15.
V
ielleicht hätte er es nicht laut aussprechen sollen, überlegte Benno einige Stunden später.
Obwohl er und Gruber sich mit Feuereifer ins Zeug gelegt und sämtliches Material, das sie hatten, noch einmal akribisch durchgegangen waren, hatte sich der eine Hinweis, der dafür gesorgt hätte, dass sie Lukianenkos Schuld zweifelsfrei beweisen konnten, nicht gezeigt. Auch erneute Befragungen von Leon Zöllner, Sanjay Elwert und Johanna Lechner förderten nichts zutage. Und als der Tag sich dem Ende zuneigte, war klar, dass sie Sergej Lukianenko tatsächlich gehen lassen mussten. Bislang konnten sie ihm lediglich Hehlerei nachweisen und das war kein Haftgrund.
Natürlich hatten sie trotzdem Kontakt mit der Staatsanwaltschaft aufgenommen und versucht, eine weitere Inhaftierung Lukianenkos zu erreichen. Sie hatten argumentiert, die Sachlage sei nicht vollkommen klar und es bestünde außerdem höchste Fluchtgefahr, immerhin hatte der Verdächtige sich ja schon einmal einer Verhaftung entzogen. Doch ganz so, wie Gruber es vorhergesagt hatte, war es Lukianenkos Rechtsanwalt gelungen, sämtliche Argumente zu entkräften und eine sofortige Freilassung zu erwirken. Unter anderem mit der Zusicherung, dass sein Mandant sich selbstverständlich zur Verfügung halten werde und nicht im Traum daran denke, sich abzusetzen. Immerhin sei er ein gesetzestreuer Bürger – was bislang nicht eindeutig zu widerlegen war.
Die Hintergrundrecherche zu diesem Dr. Dörbecker hatte bisher auch noch nicht viel ergeben. Der Mann hatte im Lauf der letzten Jahre ein buntes Sammelsurium an Klienten gehabt, doch bisher war noch keiner auf ihrem Radar aufgetaucht, bei dem es in Bennos Kopf 'Klick' gemacht hätte. Allerdings dauerte die Recherche dazu noch an, denn natürlich war es ohne richterlichen Beschluss nicht so einfach, eine möglichst vollständige Liste der Mandanten des Herrn Anwalts zusammenzustellen.
Benno und Gruber hatten sich für dieses Vorgehen entschieden, weil sie sich darüber einig waren, vorerst möglichst wenig Staub aufzuwirbeln. Falls sie mit ihrem Verdacht richtig lagen und irgendwelche hochrangigen Hintermänner aus der Drogenszene die Finger im Spiel hatten, wollten sie sie nicht unnötig vorwarnen.
Sanjay nahm die Nachricht über Lukianenkos bevorstehende Freilassung zumindest äußerlich gefasst auf, beinahe so, als hätte er gar nichts anderes erwartet. Johanna Lechner dagegen war mehr als nur etwas entsetzt, als sie davon erfuhr. Die junge Frau wurde bleich, sackte in ihrem Stuhl zusammen und schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf.
„Aber … Sie haben doch gesagt, wenn ich Ihnen alles erzähle, sorgen Sie dafür, dass er in den Knast geht!“, sagte sie und es klang schrill. „Haben Sie eine Vorstellung davon, was dieses Mistschwein jetzt mit mir machen wird?“
„Es tut mir leid“, erwiderte Benno bedrückt. „Aber uns fehlen leider die nötigen Beweise.“
In ihm brodelte eine Mixtur aus Schuld, Wut und Scham, angesichts der unübersehbaren Angst der jungen Frau. Zwar wusste
er, dass er nichts dafür konnte, wenn der Staatsanwalt sich weigerte, offiziell Anklage gegen Lukianenko zu erheben und ihn länger in Gewahrsam zu halten, aber sein Bauchgefühl war nun mal ein anderes.
