14.
„M
ein Mandant hat sich – wie ich bemerken möchte gegen meinen ausdrücklichen Rat! – dazu entschieden, Ihre Fragen zu beantworten, Herr Kommissar“, erklärte Dr. Siegmund Dörbecker, der Anwalt von Sergej Lukianenko. „Ihm ist durchaus klar, dass ihm einige seiner Handlungen der letzten Zeit … nun, sagen wir – falsch ausgelegt werden könnten. Aber er ist entschlossen, seinen Leumund reinzuwaschen und will aus diesem Grund auch aussagen. Aus eigenem Antrieb!“
Benno hob die Brauen, tauschte einen raschen Blick mit seinem Partner und setzte sich, ohne etwas zu erwidern. Gruber tat das Nämliche und dann schlug Benno als Erstes die Akte auf, die er mitgebracht hatte. Wortlos entnahm er ihr ein Foto von Timo Marquardt und schob es über die Tischplatte zu Lukianenko hinüber.
Der warf einen Blick darauf und schüttelte mit einem theatralischen Seufzer den Kopf.
„Ein Jammer“, sagte er. „Ich hatte Timo wirklich gern, wissen Sie? Aber seine Eltern hatten ihn längst total verkorkst, als ich ihn traf. Ich hab’ ja ehrlich versucht, ihm zu helfen, das müssen Sie mir glauben, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr.“
„Ihm helfen?“, wiederholte Benno spöttisch. „Indem Sie ihm Drogen gegeben haben, oder was?“
Lukianenko blickte ihn ausdruckslos an.
„Er war schon längst abhängig, als wir uns begegnet sind. Und ein unfreiwilliger Entzug ohne Einsicht, führt niemals wirklich
zum Erfolg. Das sollten Sie doch wohl wissen, Herr Kommissar. Und er hatte nun mal keinerlei Interesse daran, clean zu werden. Andererseits konnte ich ihn da durchaus verstehen. Zumindest ein bisschen. Ich meine, was besaß der Junge denn, nachdem er von zuhause abgehauen war? Eine Reisetasche mit ein paar Klamotten und sonst nichts! Seine Alten weigerten sich, ihn finanziell zu unterstützen und er hatte weder einen Schulabschluss, noch einen Job. Er war praktisch mittellos und hatte auch sonst keinerlei echte Perspektive im Leben. Ich habe ihn dann bei mir aufgenommen, obwohl ich das nicht hätte tun müssen. Schließlich hatten wir zu dem Zeitpunkt lediglich eine sexuelle Beziehung. Trotzdem war ich so gutmütig und habe ihm ein Dach über dem Kopf angeboten. Ja, es stimmt, wir waren dann eine Zeitlang auch ein Paar, aber das kam erst später und hielt auch nicht lange.“ Er schüttelte erneut den Kopf und setzte eine bedauernde Miene auf.
„Mit Timo eine echte, dauerhafte Beziehung zu führen, war schlicht unmöglich“, fuhr er fort. „Er kam ja nicht mal mit sich selbst zurecht und im Laufe der Zeit wurde es nur schlimmer anstatt besser. Sein Drogenkonsum uferte allmählich aus und nachdem er mich dann mehrmals bestohlen hatte, blieb mir irgendwann einfach nichts anderes mehr übrig, als mich von ihm zu trennen“, sagte er. „Ich habe ihn allerdings nicht vor die Tür gesetzt, was ich vielleicht hätte tun sollen, wenn man genauer drüber nachdenkt. Es heißt ja, dass Drogensüchtige oft erst wirklich ganz unten ankommen müssen, damit sie die Notwendigkeit erkennen, etwas zu ändern. Aber ich bin eben zu weich, was solche Dinge angeht, man könnte schon fast sagen, sentimental, deswegen habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, verstehen Sie?“
Benno blickte dem Mann in die kalten grauen Augen und hätte fast gelacht. Lukianenko und sentimental? Ja, sicher …
„Und Sie haben ihn in der Zeit danach auch niemals misshandelt oder dazu gezwungen, sich zu prostituieren?“, hakte Benno nach.
Augenblicklich runzelte sein Gegenüber die Stirn.
