11.
V olltreffer!“, frohlockte Benno, als er am folgenden Morgen ihr gemeinsames Büro betrat und hielt Gruber ein Blatt Papier unter die Nase.
„Fingerabdrücke oder DNA?“, fragte der, während er nach dem Blatt griff.
„Erst mal nur die Fingerabdrücke. Aber ich fresse einen Besen, wenn die DNA nicht auch übereinstimmt“, erwiderte Benno.
„Dann wissen wir jetzt also, dass sowohl Timo Marquardt, als auch Sergej Lukianenko bei Kuwilski gewesen sind. Von dem einen haben wir Fingerabdrücke, vom anderen die DNA“, stellte sein Partner sichtlich zufrieden fest.
„Kleines Update“, meinte Benno. „Inzwischen haben die Kollegen von der KTU auch von Marquardt Fingerabdrücke sichern können. Etwas verwischt zwar, aber ziemlich eindeutig. Allerdings nur im Badezimmer, nicht am eigentlichen Tatort. Aber dort finden sich dafür reichlich Abdrücke von Lukianenko.“
Nachdem sie am Vortag vom Birkenhof zurückgekehrt waren, hatten die Marquardts noch eine offizielle Aussage gemacht, mit deren Hilfe es möglich gewesen war, eine weitere richterliche Anordnung zu erwirken. Lukianenko war dann aufs Präsidium gebracht worden, wo man eine DNA-Probe und Fingerabdrücke genommen hatte. Dank der Übereinstimmung mit den Spuren in Kuwilskis Wohnung, war er damit vom Zeugen nun also auch offiziell zum Verdächtigen geworden.
Benno hätte es gern gesehen, wenn sie ihn am Vortag schon hätten festnehmen dürfen, doch das ging dem Staatsanwalt da noch zu weit. Er argumentierte – rein formaljuristisch vollkommen korrekt – dass allein die Tatsache, dass es sich bei Lukianenko offenbar um den Mann handelte, der vor Jahren den, damals noch minderjährigen, Timo Marquardt verführt und mutmaßlich mit Drogen in Berührung gebracht hatte, nicht zwangsläufig bewies, dass er den jungen Mann auch umgebracht hatte. Und ebenso wenig war zu diesem Zeitpunkt in irgendeiner Form erwiesen gewesen, dass er mit dem Mord an Kuwilski zu tun hatte.
An Timo Marquardts Leiche hatten keinerlei verwertbare DNA-Spuren gesichert werden können, weil der Körper offenbar längere Zeit im Wasser gelegen hatte. Die Obduktion hatte lediglich eine Menge Narben am ganzen Körper zutage gefördert und eindeutige Anzeichen für einen längeren Drogenmissbrauch und Unterernährung.
Eine Tatwaffe war ebenfalls bisher nicht sichergestellt worden, obwohl sogar Taucher im Einsatz gewesen waren. Einzig der mutmaßliche Tatort des Mordes hatte ausfindig gemacht werden können. Er lag gar nicht so weit vom Fundort der Leiche entfernt, lediglich etwa zweihundert Meter entfernt.
Das Ufer war dort mit hüfthohem Schilf bewachsen, dass sich bis weit ins seichte Wasser hinein ausdehnte. An einer Stelle waren die Halme in einem Radius von etwa einem Meter auffällig geknickt und es gab außerdem einige auffällige Blutspritzer. Das Blut stammte von Timo, wie inzwischen eindeutig nachgewiesen werden konnte, ansonsten war der eigentliche Mord vermutlich ungefähr so abgelaufen, wie Gruber es in seinem fiktiven Szenario beschrieben hatte. Die geringe Menge an sichtbarem Blut sprach ebenso dafür, wie die unmittelbare Nähe zum Wasser.
„Zeit für einen Haftbefehl, wenn du mich fragst“, meinte Gruber und griff nach dem Telefon.
Benno nickte grimmig.
„Dann lass uns mal hoffen, dass der Kerl sich noch nicht aus dem Staub gemacht hat“, sagte er.
Bennos Hoffnung erwies sich als trügerisch.
Als er und Gruber, gemeinsam mit einer Streifenwagenbesatzung, am Birkenhof eintrafen, war der Vogel bereits ausgeflogen. Benno hatte es insgeheim befürchtet und die Tatsache, dass diesmal bei ihrem Eintreffen nur noch einer der beiden Wagen, die vorher immer im Hof gestanden hatten, zu sehen war, nämlich der schwarze Mini, hatte diese Befürchtung schon beinahe zur Gewissheit werden lassen.
