9.
I ch würde grob schätzen, der junge Mann ist seit ungefähr einem oder zwei Tagen tot. Genauer eingrenzen kann ich es nach der Obduktion. Todesursache ist vermutlich der Schnitt durch die Kehle.“
Dr. Siebenstein blickte zu den beiden Kommissaren auf.
„Er ist also verblutet?“, folgerte Benno.
„Entweder das, oder es war eine Kombination aus Verbluten und Ertrinken“, erwiderte der Rechtsmediziner. „Durch den Schnitt in der Luftröhre ist zwar so oder so Wasser in die Atemwege eingedrungen, allerdings ist es normalerweise trotzdem möglich, zu unterscheiden, ob das Wasser eingeatmet wurde, was für einen Ertrinkungstod spräche, oder ob es nur sozusagen hineingelaufen ist, nachdem der Mann bereits tot war. Dabei gelangt die Flüssigkeit nämlich für gewöhnlich nicht so tief in die Lungenbläschen wie beim Ertrinken und außerdem wäre es naturgemäß längst nicht so viel wie beim Ertrinken. Alles das lässt sich bei der Obduktion feststellen.“
Benno schaute sich um.
„Also, korrigiert mich, wenn ich mich irre, aber … wenn er hier angegriffen worden wäre, sollte man dann nicht auch Kampfspuren finden? Und Blut? Vorzugsweise viel davon?“
„Kommt ganz drauf an.“ Gruber zuckte die Achseln. „Wenn der Täter schnell genug war, muss das nicht der Fall sein. Vielleicht war Marquardt ja ahnungslos. Der Täter könnte das Opfer von hinten gepackt haben, während es dicht am Ufer gestanden hat, mit dem Gesicht zum Wasser. Dann genügt ein schneller Schnitt, ein Schubs und Platsch! Das Blut wäre fast vollständig im Wasser gelandet. Dass man ihn hier gefunden hat, bedeutet außerdem nicht zwangsläufig, dass er auch genau hier ins Wasser gelangt ist. Der See hat Strömungen. Nicht so stark wie ein Fluss, aber immerhin und wenn er wirklich schon mehr als einen Tag tot ist, war das für die Leiche sicher Zeit genug, eine gewisse Strecke zurückzulegen.“
Benno nickte. Das leuchtete ein.
„Die Kollegen sollten auf jeden Fall die Umgebung absuchen, dabei an den Ufern anfangen und die Kreise allmählich größer ziehen. Wenn wir großes Glück haben, finden sie dabei irgendwas Verwertbares. Vielleicht sogar die Tatwaffe, wer weiß?“ Er schaute seinen Partner grimmig an. „Und wir beide reden in der Zwischenzeit noch mal mit dem Staatsanwalt. Unter diesen Umständen dürfte es doch kein Problem mehr sein, eine richterliche Anordnung zu bekommen, damit wir dieses dieses beschissene Puff und vor allem Marquardts Wohnung betreten dürfen, oder?“
„Seh’ ich genauso.“
Benno behielt Recht und kaum eine Stunde nach ihrer Rückkehr ins Präsidium waren sie schon wieder unterwegs zum Birkenhof. Diesmal allerdings nicht allein, sondern in einer kleinen Kolonne aus drei Fahrzeugen, mit je zwei Beamten, plus einem kompletten Team der Spurensicherung.
Es erfüllte Benno mit einiger Genugtuung, als er Sergej Lukianenko den Durchsuchungsbeschluss unter die Nase halten und ihn auffordern konnte, zur Seite zu treten.
Der Besitzer des Birkenhofes verzog keine Miene, doch seine Augen schossen Giftpfeile, als Gruber ihn anwies, ihnen zuallererst die Räumlichkeiten des Ermordeten zu zeigen. Abrupt drehte der Mann sich um und ging wortlos voraus. Die Kommissare folgten ihm, hinter sich die vier mitgebrachten Beamten, und Benno nutzte die Gelegenheit, sich im Inneren der berüchtigten Mouse Trap umzusehen. Oder zumindest in dem Teil davon, den er im Vorbeigehen sehen konnte.
Viel war es nicht. Der schmale Flur durch den sie kamen und das Treppenhaus mit den knarzenden Holzstufen erinnerten herzlich wenig an einen Club oder eine Lounge. Bei diesem Bereich des Hauses handelte es sich ganz offensichtlich um reine Privaträume. Reichlich schäbige obendrein.
Es roch muffig, die Wände waren weiß verputzt und die Decken hingen durch. Alles wirkte abgewohnt, Risse im Verputz, Staub, in den Ecken Spinnweben, dünn gescheuerte Bodendielen. Am oberen Ende der Treppe angekommen, blieb Lukianenko stehen und deutete mit einer Hand den Flur hinunter.
Auf jeder Seite des Ganges befanden sich zwei Türen, er wies auf die letzte zur Rechten.
„Das ist Timos Zimmer. Die Möbel gehören ins Haus, alles andere ist sein Kram.“
„Sind die übrigen Räume alle bewohnt?“, fragte Gruber und deutet auf die geschlossenen Türen.