„Wer behauptet das?“, fragte er. „Das ist totaler Schwachsinn! Komplett erstunken und erlogen! – Na schön, als ich ihm gesagt habe, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein kann, wurde es etwas … unschön und möglicherweise ist mir da auch mal die Hand ausgerutscht. Kann sein. Aber ich habe ihm nach unserer Trennung lediglich erlaubt
, vorerst auf dem Birkenhof wohnen zu bleiben und weiter im Club zu arbeiten. Er ist freiwillig geblieben, gezwungen habe ich ihn zu gar nichts!“
„Und ich nehme mal an, für Ihre übrigen Mitarbeiter gilt dasselbe, nicht wahr? Sie haben sie weder zur Prostitution gezwungen, noch ihnen in irgendeiner Weise gedroht.“ Benno lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Und ihre Ausweise haben Sie sicher auch nur bei sich verwahrt, damit sie nicht aus reiner Unachtsamkeit verlorengehen“, fügte er hinzu und schnaubte höhnisch. „Was sind Sie doch für ein Ausbund an Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft! Ich frage mich bloß, wieso Sie Timo Marquardt dann getötet haben?“
„Ich muss Sie bitten, dass Sie sich mit solchen unbewiesenen Anschuldigungen zurückhalten“, fuhr der Anwalt dazwischen, aber Lukianenko hob beschwichtigend die Hand.
„Lassen Sie nur“, sagte er. „Ich bin es mittlerweile gewohnt, missverstanden zu werden. Weil ich ein Etablissement führe, das bei sogenannten anständigen Bürgern als … anrüchig
gilt, muss ich natürlich auch ansonsten ein zwielichtiges Subjekt sein. Das ist mir nicht neu. Allerdings versichere ich Ihnen, meine Herren, dass ich Timo ganz gewiss nicht
getötet habe. Ich hatte doch gar keinen Grund, so was zu tun. Ich war längst anderweitig liiert und warum sonst hätte ich ausgerechnet Timo töten sollen? Und was die Personalpapiere meiner Mitarbeiter
angeht, haben Sie völlig recht, Herr Kommissar. Sie kommen allesamt von der Straße. Aus einem Milieu, das man zumindest als unkonventionell bezeichnen könnte. Und Ihnen brauche ich ja sicher nicht zu erläutern, zu welchen bürokratischen Problemen ein verlorengegangener Ausweis unter Umständen führen kann. Sie bei mir zu verwahren war ein Angebot von mir an meine Mitarbeiter und sie haben vollkommen freiwillig davon Gebrauch gemacht. Und weil ich bereits ahne, worauf Sie hinauswollen: Hätte einer von ihnen seinen Ausweis zurückverlangt oder den Birkenhof verlassen wollen, wäre das überhaupt kein Problem gewesen.“
Benno kochte innerlich. Dieser Kerl war so was von eiskalt! Er glaubte ihm kein einziges Wort, beherrschte sich jedoch, nahm stattdessen ein zweites Foto aus der Akte und schob es ebenfalls über den Tisch. Wieder warf Lukianenko nur einen kurzen Blick darauf. Dann verzog er das Gesicht zu einer Maske des Bedauerns und griff danach.
„Kuwilski“, sagte er. „Ich glaube, der Kerl war ehrlich in Timo verknallt. Ich wünschte nur, ich hätte es verhindern können.“
Nun war es an Benno, die Stirn zu runzeln.
„Verhindern? Wie meinen Sie das? Wovon sprechen Sie?“, wollte er wissen.
„Na, dass Timo ihn umbringt“, war die prompte Antwort.
Benno blieb fast die Spucke weg.
„Wie bitte? Sie behaupten ernsthaft, Timo hätte Roman Kuwilski umgebracht?“ Er konnte kaum glauben, was er da hörte. „Roman Kuwilski war ein großer, kräftiger Mann und Timo Marquardt ihm körperlich eindeutig unterlegen. Jemanden mit bloßen Händen zu erwürgen dauert mehrere Minuten und es braucht ziemlich viel Kraft dafür. Timo hätte das niemals geschafft“, widersprach Benno. „Sie dagegen …“
„Ich war überhaupt nicht im Zimmer, als es passierte“, unterbrach ihn Lukianenko. „Ich meine, ich war in der
Wohnung, ja, aber … ich war trotzdem nicht dabei.“ Er schnaufte und warf das Foto auf den Tisch.
