10.
„T
imo war kein schlechter Junge“, sagte die Frau leise. Sie und ihr Mann, die Eltern des ermordeten Timo Marquardt, hatten Benno und Gruber bereits im Präsidium erwartet, als die von ihrem Einsatz auf dem Birkenhof zurückgekehrt waren.
Die eigentliche Mouse Trap
hatte sich als kaum weniger schäbig erwiesen, als die Wohnräume, war aber zumindest sauberer. Im vorderen Bereich hatte es wenig Bemerkenswertes gegeben. Eine Bar, eine kleine Bühne mit zwei Stangen zum Tanzen, im Hintergrund ein Käfig auf einem Podest, der wohl demselben Zweck diente, einige abgewetzte Sitzgruppen mit rotem Kunstlederbezug. Außerdem drei kleine Hinterzimmer mit durchgelegenen Betten, wo die intimeren Bedürfnisse zahlender Kunden bedient werden konnten.
Interessant war es jedoch geworden, als Benno und der uniformierte Kollege, mit einem der von Lukianenko konfiszierten Schlüssel, die schwere Tür zum hinteren Bereich aufgesperrt und sich unversehens in einem waschechten SM-Club wiedergefunden hatten. Laut vorheriger Auskunft des Besitzers hatte dort nur Zutritt, wer sich eine sogenannte „Mitgliedschaft“ einen fünfstelligen Betrag im Jahr kosten ließ.
Es gab mehrere Räume, die, je nach Einrichtung, unterschiedlichen Zwecken zu dienen schienen, aber vermutlich nicht viele SM-Wünsche offen ließen. Ein mittelalterlich anmutendes Verlies mit Ketten und Andreaskreuz war ebenso vorhanden, wie ein weiß gefliester ärztlicher
Untersuchungsraum, komplett mit einem Stuhl, wie man ihn vom Gynäkologen oder Urologen her kannte – und einem Abfluss im Boden. Außerdem Schränke voller Peitschen, Fesseln, Sextoys jeglicher Art und was es auf diesem Gebiet eben noch so alles gab. Außerdem einen eigenen Clubraum mit Bühne, Bar und Sitzgruppen, dem im vorderen Bereich nicht unähnlich, wenn auch deutlich besser in Schuss.
Im Hinblick auf den Mord an Timo fand sich jedoch auf den ersten Blick nichts Verdächtiges. Die Spurensicherung würde noch genauer nachsuchen, aber Benno glaubte nicht daran, dass sie etwas Belastendes fanden. Falls Lukianenko tatsächlich mit Marquardts Tod zu tun hatte, dann hatte er ihn sicher nicht ausgerechnet in seinem eigenen Club abgemurkst.
Die übrigen „Mieter“ von Lukianenko konnten ebenfalls nichts Erhellendes zum Sachverhalt beitragen – zumindest behaupteten sie das. Benno hatte sich bei Grubers Bericht dazu an die berühmten drei Affen erinnert gefühlt: Nichts sehen, nichts hören und vor allem nichts sagen, war offenbar die Devise. Allerdings war sowohl Gruber als auch den uniformierten Beamten aufgefallen, dass die beiden jungen Frauen und der eine Mann, die von ihnen zu Timo Marquardt befragt worden waren, immer wieder zu dem Clubbesitzer geschaut hatten. Der hatte während der gesamten Aktion mit verschränkten Armen am Treppenabsatz gestanden und mit unbewegter Miene dem Ganzen zugesehen. Nach Bennos Ansicht ein ziemlich eindeutiges Indiz dafür, dass die jungen Leute Angst vor dem Mann hatten.
Das warf natürlich Fragen auf, darüber, wie Lukianenkos Beziehung zu Timo wirklich gewesen war, zumal die Zimmer der anderen Untermieter, nach dem zu urteilen, was Gruber und seine Kollegen zu sehen bekommen hatten, zwar nicht gerade opulent eingerichtet gewesen waren, aber wohl doch weit
entfernt von dem, was sie in Marquardts Raum vorgefunden hatten.
Und nun saßen Benno und Gruber den Eltern des Toten gegenüber.
Herr und Frau Marquardt waren, unmittelbar nachdem sie den Toten im Leichenschauhaus identifiziert hatten, ins Präsidium gekommen, um dort ihre Aussage zu machen. Nach ihrem Erscheinungsbild und ihrem Auftreten zu urteilen, schienen sie recht gut situiert zu sein.
