindringlich an.
„Lass’ uns auf dem Rückweg darüber reden, okay?“
Benno verstand sehr wohl, was Gruber ihm damit sagen wollte. Niemandem war damit gedient, wenn er hier jetzt eine Szene hinlegte, aber die unverfrorene Kaltschnäuzigkeit dieses Sergej Lukanienko fuchste ihn gewaltig. Mit einem unzufriedenen Grunzen nickte er deshalb und setzte sich endlich in Bewegung. Er steuerte die Beifahrerseite des Wagens an und reichte seinem Partner im Vorübergehen den Zündschlüssel.
„Du fährst“, bestimmte er.
Gruber erwiderte nichts, stieg nur wortlos ein, schnallte sich an und startete den Motor, kaum dass Benno dasselbe getan hatte.
„Okay. Was ist los?“, fragte er, nachdem sie ein paar Kilometer zwischen sich und den Birkenhof gebracht hatten.
„Nichts“, erwiderte Benno mürrisch. „Mir gehen nur solche Typen wie dieser Lukanienko ganz gewaltig auf den Sack. Das ist alles.“
Er spürte Grubers Blick einen Moment lang auf sich, starrte aber beharrlich nach vorn auf die Straße, ohne etwas hinzuzufügen.
Schließlich seufzte sein Kollege und sagte: „Um deine Frage von eben zu beantworten: Ich kaufe dem Kerl seine Samariter-Nummer, wie du es nennst, ganz sicher nicht ab. Aber uns sind die Hände gebunden. Wenn er uns nicht reinlässt, ist das sein gutes Recht, das weißt du so gut wie ich. Der Hof ist ein Privatgrundstück und ob es uns nun gefällt oder nicht, aber wir können nun mal nicht überall rein stürmen, wie Aushilfs-Rambos, so lange kein Hinweis auf irgendeine Gefahr im Verzug vorliegt. Und das ist hier nicht der Fall – so weit wir wissen. Alles was wir tun können, ist zu versuchen, ob wir vielleicht doch noch einen richterlichen Beschluss bekommen. Aber du wirst mir sicher beipflichten, dass die Erfolgsaussichten dafür verdammt gering sind. Weder können wir beweisen, dass Timo Marquardt in Kuwilskis Wohnung war, noch dass die Uhr, die er zu verkaufen versucht hat, tatsächlich eine aus der verschwundenen Sammlung ist.“
Benno wusste das. Er wusste das alles, aber es nun laut ausgesprochen zu hören, verbesserte weder die Lage, noch seine Stimmung. Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen schlug er die Faust gegen das Armaturenbrett.
„Schon klar, Horst! Ich bin nicht blöd, danke!“, stieß er dann hervor. „Ich kenne die Regeln, aber gerade jetzt kotzen sie mich so was von an!“
Gruber wandte sich ihm erneut zu.
„Geht mir nicht anders. Aber es hilft niemandem, sich an Dingen abzuarbeiten, die man nicht ändern kann. Glaub’ einem alten Hasen – ich hab’s jahrelang versucht, geholfen hat es trotzdem nicht. Wir können die Gesetze nun mal nicht ändern und wenn wir uns einfach darüber hinwegsetzen, inwiefern unterscheiden wir uns denn dann noch von denen, die wir eigentlich verfolgen sollen?“
„Wow! Horst!“ Benno schnaubte spöttisch. „Hast du in deiner Reha etwa auch ’nen Kurs in Küchenpsychologie belegt?“
Kaum waren die Worte draußen, biss er sich auf die Zunge und hörte im selben Moment, wie sein Partner scharf einatmete. Das war nicht nur ungerecht gewesen, sondern schlicht gemein.
„Tut mir leid“, schob er hastig nach. „Das war blöd von mir.“
„Allerdings“, bestätigte Gruber trocken.
Sie waren inzwischen wieder in der Stadt und erreichten gerade eine rote Ampel, sodass sie anhalten mussten.
„Also, ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und behaupte, dass es nicht nur der aktuelle Fall und dieser Lukanienko sind, die dir zusetzen, oder?“, fragte Gruber.
Benno zögerte mit einer Antwort. So ganz verstand er ja selbst nicht, was mit ihm los war. Eigentlich war er immer stolz auf seine professionelle Distanz gewesen, doch in letzter Zeit schien es, als käme ihm ausgerechnet die mehr und mehr abhanden. Er stieß den Atem aus.