„Wir hatten alle ziemlich viel getrunken“, fuhr er dann fort. „Timo und Kuwilski hatten außerdem beide ordentlich Stoff eingeworfen. Crystal, Koks und was weiß ich nicht noch alles. Timo war total drauf, aber Kuwilski hing schon ziemlich durch. Er war ja um einiges älter als Timo oder ich und auch nicht an harte Drogen gewöhnt. Nachdem Timo sich dann in der Sling von mir und seinem neuen Stecher gründlich hatte durchbumsen lassen, war er aber immer noch nicht zufrieden und verlangte, Kuwilski sollte gefälligst weitermachen. Der wollte nicht, meinte, er hätte erst mal genug. Es kam dann zum Streit zwischen den beiden und ich habe versucht, die Wogen zu glätten. Als ich dachte, Timo hätte sich wieder einigermaßen beruhigt, bin ich aufs Klo und hab’ mich anschließend ein bisschen frisch gemacht. Als ich aus dem Zimmer raus bin, lag Kuwilski auf dem Bett und Timo neben ihm. Sie hielten Händchen und ich dachte, es wäre jetzt alles in Ordnung, aber als ich nach einer Weile aus dem Bad zurückkam, hockte Timo quer über Kuwilski und hatte beide Hände um seine Kehle gelegt. Ich hab’ ihn natürlich sofort von dem Mann runtergezerrt, aber es war schon zu spät. Also hab’ ich mir Timo gekrallt und wir sind abgehauen.“
Benno hatte den Ausführungen des Mannes ungläubig gelauscht.
„Wieso haben Sie keine Hilfe gerufen? Den Rettungsdienst zum Beispiel?“, wollte er wissen.
„Herrgott! Ich stand in dem Moment total neben mir! Mit so was hatte ich doch nie im Leben gerechnet!“ Lukianenko schüttelte den Kopf und gestikulierte mit beiden Händen. „Ich hab’ Kuwilskis Puls gefühlt, und als ich begriffen habe, dass er tot war, wollte ich nur noch so schnell wie möglich da weg, verstehen Sie das nicht? Mann, ich hatte die totale Panik!“
Benno musterte ihn argwöhnisch. Sicher war es verständlich, wenn jemand in der geschilderten Situation panisch wurde, aber zum einen hielt er Lukianenko grundsätzlich für einen ziemlich abgebrühten Typen, zum anderen glaubte er nicht für eine Sekunde, dass Timo Marquardt tatsächlich Kuwilski erwürgt haben könnte. Er hielt es für wesentlich wahrscheinlicher, dass der Clubbesitzer die willkommene Gelegenheit nutzte, einen Toten als Sündenbock zu benutzen.
„So, so“, sagte er. „Panik haben Sie also bekommen.“
„Eine durchaus verständliche Reaktion unter den geschilderten Umständen, oder sehen Sie das etwa anders, Herr Kommissar?“, mischte sich Dr. Dörbecker erneut ein. Benno schüttelte bedächtig den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Gesetzt den Fall, das Ganze ist tatsächlich so abgelaufen. Andererseits scheint die Panik von Herrn Lukianenko aber doch nicht ganz so groß gewesen zu sein, wie er uns glauben machen will.“
Benno hielt den Zeitpunkt für gekommen, seinen neuesten Trumpf auszuspielen: die Bestätigung, dass es sich bei den in Zöllners Wohnung gefundenen Uhren mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich um die verschwundene Sammlung von Roman Kuwilski handelte.
„Wie meinen Sie das?“
Das Gesicht des Anwalts war ein einziges Fragezeichen.
„Nun, immerhin war er noch geistesgegenwärtig genug, die Uhrensammlung von Kuwilski mitgehen zu lassen, nicht wahr? Wie haben Sie Kuwilski eigentlich dazu gebracht, den Safe zu öffnen? Oder haben Sie das Timo überlassen?“
„Was denn für eine Uhrensammlung?“, fragte der Jurist und warf Lukianenko einen irritierten Blick zu.