„Ja.“
Allem Anschein nach war der Clubbesitzer noch immer genauso wortkarg wie bei ihrem letzten Besuch.
„Und sind Ihre Untermieter alle im Haus? Wir müssen mit jedem von ihnen sprechen.“
„Warum? Bloß weil Sie Timo wegen irgendwas auf dem Kieker haben? Der ist nicht hier, das habe ich Ihnen doch schon bei Ihrem letzten Besuch erklärt, oder nicht?“
Das waren verdammt viele Worte auf einmal, registrierte Benno interessiert. Konnte es sein, dass es ihnen allmählich gelang, den Kerl aus der Reserve zu locken? 
„Das ist uns durchaus bewusst“, sagte er und behielt Lukianenko scharf im Auge, als er weitersprach. „Timo Marquardt wurde nämlich vor ungefähr zwei Stunden tot aufgefunden. Draußen in der Kiesgrube.“
Die Reaktion fiel sparsam aus.
„Tot?“
Benno nickte.
„So ist es.“
Schweigen.
„Interessiert es Sie überhaupt nicht, wie Ihr Angestellter ums Leben gekommen ist?“, wollte Benno wissen.
Ein stummes Achselzucken war die Antwort.
„Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn ins Wasser geworfen. Klingelt da vielleicht was bei Ihnen?“
Bennos Gereiztheit nahm zu und das hörte man auch seinem Tonfall an.
„Ich war sein Vermieter und Arbeitgeber“, erwiderte Lukianenko und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Nicht sein Kindermädchen.“
Sich innerlich zur Ruhe mahnend, atmete Benno tief durch.
„Also, sind Ihre übrigen Mieter alle anwesend?“, fragte er noch einmal.
„Sehen Sie doch selbst nach. Ich überwache sie schließlich nicht.“
Da war sich Benno nicht wirklich sicher, doch er nickte und wandte sich an Gruber.
„Vorschlag: Ich nehme mir zusammen mit zwei Beamten Marquardts Zimmer vor. In der Zwischenzeit kannst du mit den beiden Übrigen schon mal die anderen Mieter befragen. Ist das okay für dich?“
„Kein Problem“, stimmte Gruber zu. Anschließend blickte er zu Lukianenko, der noch immer mit verschränkten Armen dastand. „Das gilt übrigens auch für Sie. An Sie als Timo Marqurdts Vermieter und Arbeitgeber haben wir auch ein paar Fragen.“
Ein erneutes, wortloses Achselzucken war die einzige Reaktion.
Benno verspürte eisige Wut bei dieser kaltschnäuzigen Reaktion, doch er zügelte sich. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er miterlebte, wie gleichgültig manchen Menschen alles außer ihren eigenen Befindlichkeiten sein konnte. Er wies zwei ihrer uniformierten Begleiter an, ihn zu begleiten und begab sich mit ihnen im Schlepptau zu dem Zimmer, auf das Lukanienko gedeutet hatte. Im Gehen streifte er sich ein Paar Latexhandschuhe über.
Die Tür zu Marquardts Zimmer war unverschlossen. Benno öffnete sie, setzte einen Fuß über die Schwelle und blieb abrupt stehen. Er wusste nicht, was er genau erwartet hatte, auf jeden Fall nichts Luxuriöses. Aber das hier? Hier hatte ein Mensch gelebt? Gehaust traf es wohl eher.
Die Bude starrte vor Dreck. Die karge Einrichtung des kleinen Zimmers bestand aus einem rostigen Metallspind, einem wackligen Stuhl und einer am Boden liegenden Matratze. Auf der wiederum lag schmutziges, zerwühltes Bettzeug ohne Wäsche, das helle Spannlaken war löchrig und in der Mitte gelblich verfärbt. In der Wand steckten mehrere Nägel, daran hingen ein paar einzelne Kleidungsstücke. Direkt darunter lag ein Paar Turnschuhe, die so zerschlissen waren, dass sie dem Träger zuletzt wohl fast von den Füßen gefallen sein mussten.
In der abgestandenen Luft lag ein wohlbekannter süßlicher Geruch und als Benno ans Fenster trat und nach draußen schaute, sah er auf der Fensterbank einen Aschenbecher mit ausgedrückten Stummeln. Probeweise fischte er mit spitzen Fingern einen heraus und hielt ihn sich unter die Nase. Kein Zweifel, es handelte sich um einen Joint.
Als Nächstes untersuchte er den Metallspind, der ebenfalls nicht verschlossen war. Darin fand sich noch ein wenig Wäsche, größtenteils schmutzig, ein speckiger Kulturbeutel samt Inhalt, aber auch ein Halsband aus schwarzem Leder und ein Tütchen mit ein paar weißlichen Kristallen darin. Sehr aufschlussreich.
Benno wühlte sich mit angehaltenem Atem weiter durch die wenigen Besitztümer von Timo Marquardt und schließlich stieß er auf etwas Interessantes. Eine Art Stoffbeutel, mit irgendetwas Festem darin. Benno löste die Schlaufe, die den Beutel verschloss, sah hinein und pfiff unwillkürlich durch die Zähne. Zwei Armbanduhren steckten darin. Er holte sie nacheinander heraus und entdeckte im Zifferblatt der einen die Worte „Patek Geneve“ und bei der anderen „Rolex“.