Die Wohnung im Erdgeschoss des Gehöfts, die sie nicht hatten betreten dürfen, so lange der Clubbesitzer kein offizieller Verdächtiger gewesen war, erweckte dann auch folgerichtig den Eindruck, als hätte jemand in aller Eile gepackt. Schubladen und Schranktüren standen offen, vereinzelte Kleidungsstücke und eine leere Geldkassette lagen auf dem Boden. Von Lukianenko fehlte dagegen jede Spur.
Benno biss die Zähne aufeinander und unterdrückte mühsam den Impuls, einen Wutschrei auszustoßen.
„Alles durchsuchen“, ordnete er an.
Zwar erwartete er nicht, etwas zu finden, was ihnen verriet, wohin der Mann geflüchtet war, aber womöglich fanden sich ja Beweise für irgendwelche anderen illegalen Dinge. Dass es sich dabei um etwas handelte, was ihn mit einem ihrer Mordfälle in eindeutige Verbindung brachte – oder sogar mit beiden? – wagte er nicht zu hoffen, aber irgendetwas musste es doch geben. Drogen, Waffenhandel, Betrug, seinetwegen auch notorisches Schwarzfahren, Benno war es egal. Hauptsache hieb- und stichfest und dazu geeignet, Lukianenko hinter Gitter zu bringen. Dieser Kerl war alles andere als ein Unschuldslamm und in Benno brannte der Wunsch, ihn nicht nur zu erwischen, sondern auch für möglichst lange Zeit aus dem Verkehr zu ziehen.
Sie leiteten eine Fahndung nach dem Clubbesitzer ein, forderten Verstärkung an und machten sich dann daran, das gesamte Gebäude auf den Kopf zu stellen.
Allerdings fanden sie herzlich wenig. Falls sie wirklich richtig lagen und Lukianenko so viel Dreck am Stecken hatte, wie sie dachten, war er zumindest ganz offensichtlich kein Dummkopf. Bis auf ein paar Tütchen mit Marihuana und eine Gaspistole gab es nichts, was ihn auf den ersten Blick in irgendeiner Form belastet hätte.
Benno hatte schwer mit seiner Enttäuschung zu kämpfen. Irgendetwas musste es hier doch geben, verflucht noch mal!
Lukianenkos „Untermieter“ waren alle im Haus. Sie hatten von der Flucht ihres Chefs noch gar nichts mitbekommen, wirkten aber trotzdem nicht weniger verängstigt als beim letzten Mal. Sie behaupteten weiterhin, sie hätten keine Ahnung von irgendwelchen illegalen Machenschaften ihres Arbeitgebers und natürlich auch nicht, wo der stecken könnte. Ganz offensichtlich hatte Lukianenko sie selbst jetzt noch vollkommen im Griff.
Irgendwann, als er einsehen musste, dass sie so nicht weiterkamen, verzog sich Benno frustriert nach draußen. Am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeschlagen, um seinen glühenden Zorn abzureagieren, aber stattdessen atmete er nur einige Male tief ein und aus und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Hatte er sich in etwas verrannt? Wollte er einfach nur, dass Lukianenko schuldig war, weil er den Kerl nicht leiden konnte?
Nun, die Fingerabdrücke in Kuwilskis Wohnung sagten etwas anderes, aber selbst daraus konnte ein cleverer Strafverteidiger noch einen begründeten Zweifel konstruieren, wenn es sein musste. Das wusste Benno aus Erfahrung. Die Sicherstellung von Fingerabdrücken an einem Tatort war noch lange kein eindeutiger Schuldbeweis, sondern lediglich ein Indiz. Außer, sie wurden an einer Tatwaffe gefunden wurden und selbst da versuchten manche noch, sich mit schrägen Erklärungen herauszuwinden und fanden viel zu oft Gehör bei Gericht.
Plötzlich erklang ein Räuspern hinter ihm und Benno drehte sich um.
Der junge Mann, der im oberen Stockwerk wohnte und angegeben hatte, als Servicekraft in der Mouse Trap zu arbeiten, war hinter ihm aufgetaucht, ohne dass er dessen Annäherung bemerkt hatte. Benno schätzte ihn auf ein ähnliches Alter wie Timo Marquardt und auch von der Statur waren die beiden sich recht ähnlich. Die Haare seines jetzigen Gegenübers waren jedoch knapp schulterlang, sehr glatt und von blauschwarzer Färbung. Das und die dunklen, leicht mandelförmigen Augen ließen Benno vermuten, dass zumindest zum Teil asiatisches Blut in seinen Adern floss.
„Kann ich was für Sie tun?“, fragte er, als der junge Mann nur dastand und ihn anstarrte, ohne etwas zu sagen.