„Ach? Hat Ihr Mandant etwa vergessen, das zu erwähnen?“ Benno hob spöttisch die Brauen. „Ich rede von einer Sammlung von Luxusuhren, die Herr Kuwilski bei sich zuhause
aufbewahrte. In einem Wandsafe. Gesamtwert schätzungsweise eine Viertelmillion Euro. Interessanterweise hat Ihr Mandant seinem aktuellen Liebhaber, in dessen Wohnung er sich bis zu seiner Verhaftung versteckt hielt, einige Luxusuhren übergeben, die er von seinem Großvater geerbt haben will. Angeblich hat er vorgehabt, sie zu Geld zu machen und zusammen mit seinem Freund das Land zu verlassen. Wir gehen allerdings stark davon aus, dass es sich um Kuwilskis Uhren handelt. Ein erster Abgleich mit einer Liste, die der Verstorbene besaß, legt diesen Schluss nahe und die Expertise eines Fachmannes wird das noch zweifelsfrei beweisen.“
Jetzt schien Lukianenko das erste Mal etwas verunsichert. Er hatte sich jedoch rasch wieder im Griff und widersprach heftig.
„Ja, okay, das sind die Uhren von diesem Kuwilski. Aber ich hab’ die nicht geklaut! Timo muss später noch mal in der Wohnung gewesen sein und sie geholt haben. Nachdem Sie das erste Mal auf dem Birkenhof waren, weil Sie nach ihm gesucht haben, bin ich in seiner Bude gewesen und hab mich umgesehen und da hab’ ich sie gefunden. In seinem Schrank, in einem Stoffbeutel.“ Er warf die Hände in die Luft. „Ja, mein Gott, ich gebe es zu, ich hab’ sie an mich genommen. Natürlich war das falsch, das weiß ich selbst. Aber meine Güte – diese Dinger sind schließlich ein Vermögen wert!“ Er zögerte. „Na gut“, sagte er dann und stieß den Atem aus. „Ich gebe es zu … ich habe Schulden. In fünfstelliger Höhe.“
Er blickte auf die Tischplatte und strich sich mit einer Hand durch die kurzen Haare. Die Geste sollte wohl Zerknirschung ausdrücken und sein Geständnis unterstreichen, wirkte auf Benno aber unecht.
„Mit dem Geld aus dem Verkauf der Uhren hätte ich alles auf einen Schlag abbezahlen können und sogar noch ordentlich was übrig behalten“, fügte Lukianenko hinzu. „Und damit wollte ich
wirklich einen Neuanfang machen. Zusammen mit Leon. – Ich nehme an, er hat Ihnen davon erzählt.“
„Hatte Timo also einen Schlüssel zu Kuwilskis Wohnung?“, fragte Benno, ohne weiter auf das Gehörte einzugehen. Lukianenko zuckte die Achseln.
„Scheint so“, meinte er. „Sonst hätte er die Uhren ja schließlich nicht rausholen können.“
„Und die Safekombination hat er demnach wohl auch gewusst“, stellte Gruber fest.
Er klang so ungläubig, wie Benno sich fühlte. Wieder ein Achselzucken.
„Keine Ahnung.“
„Kommen wir zu etwas anderem“, meinte Bennos Partner. „Wieso sind Sie überhaupt mit Timo zusammen zu Kuwilski gegangen?“
Offenbar hatte sich Lukianenko dafür bereits eine passende Antwort zurechtgelegt. Zumindest gab er sich nun wieder deutlich selbstsicherer, als bei der Frage nach der Uhrensammlung.
„Kuwilski hatte mich darum gebeten. Timo war devot veranlagt und ich bin schließlich sein letzter fester Dom gewesen. Im Grunde ging es nur darum, dass Kuwilski mich um Anleitung gebeten hat. Eine Art praktische Demonstration, wenn Sie so wollen. Eigentlich sollte ich nur zuschauen und vielleicht ein paar Tipps geben, aber das Ganze ist wohl doch etwas aus dem Ruder gelaufen. Es gab Sekt, Schnaps, dann waren sich Timo und Kuwilski noch allen möglichen anderen Kram ein und Timo wird … wurde
unter Drogeneinfluss nun mal schon immer verdammt rattig. Na ja, man könnte auch sagen unersättlich. Und ich bin eben auch nur ein Mann, verstehen Sie? Es ging also ziemlich wild zur Sache zwischen uns dreien. Danach bin ich dann aufs Klo … tja, und den Rest hab’ ich ja schon erzählt.“
Lukianenko lächelte entschuldigend und Benno hätte ihm dieses Lächeln am liebsten mit einem harten Schlag aus dem Gesicht gewischt.