Er ließ die Uhren zurück in den Beutel gleiten und trat damit wieder in den Flur. Als Erstes ging er zu Lukianenko und hielt ihm seinen Fund unter die Nase.
„Haben Sie die hier schon mal gesehen?“
Der Mann warf nur einen flüchtigen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Dabei verzog er keine Miene.
„Sollte ich?“
Benno sah ihm ins Gesicht und wusste im selben Moment, dass Lukianenko log. In seinen kalten, hellen Augen stand unverkennbar eine Mischung aus Verachtung, Spott und Arroganz. Eine wortlose Herausforderung, so empfand er es. Und plötzlich sah Benno rot.
Mit einer Hand packte er Lukianenko unvermittelt am Kragen und schob ihn rückwärts gegen die nächste Wand.
Der Beutel fiel zu Boden, er ballte die andere Hand zur Faust, hob sie und hätte vermutlich wirklich zugeschlagen, hätte ihn nicht im nächsten Augenblick ein fester Griff um seinen Unterarm gestoppt.
„Hey! Ganz ruhig, Benno“, drang die Stimme seines Partners zu ihm durch.
Das half. Der rötliche Nebel in seinem Blickfeld löste sich langsam auf, seine Wut bröckelte. Benno starrte noch einen Moment lang in Lukianenkos nun zu einem überheblichen Grinsen verzogenes Gesicht, dann ließ er ihn los und trat zurück. Bereitwillig ließ er sich anschließend von Gruber ein Stück zur Seite bugsieren.
„Was zum Teufel sollte das? Was ist denn passiert?“, wollte der in gedämpftem Tonfall wissen.
Benno wischte sich über das Gesicht.
„Nichts“, gab er widerwillig zu. „Es … ist wohl einfach mit mir durchgegangen. – Danke, dass du mich gebremst hast“, fügte er noch hinzu.
Gruber ging nicht darauf ein.
„Nichts?“, wiederholte er und hob die Brauen. „Es ist mit dir durchgegangen? Soll das heißen, du hast den Mann grundlos angegriffen? Verdammt, so was kann die ganze Ermittlung gefährden, das ist dir schon klar, oder? Davon, was Kremer dazu sagen wird – vor allem vor dem Hintergrund, dass dieser Meierling uns schon, wo er nur kann, als korrupt und unfähig hinzustellen versucht –, will ich gar nicht erst anfangen!“
„Ich weiß, Horst, das weiß ich alles!“, erwiderte Benno, kaum weniger ungehalten. „Ich weiß, dass es total falsch war, aber …“ Er stockte. Wie sollte er seinem Partner begreiflich machen, was ihn so hatte reagieren lassen? Er verstand es ja selbst kaum.
„Es ist nur … Dieses Zimmer …“ Er deutete auf die offenstehende Tür zu Marquardts Raum. „Das ist … das ist menschenunwürdig! Sieh es dir an! Dreckig und … kaum mehr als ein Loch! Und das, nachdem der Typ bei uns einen auf guter Samariter gemacht hat.“ Er schnappte nach Luft, ehe er weiterredete. „Ich hab’ … ich hab’ Uhren gefunden. In Marquardts Spind. Und Lukianenko … Der behauptet, er weiß von nichts, aber … ich hab’s an seinen Augen gesehen, Horst! Der Kerl lügt! Wie gedruckt!“
Gruber starrte ihn an und runzelte die Stirn.
„Uhren, sagst du? Wo sind die?“
Benno deutete wortlos auf den kleinen Stoffbeutel am Boden neben Lukianenko. Gruber ging hinüber, hob ihn auf und schaute hinein. Gleich darauf pfiff er durch die Zähne und schaute wieder Benno an.
„Das könnten tatsächlich welche aus Kuwilskis Sammlung sein. Zumindest bezweifle ich mal sehr stark, dass sie Marquardt gehört haben. Das sollen die Kollegen von der Kriminaltechnik untersuchen.“ Er winkte einen der uniformierten Beamten heran und überreichte ihm den Beutel. „Einmal eintüten.“
Anschließend wandte er sich erneut an Benno.
„Und nun zu dir.“ Mit scharfem Blick musterte er seinen Kollegen. „Fühlst du dich in der Lage hier weiterzumachen oder flippst du gleich wieder aus?“
Benno sah zu Lukianenko hinüber und zuckte die Achseln. Er konnte nicht sagen, wie er reagieren würde, sollte Lukianenko noch irgendetwas zu ihm sagen oder auf eine weitere Frage ähnlich kaltschnäuzig reagieren wie vorhin.
„Okay.“ Gruber schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Dann mache ich hier oben mit den Kollegen allein weiter und du schaust dich in der Zwischenzeit, zusammen mit einem Kollegen, unten im eigentlichen Club um. Sie“, richtete er dann das Wort an Lukianenko, „bleiben so lange hier oben bei uns. Braucht mein Kollege irgendwelche Schlüssel oder ist unten alles frei zugänglich?“