Er wirkte nervös, hatte beide Arme um seine Körpermitte geschlungen und zitterte sogar leicht. Das konnte aber auch der Kälte geschuldet sein, denn er trug nur ein T-Shirt und Jeans, keine Jacke.
„Werden Sie Sergej verhaften?“, fragte er nun.
„Wenn wir ihn erwischen“, erwiderte Benno vage.
Der junge Mann sah zu Boden, schien zu überlegen.
„Hat … hat er Timo umgebracht?“, wollte er dann wissen und schaute auf.
Benno zuckte die Achseln.
„Möglicherweise“, sagte er.
„Timo war ein Arschloch“, kam es von seinem Gegenüber.
Nachdem die Worte erst einmal draußen waren, schienen weitere buchstäblich hinterhersprudeln zu wollen. Und richtig: „Als ich hier ankam, war der Wichser die Muschi von Sergej und hielt sich deshalb für was Besseres“, fuhr er fort. „Hat mit in der Wohnung vom Chef gewohnt und immer damit angegeben, was der ihm alles erlaubt, im Gegensatz zu uns.“
Benno runzelte die Stirn. Timo Marquardt war also „die Muschi“ vom Chef gewesen und hatte mit ihm zusammengelebt? Aber dann musste irgendwas passiert sein, oder? Warum sonst hätte er zuletzt in diesem Drecksloch von Zimmer hausen sollen? Oder war das am Ende gar nicht Timos Zimmer gewesen und Lukianenko hatte das nur behauptet?
„Sie meinen, die beiden waren liiert und deswegen hat Sergej Timo bevorzugt?“, hakte er nach. 
Der junge Mann nickte, dann verzog er das Gesicht zu einer Grimasse.
„Nicht nur bevorzugt. Timo war sein Sub und hat Sergejs Halsband getragen. Aber er war halt nicht nur ein Arschloch, er war auch dumm wie Brot. Sonst hätte er nämlich nicht versucht, seinen Dom zu beklauen. Der war natürlich nicht gerade begeistert, als er ihn dabei erwischt hat. Beim ersten Mal hat Sergej ihm nur als Warnung den Arsch versohlt, sodass er acht Tage nicht drauf sitzen konnte. Aber scheinbar hat ihm das immer noch zu gut gefallen. Er hat’s wieder getan und damit war sein Status endgültig Geschichte.“
Benno überlegte kurz und zumindest ein paar Puzzlestücke fielen an die richtigen Plätze.
„Also hat er deswegen zuletzt in diesem Drecksloch gehaust?“
„Klar. Er hatte ja praktisch nichts Eigenes, bis auf ein paar billige Klamotten. So lange er Sergejs Halsband getragen hat, hat es ihm an nichts gefehlt. Aber als das vorbei war, kam dann der totale Absturz. Vorher musste er nur sehr selten mal einen Kunden bedienen, eigentlich immer nur Sergej und dessen Freunden zur Verfügung stehen. Aber nachdem Sergej ihn bei sich rausgeworfen hatte, musste er seinen Arsch genauso verkaufen, wie wir anderen auch. Er hatte ja auch schließlich immer noch Schulden bei ihm.“
Er seufzte und schüttelte den Kopf.
„Wir alle haben Timo hin und wieder die Pest an den Hals gewünscht“, fuhr er dann fort. „Aber den Tod ganz sicher nicht. Und ganz bestimmt nicht so.“
In Bennos Kopf ratterte es. Allmählich formte sich vor seinem geistigen Auge ein Szenario und die einzelnen Fakten schienen sich etwas besser zusammenzufügen.
„Wie heißen Sie?“, fragte er den jungen Mann.
„Sanjay. … Sanjay Elwert“, erwiderte der nach einem kurzen Zögern. „Ich … ich habe allerdings keine Papiere, die das beweisen würden.“
Fragend blickte Benno ihn an. Sanjay senkte den Kopf.
„Sergej hat uns allen die Ausweise abgenommen. Zur Sicherheit, hat er gesagt. Damit wir ihn nicht bescheißen und einfach abhauen.“
Benno horchte auf. War so was nicht gängige Praxis bei Zwangsprostitution?
„Inwiefern hätten Sie ihn denn – bescheißen sollen?“, hakte er nach.
Der Kopf des jungen Mannes sank noch tiefer.
„Wir sind doch alle nur hier, weil wir Schulden bei ihm haben. Die arbeiten wir ab und dann … lässt er uns hoffentlich gehen.“
„Schulden? Wofür?“
Die Antwort die er bekam, war nicht gänzlich unerwartet.