„Das haben Sie, ja“, bestätigte er. „Sie haben sogar verdammt viel erzählt. Aber wenn ich ehrlich sein soll …“ Er beugte sich nach vorn und stützte seine Ellbogen auf die Tischplatte. „Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich Ihnen kein Wort von dem ganzen Quatsch, den Sie uns da aufzutischen versuchen! Timo Marquardt soll Kuwilski im Drogenrausch getötet haben?“ Er schnaubte. „Das ist Bullshit und das wissen Sie! Sie
haben ihn umgebracht! Genau wie Timo! Was war noch in dem Wandsafe? Geld? Wie viel? Wir wissen, dass Kuwilski Ihnen eine fünfstellige Ablösesumme für Timo bezahlen wollte! Und seine Frau hat uns erzählt, dass er immer dann, wenn er eine Anschaffung tätigen oder verreisen wollte, größere Summen in seiner Wohnung aufbewahrt hat. War es also nicht eher so, dass Sie zusammen mit Timo zu Kuwilski gefahren sind, um die Ablöse zu kassieren? Wie war denn der eigentliche Plan, hm? Wollten Sie Timo übergeben, das Geld nehmen und wieder gehen? Oder hatten Sie von Anfang an vor, Kuwilski zu bestehlen? Ist die ganze Sache dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen? Was ist passiert? Hat Kuwilski plötzlich nachverhandeln wollen und Sie sind sauer geworden? Oder was? Denn das ist ja wohl so ziemlich das Einzige an Ihrem Bericht, was wirklich stimmt: Sie haben
in der Tat Schulden! Und zwar bei Ihrem Drogenlieferanten! Der macht Ihnen Druck und deshalb brauchten Sie Geld, ist es nicht so? Und wie war das mit Timo? Ist er Ihnen einfach bloß lästig geworden? Weil er zu viel wusste? Haben Sie ihn losgeschickt, damit er versuchen sollte, die Uhren zu verkaufen? Oder hat er Sie vielleicht ein weiteres Mal beklaut? Hat er versucht, dadurch an Geld zu kommen, um verschwinden zu können? Hatten Sie Sorge, er würde Sie verpfeifen und haben ihn deshalb umgebracht?“
Benno hatte sich in Rage gearbeitet und war laut geworden. Als er geendet hatte, atmete er heftig.
Lukianenko saß ihm gegenüber, die Brauen finster zusammengezogen und starrte ihn wortlos an. Dr. Dörbecker dagegen war die personifizierte Empörung.
„Diese Unterstellungen sind ungeheuerlich!“, protestierte er. „Mein Mandant war bereit, seiner Bürgerpflicht nachzukommen und der Polizei bei der Aufklärung eines Verbrechens zu helfen! Wohlgemerkt ungeachtet der Tatsache, dass er sich dabei selbst belasten könnte! Er hat sogar zugegeben, die Uhrensammlung von Herrn Kuwilski an sich genommen zu haben, allerdings erst nach
dem Verschwinden von Timo Marquardt! Angesichts Ihrer soeben gezeigten Reaktion sehe ich mich nun genötigt, die Vernehmung an dieser Stelle fürs Erste abzubrechen. Mein Mandant wird vorerst keine weiteren Aussagen machen. Sofern Sie Beweise für seine Schuld haben, schlage ich vor, Sie überführen ihn in Untersuchungshaft. Falls nicht, sind wir hier fertig und ich werde Herrn Lukianenko nach Hause bringen.“
Auffordernd sah der Jurist die beiden Kommissare an, worauf Gruber sich plötzlich erhob und Benno am Arm packte.
„Komm mit“, murmelte er. „Wir müssen reden.“
„Was …? Aber …“
Ungeachtet Bennos Protest schleppte Gruber ihn mit sich vor die Tür des Vernehmungszimmers.
„Horst, was soll das? Ich war noch längst nicht fertig mit dem Kerl!“, beschwerte sich Benno.
„Doch. Warst du. Zumindest fürs Erste“, wies Gruber ihn zurecht. „Warst du!
“, bekräftigte er nochmals, als Benno den Mund aufmachte und widersprechen wollte. „Und jetzt holst du erst mal tief Luft, bevor du irgendwas sagst, was dir später leidtut.“
Verblüfft klappte Benno den Mund wieder zu und blinzelte.