„Aber ich habe Ihnen doch alles gesagt, was ich weiß“, wandte Johanna Lechner erneut ein. „Reicht das denn noch nicht?“
„Mir und meinem Kollegen schon“, erklärte nun Gruber an Bennos Stelle. „Wir haben dem Staatsanwalt auch alles vorgelegt, was wir haben – nur leider ist ihm das nicht genug. Es steht Aussage gegen Aussage und wir haben nun mal nichts, was ohne jeden Zweifel beweist, dass es sich so verhält, wie Sie und Ihr Kollege ausgesagt haben. Wir glauben Ihnen ja“, versicherte er noch einmal. „Aber Glauben allein genügt eben nicht für einen Haftbefehl oder eine Anklage.“
Sie blickte ihn wortlos an, während sie die Hände in ihrem Schoß verkrampfte. Schließlich schüttelte sie den Kopf und sah zu Boden.
„Ich ziehe meine Aussage hiermit zurück“, sagte sie dann leise. „Nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, entspricht der Wahrheit. Ich habe mir das alles nur ausgedacht, um Sanjay zu helfen.“
„Frau Lechner …“, begann Benno, doch sie ließ ihn nicht ausreden, sondern stand abrupt von ihrem Stuhl auf.
„Ich hätte mich nie von Sanjay bequatschen lassen sollen“, meinte sie und um ihren Mund spielte ein bitteres Lächeln. „Ich wusste ja, dass er Sergej die Pest an den Hals wünscht und alles dafür tun würde, damit der endgültig von der Bildfläche verschwindet.“
Benno horchte auf.
„Wie meinen Sie das? Soll das etwa heißen, es war tatsächlich alles ganz anders?“, fragte er, erntete jedoch nur ein weiteres Kopfschütteln und einen beinahe schon feindselig zu nennenden Blick.
„Fragen Sie ihn selbst“, entgegnete sie kühl. „Von mir erfahren Sie überhaupt nichts mehr.“ Und dann: „Brauchen Sie mich hier noch? Falls nicht, würde ich nämlich gern gehen, damit ich
noch vor Sergej am Birkenhof bin. Vielleicht kann ich meine Siebensachen packen und verschwinden, bevor er da auftaucht.“
Benno tauschte einen kurzen Blick mit Gruber, dann nickte er.
„In Ordnung“, sagte er und kämpfte mit aufsteigender Übelkeit.
Vor seinem inneren Auge sah er wieder die Szene in der Kiesgrube, die Leiche, die aus dem Wasser gefischt worden war und mit blicklosen Augen gen Himmel starrte. Nur, dass diesmal nicht Timo Marquardt das Opfer war, sondern Johanna Lechner.
Er schüttelte das Bild ab, holte tief Atem und schaute der jungen Frau nach, wie sie das Büro verließ.
„Fuck“, murmelte er inbrünstig.
Er fühlte sich beschissen. Schon jetzt drohten ihn seine Schuldgefühle zu überwältigen und dabei war noch gar nichts passiert!
„Was, denkst du, hat sie damit gemeint, dass Sanjay alles tun würde, damit Sergej endgültig von der Bildfläche verschwindet?“, brachte sich sein Partner in Erinnerung.
Benno bedachte ihn mit einem resignierten Blick. Im Augenblick war ihm nicht nach Spekulationen. Jetzt gerade wollte er nur eines: nach Hause fahren, sich dort gepflegt volllaufen lassen und den ganzen Schlamassel wenigstens ein paar Stunden lang vergessen. Aber er wusste natürlich, dass das nicht so einfach sein würde. Er war zu sehr Bulle, um sich seinem schlechten Gewissen – ob es nun gerechtfertigt war oder nicht – entziehen zu können.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, sagte er und rieb sich über das Gesicht. „Wie Frau Lechner es so schön formuliert hat: Das wirst du ihn selbst fragen müssen. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass er noch hier ist, und wenn ich ganz und gar ehrlich sein soll glaube ich auch nicht, dass das jetzt noch irgendwas ändert. Heute jedenfalls nicht mehr.“