„Drogen“, kam es sehr leise. „Wir alle haben bei ihm Drogen gekauft und schulden ihm dafür Geld. Ich war dumm genug, ihm die Masche abzukaufen, dass er mein Freund ist und ich mir keine Sorgen machen soll, wenn ich was brauche, aber gerade nicht flüssig bin. Dass ich halt bezahlen soll, wenn ich wieder Geld habe.“ Er zuckte die Achseln. „Ich hab’ das Geld nur nie zusammenkratzen können, aber trotzdem immer weiter von ihm Drogen bekommen und irgendwann war es ein hoher vierstelliger Betrag, den ich ihm schuldete. Mittlerweile glaube ich, er macht das absichtlich so. Schließlich verdient er hier in diesem Club sehr viel mehr mit uns, als wenn er uns nur die Kohle abknöpft, die wir ihm schulden. Er wartet ab, lässt die Summen anwachsen und wenn es dann so viel geworden ist, dass man es unmöglich bezahlen kann, zeigt Sergej sein wahres Gesicht. Dann ist er plötzlich gar kein guter Kumpel mehr, sondern ein eiskaltes, skrupelloses Schwein. Mir hat er damit gedroht, wenn ich nicht mache, was er sagt, hält er sich an meine Familie. Meine Schwester wäre doch ein hübsches Mädchen, mit ihr würde er sicher viel Geld machen können, wenn er sie auf den Strich schickt. Also …“ Er verstummte.
„Also sind Sie auf seine Forderung eingegangen und haben sich stattdessen selbst hier prostituiert“, vervollständigte Benno den Satz für ihn.
Sanjay nickte mit hängendem Kopf.
„Er hat mich hergebracht, mir meinen Ausweis abgenommen und seitdem schaffe ich für ihn an. Und natürlich wird der Betrag, den man ihm schuldet erst mal nicht kleiner, weil er Miete verlangt und Geld für Essen und Trinken und ganz ohne Stoff hält man die Scheiße hier auf Dauer ja auch nicht aus.“
„Wie lange geht das jetzt schon so?“, wollte Benno wissen.
„Etwas über sechs Monate.“ Sanjay schniefte plötzlich. „Ich dachte wirklich, ich krieg’ das hin, schließlich hab’ ich schon hier und da mal für Kohle Sex gehabt, aber … ich kann das einfach nicht mehr. Ich … okay, ich bin schwul, das schon, aber … das ganze andere Zeug, dieses Schlagen und alles, das ist überhaupt nicht meins. Mag ja sein, dass es Typen gibt, die es anmacht, wenn man ihnen weh tut – Timo zum Beispiel, der war so drauf – aber ich … ich hasse das! Viele der Kerle, die hierher kommen und ihren Fetisch an uns ausleben, die macht es an, wenn sie merken, dass wir keinen Spaß an der Sache haben. Denen geht richtig einer ab, wenn wir uns wehren und darum betteln, dass sie aufhören sollen.“ Er schüttelte sich mit einer Miene des Ekels. „Aber ich muss es trotzdem über mich ergehen lassen, wegen meiner Schwester.“ Er sah hoch. „Sie ist der einzige Grund, warum ich trotz allem noch hier bin. Dass Sergej meinen Ausweis unter Verschluss hat, ist mir scheißegal, aber ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sich wirklich meine kleine Schwester schnappt und ihr dasselbe antut wie mir, wenn ich abhaue. Sie ist doch erst vierzehn!“
„Sie trauen ihm das zu?“, fragte Benno.
Im Grunde eine überflüssige Frage. Er selbst zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass Sergej Lukianenko nicht davor zurückschrecken würde, ein vierzehnjähriges Mädchen zu seinem eigenen, finanziellen Vorteil zur Prostitution zu zwingen. Wenn nicht Schlimmeres.
Sanjay nickte heftig.
„Absolut.“
Benno holte tief Atem.
„Wie kommt es, dass Sie mir das plötzlich alles erzählen? Bisher waren Sie und die anderen Mieter von Herrn Lukianenko sehr … nun ja, zurückhaltend, was Informationen über ihren Chef angeht.“
Der junge Mann zuckte die Achseln und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte.
„Wir haben alle Angst vor Sergej. Er ist nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel, wenn wer aus der Reihe tanzt. Jeder einzelne von uns hat Narben, die das beweisen. Aber ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr in Angst leben, verstehen Sie? Ich will endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen, ohne beim kleinsten Geräusch hellwach zu sein und mich zu fragen, ob gleich Sergej vor mir steht und mich für irgendwas bestraft. Und wenn ich weiter schweige, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, nun mal verdammt gering, oder nicht?“ 
„Sanjay? Was machst du hier?“
Hinter dem jungen Mann tauchte plötzlich eine der beiden jungen Frauen auf, die ebenfalls hier im Birkenhof wohnten. Sylvie hieß sie, wenn Benno sich richtig erinnerte und war angeblich als Kellnerin in Lukianenkos Etablissement angestellt.