„Kann schon sein“, gab er zu. „Keine Ahnung, was mit mir los ist. Es ist nur …“ Er hob eine Hand und ließ sie wieder fallen. „Ich frage mich seit einer Weile einfach immer öfter, wem ich mit meiner Arbeit wirklich nütze, verstehst du?“
Gruber schwieg und schien zu überlegen.
„Geht’s um diesen Meierling?“, fragte er dann.
„Auch. Aber nicht nur. Ich meine, denk’ doch mal nach: Unser erster gemeinsamer Fall, dieser Dominik Werner. Der Junge hat drei Menschen umgebracht, darunter seine eigenen Eltern.
Jetzt sitzt er für den Rest seines Lebens, oder zumindest den überwiegenden Teil davon, in der forensischen Psychiatrie. Und wer ist im Grunde schuld an allem? Nicht etwa Dominik selbst und auch keine schicksalhafte Geisteskrankheit! Zumindest nicht nur. Nein, der Vater des Jungen, der ihm von klein auf eingebläut hat, dass Schwulsein schlecht ist und er nichts taugt, wenn er nicht die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Oder die Sache mit Scholz und seinem Geliebten? Der eine wurde eiskalt umgebracht, der andere hat sich selbst getötet. Und was ist mit den Drahtziehern passiert? Von Froning? Dinnebier? All die anderen Drecksäcke? Jahrelang haben diese sogenannte ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft andere ausgebeutet, gequält und vermutlich auch umgebracht. Einfach, weil sie es konnten! Der Einzige, der ernsthaft bestraft worden ist, war Janowski, weil man den anderen Beteiligten entweder nichts wirklich nachweisen konnte oder weil die Fälle verjährt waren! Und so wenig wie ich das Arschloch Janowski auch mag, hat er doch trotzdem im Grunde nur die Drecksarbeit für diejenigen weiter oben gemacht! Aber die sind dank ihrer hochbezahlten Anwälte mit Geld- und Bewährungsstrafen davongekommen und leben ihr Leben einfach weiter. Und Haferkamp ist der Nächste, wenn auch sicher nicht der Letzte in der Reihe. Er wird definitiv in den Knast gehen, das weißt du so gut wie ich. Und warum? Weil er sich in ein skrupelloses, verlogenes, egozentrisches Arschloch verliebt hat! Es kotzt mich an, wenn ich nur dran denke!“ Er stieß ein Schnauben aus und raufte sich die Haare. „Herrgott, Horst, ich hab’ einfach immer öfter das Gefühl, wir verknacken die total Falschen und spielen damit denen, die wirklich den dicken Dreck am Stecken haben, auch noch in die Hände.“
Er hatte sich regelrecht in Rage geredet, die Fäuste dabei geballt und wieder ließ Gruber sich Zeit mit einer Antwort. Als sie dann
kam, traf sie Benno im ersten Moment wie ein Faustschlag in die Magengrube.
„Hast du mal daran gedacht, auszusteigen?“
Ruckartig fuhr Bennos Kopf herum.
„Was?“
„Auszusteigen. Was anderes zu machen“, erläuterte Gruber scheinbar ungerührt.
Jetzt klappte Benno die Kinnlade abwärts. Er starrte seinen Partner an, der den Blick erwiderte, ernst und ohne zu blinzeln. Schließlich schnaubte Benno und wandte sich ab.
„Wow“, machte er. „Vor kurzem hast du mich noch für einen guten Polizisten gehalten und jetzt legst du mir nahe, ich soll die Brocken hinschmeißen. Das nenne ich doch mal eine rasante Entwicklung.“
„Ich halte dich immer noch für einen guten Polizisten. Einen verdammt guten sogar. Gerade deshalb stelle ich dir diese Frage“, sagte Gruber, worauf Benno sich ihm wieder zuwandte.
Er verstand nur noch Bahnhof.
„Muss ich kapieren, was das heißen soll?“, fragte er.