„Nun sag’ mir bitte nicht, du glaubst dem Scheißkerl auch nur ein Wort von dem Müll, den er uns da aufgetischt hat!“, forderte er.
Seufzend schüttelte Gruber den Kopf.
„Tu’ ich nicht, nur leider hilft uns das nicht weiter.“ Ein weiterer, abgrundtiefer Seufzer folgte. „Der Typ ist aalglatt, aber eben auch verflucht clever. Er versucht, Timo den Mord an Kuwilski anzuhängen und da der sich nicht mehr selbst verteidigen kann, ist das sogar eine ziemlich schlaue Strategie. Wir haben keinerlei Beweise, die das Gegenteil belegen, nur Vermutungen und ein paar schwache Indizien. Indem er zugibt, in Kuwilskis Wohnung gewesen zu sein und sich, mit dem Kerl zusammen, mit Marquardt … na ja, vergnügt
zu haben, sind sämtliche DNA-Spuren, die wir in der Bude gesichert haben, hinreichend erklärt, ohne dass sie ihn eindeutig als Täter belasten. Es könnte
also tatsächlich alles so gewesen sein, wie er es erzählt hat. Die Aussagen von Lukianenkos Mitarbeitern sind durch nichts belegt, die zerpflückt ein Winkeladvokat wie dieser Dörbecker schon bei der ersten richterlichen Anhörung. Und beim Mord an Timo Marquardt ist es auch nicht anders. Es gibt keine Zeugen, das Wasser hat sämtliche Spuren, die vielleicht an der Leiche vorhanden gewesen sind, gründlich weggewaschen und wir haben absolut nichts, was Lukianenkos Schuld beweist. Nada!
“
„Also was? Lassen wir ihn einfach laufen?“, verlangte Benno zu wissen. „Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Mir schmeckt das ebenso wenig wie dir“, entgegnete sein Partner. „Aber du weißt so gut wie ich, dass der Staatsanwalt auf der Grundlage dessen, was wir haben, weder Anklage erheben, geschweige denn einer Untersuchungshaft zustimmen wird.“
Frustriert stieß Benno den Atem aus.
„Und was machen wir jetzt?“, wollte er wissen.
In einer Geste der Resignation hob Gruber die Schultern und ließ sie wieder fallen.
„Bis heute Abend können wir ihn noch festhalten, aber spätestens dann müssen wir ihn gehen lassen, das weißt du selbst. Es sei denn, wir hätten bis dahin irgendwelche stichhaltigen neuen Erkenntnisse.“
Benno knirschte mit den Zähnen.
„Na, dann lass’ uns mal ordentlich ranklotzen“, sagte er grimmig. „Wir müssen uns alles, was wir haben, noch mal gründlich vornehmen. Vielleicht haben wir ja irgendwas übersehen. Vor allem …“
„Vor allem“, unterbrach ihn Gruber, „sollten wir uns vielleicht mal im Umfeld von diesem Dr. Dörbecker umsehen.“
„Was? Wieso das denn?“, fragte Benno.
„Na, denk’ doch mal nach! Lukianenko hat Schulden in fünfstelliger Höhe, das hat er selbst eingeräumt. Wie kann er sich dann diesen Rechtsverdreher leisten, hm? Hast du eine Ahnung, was der für Stundensätze abrechnet?“
Gruber wölbte vielsagend die Brauen. Am liebsten hätte Benno sich selbst geohrfeigt. Natürlich! Wieso war ihm das nicht aufgefallen?
„Du meinst, Lukianenko hat womöglich irgendwelche Hintermänner, die ihn schützen? Eventuell seine Lieferanten? Hm.“ Er rieb sich das Kinn. „Könnte sein. Aber selbst wenn sich das bestätigt – inwiefern hilft uns das bei unserem Fall?“
Gruber zuckte die Achseln.
„Weiß ich noch nicht. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir ansonsten ziemlich auf dem Schlauch stehen, lohnt es sich, auch das zu überprüfen, meinst du nicht?“
Benno sah ihn stirnrunzelnd an, schließlich nickte er.
„Gehen wir’s an. Wir wollen schließlich alle beide nicht, dass das Arschloch uns eine lange Nase dreht und heute Abend einfach so hier rausspaziert.“