Beide waren schätzungsweise um die sechzig und wirkten wie Menschen, die es nicht für nötig hielten, ihren materiellen Wohlstand zur Schau zu stellen. Lediglich dezente Hinweise, wie die kleinen Brillantohrstecker der Frau, ihr elegantes Kostüm oder das seidene Einstecktuch in der Brusttasche des Mannes deuteten darauf hin.
Der richtete sich als Reaktion auf die Worte seiner Frau jetzt sehr gerade auf und atmete hörbar ein.
„Das mag ja richtig sein, Senta“, sagte er. „Aber das hat ihn leider auch nicht daran gehindert, sich mit den falschen Leuten einzulassen.“
„Nein.“ Sie schüttelte bedrückt den Kopf.
„Wieso hat Ihr Sohn sich mit den falschen Leuten eingelassen? Wie meinen Sie das?“, fragte Gruber behutsam nach.
Marquardt seufzte und schüttelte den Kopf.
„Timo ist … war
nicht unser leiblicher Sohn, wissen Sie?“, erläuterte er. „Wir haben lange Zeit versucht, eigene Kinder zu bekommen, aber unglücklicherweise hat es nicht geklappt. Als wir uns das endlich eingestanden haben, war es für eine Adoption hier in Deutschland längst zu spät. Wir waren bereits Ende dreißig und bei den Wartelisten … Sie verstehen?“ Er zuckte die Achseln. „Als letzten Ausweg haben wir uns dann für eine Auslandsadoption entschieden. Das kostete zwar eine Menge Geld, aber das war für uns ja, Gott sei Dank, kein
Problem. Nachdem wir uns für eine Agentur entschieden hatten, ging dann auch tatsächlich alles sehr schnell. Timo war damals vier. Eigentlich hatten wir lieber ein Baby gewollt, aber er war so ein entzückender, kleiner Bursche – wir haben uns praktisch sofort in sein Bild verliebt und wussten, wir wollten ihn und sonst keinen. Zwei Mal waren wir in der Ukraine, in dem Waisenhaus, wo er untergebracht war und beim zweiten Mal konnten wir ihn schon mitnehmen.“
„Er sah auf den Fotos so traurig aus“, mischte sich jetzt seine Frau in die Unterhaltung. Sie hatte ein Papiertaschentuch in den Händen und zerknüllte es beim Sprechen. Ihre Augen waren gerötet, immer wieder wischte sie sich darüber. „Wir wollten aus ihm doch einfach nur ein glückliches Kind machen, verstehen Sie?“
„Und er bekam ja auch alles!“, stieß ihr Mann plötzlich heftig hervor. „Einfach alles! Es hat ihm an nichts gefehlt! Hätte ich selbst als Kind auch nur einen Bruchteil an dem bekommen, was er bekam …“ Er schnaubte. „Aber wie hat er es uns gedankt? Mit Frechheiten, Schuleschwänzen und Prügeleien! An vier Schulen ist er gewesen und am Ende doch ohne Abschluss geblieben! Er hatte alle Möglichkeiten und hat sie alle ausgeschlagen! Und wofür! Für Drogen und diesen … diesen … Kerl!
“
„Kerl?“, echote Benno. „Wen meinen Sie?“
„Was weiß ich.“
Marquardts Rage verflog so rasch, wie sie gekommen war und er sank in sich zusammen. Plötzlich wirkte er alt und müde.
„Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Kommissar – wir wussten, dass Timo Männern den Vorzug gab. Also, in … sexueller Hinsicht. Das war auch kein Problem, weder für mich, noch für meine Frau, es war nur … Dieser Kerl war doch mindestens doppelt so alt wie Timo! Und ich bin mir sicher, dass er es
auch war, der ihn mit Drogen in Berührung brachte und ihn schließlich sogar dazu anstiftete, uns zu bestehlen!“
„Ihr Sohn hat Sie bestohlen?“
Benno wechselte einen Blick mit Gruber. Das klang schon etwas anders als die Geschichte, die Lukianenko ihnen aufgetischt hatte.
Marquardt nickte, seine Frau senkte den Kopf.
„Er hat Schmuck aus meiner Schatulle gestohlen“, sagte sie leise, fast als schämte sie sich. „Alte Familienerbstücke, die noch von meiner Großmutter stammten. Er hat sie versetzt. Einen Teil des Erlöses hat er in Drogen investiert, den Rest hat er vermutlich seinem Liebhaber gegeben. Zumindest vermuten wir das. Die Stücke waren, rein materiell gesehen, sehr wertvoll, aber mich hat vor allem der ideelle Verlust sehr getroffen. Als wir es entdeckten und Timo deswegen zur Rede stellten …“
Sie verstummte und schniefte leise.