„Du bist
ein guter Polizist“, wiederholte sein Partner, während er den Gang einlegte und wieder losfuhr, weil die Ampel inzwischen auf Grün gesprungen war. „Gerade weil dein Beruf für dich mehr ist als nur irgendein Job, der dir ein Auskommen sichert. Du hast Ideale und siehst in jedem, ganz gleich ob Täter oder Opfer, vor allem den Menschen. Du willst verstehen, warum Menschen so handeln, wie sie es tun, warum sie straffällig geworden sind oder warum sie einem bestimmten Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Dieser Wunsch ist der Antrieb vieler Anwärter, den Beruf des Polizisten zu ergreifen. Sie haben Ideale, wollen etwas verbessern, verändern, aber viele davon verlieren diesen Antrieb im Laufe ihres Berufslebens. Irgendwann funktionieren sie bloß noch und spulen ein Programm ab, könnte man sagen. Was auch oft kein Wunder
ist“, setzte er hinzu. „Der Frustlevel in unserem Job ist hoch, das brauche ich dir nicht zu sagen. Aber manche bleiben ihren Idealen auch treu, und leider laufen ausgerechnet die dann irgendwann Gefahr, an ihren hohen Ansprüchen an sich selbst und andere zu scheitern. Du bist einer davon und außerdem gerade dabei, deine professionelle Distanz zu verlieren, Benno. Ich hab’ das schon gelegentlich bei anderen Kollegen gesehen und meiner Erfahrung nach gibt es irgendwann nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder du machst einfach weiter, womit du über kurz oder lang einen Burn out in Kauf nimmst, wenn nicht Schlimmeres. Das heißt, sofern du nicht auch noch irgendwann abstumpfst. Oder du ziehst die Reißleine.“
Wieder stand Benno der Mund offen. So hatte er die Sache noch nie gesehen, aber in dem Augenblick, wo Gruber die Fakten knallhart beim Namen nannte, wusste er, dass sein Partner Recht hatte. Andererseits war das alles aber nicht ganz so simpel, wie es klang.
„Ich kann doch nicht einfach alles hinschmeißen“, widersprach er. „Ich meine, was ist denn mit meiner Kommissarslaufbahn und allem? Ich hab’ immerhin einiges investiert, um da hinzukommen, wo ich jetzt bin. Soll ich etwa noch mal ganz von vorn anfangen mit irgendeiner anderen Ausbildung, oder wie stellst du dir das vor?“
Gruber zuckte die Achseln.
„Ich will dir nichts einreden, aber stell’ dir doch mal folgende Frage: Wo siehst du dich in fünf Jahren? In zehn? Fünfzehn? Immer noch bei der Kripo?“
Benno runzelte die Stirn. Über diese Frage hatte er noch nie wirklich nachgedacht. Er war aus genau den Gründen Polizist geworden, die Gruber eben aufgezählt hatte und niemals daran gezweifelt, dass es die richtige Wahl war. Sicher hatte auch sein eigenes traumatisches Erlebnis dazu beigetragen, aber das änderte nichts am Ergebnis.
Wenn er nun allerdings versuchte, sich vorzustellen, wie sein Berufsalltag in zehn Jahren oder mehr aussehen mochte …
Im Laufe der letzten Jahre hatte sich so einiges verändert. Eine Entwicklung, die schon vor Bennos Eintritt in die Polizei ihren Anfang genommen hatte, setzte sich immer noch fort. Die Arbeitsbelastung war im Vergleich zu früher deutlich gewachsen, Überstunden an der Tagesordnung, Risiken hatten zugenommen. Wenn sich das so fortsetzte, bedeutete das sicher nichts Gutes und bisher sah es nicht danach aus, als würden in naher Zukunft ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Situation zu verbessern. Eher schien das Gegenteil der Fall zu sein.
„Ich … Ich weiß nicht“, sagte er ehrlich.
Er schaute zu Gruber hinüber und versuchte zu entscheiden, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt war, ihm von den ohnehin anstehenden Veränderungen zu erzählen, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Schließlich gab er sich einen Ruck.
„Ich werde aber auf jeden Fall demnächst einen Versetzungsantrag stellen.“
So. Nun war es raus. Gespannt wartete er auf eine Reaktion seines Partners.
„Einen Versetzungsantrag?“, wiederholte Gruber. „Innerhalb des Präsidiums oder …?“
„Nein. Nach Lübeck oder in die nähere Umgebung, wenn möglich. Je nachdem, wo ich am schnellsten eine Stelle bekomme.“
„Warum ausgerechnet Lübeck? Und was sagt überhaupt Dennis dazu? Ich dachte, ihr sucht gerade nach einer gemeinsamen Wohnung.“
Bennos Partner wirkte weniger verärgert als überrascht.