Auch sie hatte bei der vorherigen Befragung sehr einsilbig geantwortet und behauptet, nichts zu wissen.
Jetzt wirkte sie jedoch alarmiert, näherte sich Sanjay rasch und fasste nach seinem Arm, während sie zwischen ihm und Benno hin und her schaute.
„Quatschst du etwa mit den Bullen? Bist du verrückt? Was glaubst du denn, was Sergej mit dir macht, wenn er das erfährt?“
Sie war blass und hatte eindeutig große Angst, was Bennos Wut auf den Clubbesitzer schlagartig wieder hochkochen ließ. Was hatte der Mistkerl mit diesen jungen Leuten angestellt, dass die in derartiger Furcht vor ihm lebten?
Er öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, doch Sanjay kam ihm zuvor. Der junge Mann packte die Hand der Frau und rupfte sie unsanft von seinem Arm.
„Also sollen wir lieber weiter in Angst leben, das Maul halten und uns ausnutzen lassen?“, fragte er, nicht weniger aufgebracht wie sie. „Hast du etwa schon vergessen, was diese drei Typen erst letztens mit dir gemacht haben? Findest du es echt besser, das alles einfach nur irgendwie auszuhalten und stillschweigend zu hoffen, dass das Arschloch sein Wort hält und uns gehen lässt, wenn unsere Schulden abbezahlt sind, oder was? Glaubst du ernsthaft, dass er das macht? Warum sollte er? Er hat uns doch in der Hand und außerdem weißt du selbst, dass er für Kohle über Leichen gehen würde! Auch über unsere!“
Die junge Frau starrte ihn an, sichtlich hin- und hergerissen, erwiderte aber nichts darauf.
„Sylvie! Denk’ doch mal logisch!“, beschwor Sanjay sie nun. „Nur, wenn wir den Bullen erzählen, was das Schwein mit uns gemacht hat, haben wir eine Chance, ihn loszuwerden. Willst du das denn nicht? Willst du lieber hier weiter vor dich hin vegetieren?“
Sie wich zurück und kaute auf ihrer Unterlippe, während sie den Blick senkte und die Arme um ihre Mitte schlang. Dieselbe Geste hatte Benno zuvor bei Sanjay bemerkt. Sie sprach für große Angst – aber vielleicht auch für wachsende Unsicherheit und die Hoffnung, ihr Leidensgenosse könnte mit seiner Einschätzung richtig liegen?
„Sanjay hat recht“, sagte er behutsam. „Wenn Sie uns helfen, werden wir Sie beschützen! Dann können Sie alle endlich hier weg und Lukianenko kommt für eine lange Zeit in den Knast. Das bedeutet, er kann Ihnen dann nichts mehr tun!“
Der Blick der jungen Frau flog zu ihm.
„Denken Sie das wirklich?“, fragte sie und schüttelte schnaubend den Kopf. „Sie haben ihn doch noch nicht mal geschnappt. Wie können Sie dann solche Versprechungen machen? So lange er frei ist, werden Sie von mir jedenfalls gar nichts erfahren.“ Sie blickte Sanjay erneut eindringlich an. „Und wenn du schlau bist, hältst du auch dein Maul.“
Damit wandte sie sich ab und stapfte hastig davon.
Benno schaute ihr nach, ebenso wie Sanjay, der mit einem Mal erneut unschlüssig wirkte. Würde er sich den Rat seiner Kollegin zu Herzen nehmen und seine Aussage nun wieder zurücknehmen?
Nach einem Moment straffte sich der junge Mann jedoch und wandte sich erneut Benno zu. Sein Ausdruck spiegelte grimmige Entschlossenheit.
„Was haben Sie da eben gemeint, als Sie davon gesprochen haben, was drei Typen mit ihr gemacht haben?“, wollte Benno wissen und machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in die Sylvie verschwunden war.
„Tut mir leid.“ Sanjay schüttelte den Kopf. „Aber das steht mir nicht zu, Ihnen das zu erzählen. Das muss sie wenn, dann selbst tun.“ Er seufzte. „Ich kann Sylvie ja verstehen“, sagte er dann. „Und ja, ich habe auch Angst. Eine Scheißangst sogar. Aber wenn keiner von uns den Mund aufmacht, hat Sergej gewonnen.“