„Es kam zu einem furchtbaren Krach. Timo warf uns vor, wir wären schuld daran, dass er Drogen nähme, weil wir ihn nie wirklich geliebt hätten. Unmittelbar darauf verließ er das Haus und seitdem haben wir ihn nie wieder gesehen“, ergänzte ihr Mann. „Wir haben ihn zwar als vermisst gemeldet, aber das hat am Ende leider nichts gebracht.“
„Wann war das?“, wollte Gruber wissen.
„Vor ungefähr fünf Jahren“, antwortete Marquardt. „Timo war damals siebzehn. Ein halbes Jahr später wurde er volljährig und von da an konnte er sowieso machen was er wollte. Er wurde zwar irgendwann von der Polizei ausfindig gemacht, aber da er sich weigerte, mit uns in Kontakt zu treten …“
Er zuckte die Achseln.
Benno runzelte die Stirn. Konnte es vielleicht sein, dass der Clubbesitzer der ältere Kerl war, mit dem Marquardt seinen Sohn gesehen hatte?
„Sie wissen nicht zufällig, wie dieser Mann hieß, mit dem Sie Ihren Sohn damals gesehen haben?“
Bedauernd schüttelte Bennos Gegenüber den Kopf.
„Nicht genau, nein. Es war irgendein russischer Name, so viel weiß ich noch. Und dass Timo geradezu verrückt nach ihm war. Als wäre er ihm … ich weiß nicht, hörig oder so. Anders kann ich es kaum nennen.“
„Könnte es vielleicht 'Sergej' gewesen sein?“
„Möglicherweise.“ Erneut zuckte Marquardt die Achseln. „Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher. Timo war kaum noch zuhause zu dieser Zeit und wenn, dann redete er kaum drei Worte mit uns.“
„Können Sie sich denn noch erinnern, wie der Mann aussah?“, versuchte Benno es weiter.
„Ja, das schon. Ich meine, ich kam nach Hause, suchte nach meinem Sohn und fand ihn im Bett mit diesem … diesem Mann!
So was brennt sich ein, wissen Sie? Der Kerl war ziemlich groß, athletisch gebaut, kantiges Gesicht, kurze blonde Haare. Aber vor allem erinnere ich mich an seine Augen. Die waren sehr hell und irgendwie stechend, das fiel mir auf. Ich weiß noch, dass ich spontan eine Gänsehaut bekam, als er mich anschaute. Total kalt irgendwie, als würde er rein gar nichts fühlen.“
Er erschauerte bei der Erinnerung und seine Frau fasste nach seiner Hand.
Wieder sah Benno zu seinem Partner und las in dessen Gesicht, dass sie wohl beide dasselbe dachten.
„Würden Sie ihn wiedererkennen?“, fragte Benno.
„Auf jeden Fall“, erwiderte Marquardt sofort.
„Wunderbar. Hätten Sie etwas gegen einen kleinen Ausflug?“
Marquardt hatte keine Einwände, als Benno ihm erklärte, worum es ging, und so kam es, dass er und Gruber weniger als zwei Stunden, nachdem sie den Birkenhof verlassen hatten, schon wieder dort vorfuhren. Herr und Frau Marquardt saßen
auf dem Rücksitz und blieben auch sitzen, als Gruber ausstieg und zur Tür ging.
Benno beobachtete seinen Partner, wie der auf den Klingelknopf drückte. Nach einem Moment des Wartens wurde ihm von Lukianenko geöffnet, genau wie er gehofft hatte.
Hinter ihm ertönte ein scharfes Einatmen.
„Das ist der Kerl!“, sagte Marquardt gepresst. „Ganz sicher! Das ist der Mann, mit dem ich Timo erwischt habe! Wer ist das? Hat er … Hat er Timo getötet?“
Hinter Benno entstand Bewegung und als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie Marquardt aus dem Wagen sprang. Bevor er selbst ins Freie gelangte, hatte der Mann bereits die Hälfte der Strecke bis zur Haustür zurückgelegt.
„Scheiße!“, fluchte Benno inbrünstig und hechtete hinter ihm her.
„Was haben Sie mit Timo gemacht?“, hörte er Marquardt rufen, während er weiter auf Lukianenko zueilte.
Der schien jedoch wenig beeindruckt, betrachtete ihn stattdessen nur mit einem Ausdruck verächtlichen Spotts.