„Dennis wurde vor kurzem die Leitung einer Firmenfiliale angeboten, die Anfang Januar in Lübeck aufgemacht werden soll. Er hat’s mir gestern Abend erzählt. Das ist ein
Riesensprung für ihn und seine Karriere, aber weil keiner von uns beiden eine Fernbeziehung führen will, werde eben ich mich versetzen lassen.“
Gruber nickte.
„Hast du schon mit Kremer darüber gesprochen?“
Benno schüttelte den Kopf.
„Nein. Das wollte ich eigentlich heute machen. Und den schriftlichen Antrag anschließend auch gleich einreichen. Mir ist lediglich unser Ausflug zum Birkenhof dazwischengekommen.“
Wieder schwiegen sie eine Weile. Benno dachte intensiv über Grubers Worte nach, versuchte, das Für und Wider seines Vorschlags abzuwägen, kam jedoch zu keiner Entscheidung. Aber es war vermutlich auch besser, eine so wichtige Sache nicht, aus einem bloßen Impuls heraus, übers Knie zu brechen.
„Ich spiele übrigens mit dem Gedanken, mich doch noch frühpensionieren zu lassen“, sagte Gruber, mitten in seine Überlegungen hinein.
„Was? Ist das dein Ernst? Wieso denn das auf einmal?“
Einigermaßen schockiert schaute Benno seinen Partner an. Der zuckte die Achseln.
„Ich bin … müde“, sagte er und plötzlich sah er tatsächlich alt aus. Deutlich älter jedenfalls, als er war. „Na ja, als ich in der Klinik war und anschließend in der Reha, da dachte ich noch, ich wäre froh, wenn ich endlich wieder an meinem Schreibtisch sitzen könnte. Aber inzwischen sehe ich vieles anders. Es fühlt sich nicht mehr an wie früher. Irgendwie hab’ ich es scheinbar nicht mehr geschafft, wieder an dem Punkt anzuknüpfen, wo ich unterbrochen wurde. Manchmal sitze ich jetzt abends daheim und weiß nicht mehr, wozu ich überhaupt noch mit dem ganzen Scheiß weitermachen soll. Die Sache mit meinem Beinahe-Infarkt war ein ziemlicher Schuss vor den Bug, weißt du. Da stellt man sich schon mal andere Fragen als vorher und die Prioritäten verschieben sich. Auch wenn ich
noch längst nicht auf alles eine Antwort gefunden habe, eins weiß ich jedenfalls: Ich will nicht irgendwann am Schreibtisch den nächsten, möglicherweise tödlichen, Herzanfall bekommen. Außerdem gibt es auch einfach noch zu viele Dinge, die ich erleben will, bevor ich endgültig abtrete. Wer weiß denn schon, wie viele Jahre einem noch bleiben? Ich nicht. Ich weiß nur, dass es irgendwann zu spät ist und das ich nicht warten will, bis es so weit ist. Finanziell sollte ich wohl über die Runden kommen und alles andere ist doch eher zweitrangig, wenn man genauer drüber nachdenkt.“ Er sah zu Benno hinüber. „Klingt das verrückt?“
„Nein“, sagte der wahrheitsgemäß. „Eher … ich weiß nicht – realistisch?“
Das Präsidium kam in Sicht und kurz darauf lenkte Gruber den Dienstwagen auf den Parkplatz desselben. Sie stiegen aus und betraten dann hintereinander das Gebäude.
„Also, ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen“, meinte Gruber. „Wenn du freiwillig zum Bäcker gehst und uns einen holst, hänge ich mich inzwischen schon mal ans Telefon und spreche mit dem Staatsanwalt wegen einem Beschluss. Versuchen können wir es ja.“
Er seufzte und Benno nickte wortlos, machte auf dem Absatz kehrt und nahm den Weg zu ihrer favorisierten Bäckerei in Angriff. Als er ungefähr zwanzig Minuten später zurückkehrte, verhieß Grubers Miene nichts Gutes und wirklich: „Der Staatsanwalt hat abgelehnt. Er hält die Beweislage noch für zu dünn.“
Benno hatte nichts anderes erwartet, trotzdem spürte er, wie sein Frustpegel erneut gefährliche Dimensionen anzunehmen drohte. Er stellte Gruber den mitgebrachten Kaffee vor die Nase, ging zu seinem eigenen Schreibtisch und ließ sich schnaufend in seinen Stuhl fallen.
„Klasse“, sagte er. „Und nun?“
Gruber nahm einen Schluck aus dem Pappbecher und zuckte dabei die Achseln.