„Ich habe Sie was gefragt! Hören Sie nicht?“, insistierte Timos Vater. „Was haben Sie meinem Sohn angetan? Hat es Ihnen nicht gereicht, dass Sie ihn uns entfremdet haben? Dass er Ihretwegen angefangen hat, Drogen zu nehmen! Sie haben ihm doch schon sein ganzes Leben kaputtgemacht! Mussten Sie ihn jetzt auch noch umbringen?“
Endlich hatte Benno Marquardt eingeholt, packte ihn am Arm und hielt ihn fest, wogegen er sich jedoch heftig wehrte. Hinter ihnen war inzwischen auch seine Frau aus dem Wagen gestiegen.
„Berthold!“, rief sie flehend. „Bitte, hör’ auf! Mach’ uns nicht völlig unglücklich!“
„Ich?“ Ihr Mann drehte das Gesicht in ihre Richtung. „Ich
mache uns unglücklich?“ Jetzt deutete er auf Lukianenko. „Er
hat uns
unglücklich gemacht! Er
hat uns Timo weggenommen, hast du das vergessen? Und wahrscheinlich hat er ihn sogar getötet! Sieh dir den Kerl doch an! Er steht nur da und grinst uns überheblich an, während unser Junge in der Leichenhalle liegt! Erwartest du, dass ich das einfach so hinnehme? Ganz gleich, was gewesen ist – Timo war doch unser Sohn!“
„Herr Marquardt, …“, begann Benno, wurde jedoch von Lukianenko unterbrochen.
Der stellte sich jetzt unvermittelt neben Gruber und deutete mit dem Finger auf Marquardt.
„Timo war nicht euer Sohn“, sagte er verächtlich. „Ihr habt ihn euch lediglich gekauft, so wie ihr Geldsäcke immer alles kauft, was euch gefällt. Weil er auf den Fotos niedlich aussah. So, als würdet ihr einen Hund kaufen oder ein Auto. Aber Timo war kein Hund und auch kein Auto, er war ein Kind. Er hatte eine verletzte Seele, so wie alle Kinder, die irgendwo in der Welt in einem beschissenen Waisenhaus sitzen und für die sich kein Schwein interessiert, außer es kommen irgendwelche reichen Arschlöcher, die glauben, mit Geld ließe sich alles regeln. Die sich ein Kind kaufen und damit schmücken, als wäre es ein modisches Accessoire. Und als sich rausstellte, dass euer kleines – Accessoire
nicht ganz so makellos war, wie ihr dachtet, da habt ihr auch wieder versucht, seine Probleme unter noch mehr Geld zu verstecken. Als er Eltern gebraucht hätte, die für ihn da sind und ihn lieben, die ihn verstehen, habt ihr ihm stattdessen Dinge
gegeben! Und dann habt ihr dafür Dankbarkeit von ihm erwartet. Timo sollte sich gefälligst anpassen, funktionieren, sich in euer perfektes, makelloses Leben einfügen.“ Er spuckte aus. „Ihr hattet ihn schon verloren, lange bevor ich aufgetaucht bin. Ich habe lediglich eine Gelegenheit genutzt, die ihr selbst geschaffen habt! Also, wenn ihr irgendjemandem die Schuld geben wollt, schaut in einen Spiegel und werft nicht mir eure Versäumnisse vor!“
„Sie … Sie verdammtes Schwein!“
Marquardt wollte sich losreißen, aber Benno hatte schon damit gerechnet und hielt ihn eisern fest.
„Ihre Frau hat recht, Herr Marquardt“, sagte er eindringlich. „Sie braucht sie! Lassen Sie sie jetzt nicht im Stich!“
Er spürte, wie die Anspannung im Körper des Mannes allmählich wich. Noch einmal sah er zu Lukianenko, dann ließ er den Kopf hängen, nickte und holte tief Atem.
„Okay. Sie können mich jetzt loslassen.“
„Sicher?“, fragte Benno.
„Ja. Ich … habe mich wieder im Griff.“
Benno löste die Finger von Marquardts Arm, darauf gefasst, eventuell erneut zupacken zu müssen, doch der Mann wandte sich wortlos um und trottete mit schweren Schritten zum Wagen zurück.
„Mich brauchen Sie ja dann wohl nicht mehr, oder?“, fragte Lukanienko.
„Vorerst nicht“, erwiderte Gruber, der der ganzen Aktion bislang schweigend zugesehen hatte. „Aber verlassen Sie nicht die Stadt. Wir kommen unter Garantie noch mal wieder.“