„Abwarten“, meinte er lakonisch. „Wenn wir Glück haben, kommt uns ja über kurz oder lang Kommissar Zufall zu Hilfe.“
Das ließ Benno auflachen, jedoch nicht, weil ihn die Vorstellung amüsierte.
„Damit würde ich an deiner Stelle nicht rechnen“, meinte er und setzte seinen Kaffeebecher ebenfalls an die Lippen.
„Wieso nicht?“, fragte Gruber. „Wenn man genauer drüber nachdenkt, ist es doch im Grunde schon ein gewaltiger Zufall gewesen, dass der Mord an Kuwilski überhaupt als solcher erkannt wurde. Der Notarzt hatte ihn doch bereits als Tod durch Herzversagen auf dem Zettel. Hättest du nicht drauf bestanden, den Leichnam obduzieren zu lassen, wäre er inzwischen begraben und der oder die Täter kämen ungeschoren davon.“
„Stimmt. Wenn man mal außer acht lässt, dass es im Moment auch nicht gerade danach aussieht, als stünden wir kurz davor, irgendjemanden festzunageln“, wandte Benno ein.
„Noch nicht“, widersprach Gruber.
Benno wollte etwas erwidern, wurde jedoch von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.
„Ja?“, rief er stattdessen.
Ein Kollege in Uniform schaute nach drinnen.
„Ein Leichenfund, draußen an der Kiesgrube“, sagte er. „Die Spurensicherung ist schon unterwegs.“
„Okay, wir kommen“, erwiderte Gruber, kippte den restlichen Kaffee herunter und erhob sich. „Diesmal fährst du wieder.“
Sie schnappten sich ihre Jacken und eilten dann rasch nach draußen, zurück zu ihrem Dienstwagen, den sie erst vor weniger als einer halben Stunde vor dem Präsidium abgestellt hatten. So schnell wie der Verkehr es zuließ, fuhren sie stadtauswärts und hielten auf die Kiesgrube zu. Per Funk ließen sie sich einweisen und erreichten schließlich den Leichenfundort, wo
bereits mehrere Streifenwagen, aber auch einige Zivilfahrzeuge, parkten. Zu Fuß marschierten sie über einen schmalen Pfad und näherten sich dem abgesperrten Bereich, bückten sich unter dem rot-weißen Plastikband hindurch und näherten sich dem von einer weiße Plane bedeckten, länglichen Umriss.
Er lag direkt oberhalb der steilen Uferböschung, doch Benno und Gruber wussten bereits, dass er ursprünglich im Wasser gefunden worden war.
Die Kiesgrube wurde schon sehr lange nicht mehr kommerziell genutzt und hatte sich im Laufe der letzten paar Jahrzehnte zu einer Art Naherholungsgebiet für die Menschen aus der nahe gelegenen Stadt entwickelt. Ein einsames, rostiges Förderband stand noch herum, außerdem ein paar halb verfallene Gebäude innerhalb eines eingezäunten Bereiches. Ansonsten wies kaum noch etwas auf die frühere Nutzung des Geländes hin. Stattdessen gab es jede Menge Wasservögel, die den dichten Schilfbewuchs der Ufer als Brut- und Tummelplatz nutzten, von Gras und Unkraut überwucherte Trampelpfade und am entgegengesetzten Ende des ungefähr zwei Kilometer langen Gewässers einen Bereich, der vom örtlichen Surf- und Segelverein genutzt wurde.
Dorthin, wo der Tote gefunden worden war, verirrten sich allerdings lediglich hin und wieder ein paar Angler oder Spaziergänger. Ein Angler war es offenbar auch gewesen, der die Leiche, im Wasser treibend, entdeckt und die Polizei alarmiert hatte. Der ältere Mann stand ein Stück abseits und war ziemlich blass um die Nase.
Dr. Siebenstein war ebenfalls bereits anwesend und kniete soeben neben dem Leichnam nieder. Er zog die Plane von dem reglosen Körper, und als Bennos Blick auf das Gesicht des Toten fiel, verhielt er mitten in der Bewegung.
„Ach, du Scheiße“, keuchte er.
Mit zwei großen Schritten stand er neben dem Gerichtsmediziner und starrte in das blasse Gesicht und die halb offenen blauen Augen. Er hatte sich nicht geirrt: Der junge Mann, der da vor ihnen lag, in der Kehle einen tiefen klaffenden Schnitt, war niemand anderer als Timo Marquardt.