17.
B ist du jetzt vollkommen verrückt geworden, Benno?“ Gruber klang entsetzt. „Du ziehst deinen Freund in unsere Ermittlung mit rein? Einen Zivilisten? Was, wenn ihm was passiert?“
Benno schnaubte genervt. Ihm war selbst nicht wohl bei der Sache, aber seine eigenen Befürchtungen jetzt aus dem Mund seines Partners zu hören, machte es nicht besser.
„Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen, hm?“, konterte er.
„Dich, verdammt noch mal, ans Protokoll halten?“, rief Gruber. „Oder wenigstens mit mir sprechen, bevor du so eine Aktion lostrittst! Was denkst du, was Kremer dir erzählt, wenn er davon erfährt?“
„Hätte ich etwa riskieren sollen, dass die beiden Frauen untertauchen? Sie sind schließlich beide wichtige Zeuginnen in unserem Fall und ohne sie haben wir nicht die geringste Chance, diesen Lukianenko auch nur wegen Schwarzfahrens festzunageln!“, widersprach Benno.
Er saß am Steuer seines Wagens, raste über die spätabendlich leeren Straßen in Richtung von Leon Zöllners Adresse und sprach dabei in sein Handy, das er mit einer Hand ans Ohr gepresst hielt.
„Horst“, beschwor er seinen Partner, „Von mir aus kannst du mir eine Dienstaufsichtsbeschwerde anhängen, wenn das alles vorbei ist, das ist mir so was von scheißegal, aber jetzt müssen wir erst mal Sanjay Elwert finden! Wenn Sylvie Metzinger die Wahrheit gesagt hat, ist er mit einer Schusswaffe unterwegs und plant, Lukianenko abzuknallen! Das müssen wir unbedingt verhindern!“
„Selbstverständlich müssen wir das“, erwiderte Gruber. „Aber ganz bestimmt nicht mit noch so einer Wildwest-Nummer! Wo bist du? Ich nehme mal an, schon unterwegs?“
„Ich sollte in spätestens fünf Minuten da sein“, erklärte Benno.
„Gut. Ich versetze die Kollegen in Alarmbereitschaft, du siehst nach, wie vor Ort die Lage ist. Aber wenn Lukianenko oder dieser Elwert oder alle beide wirklich da sind, dann halt’ dich zurück, hörst du? Gib’ uns einen Lagebericht durch und wenn nötig, sind wir in ein paar Minuten bei dir! Hast du mich verstanden?“
Grubers Tonfall war eindringlich und Benno rollte mit den Augen.
„Ja, Papa“, sagte er. „Horst, ich bin kein Frischling mehr, okay?“
„Sicher? Man könnte es bezweifeln, nach dem kapitalen Bock, den du da gerade geschossen hast. – Egal, darüber reden wir später. Ich informiere jetzt das Präsidium.“
Sie beendeten ihr Gespräch und Benno bog in die Straße ein, wo Leon Zöllner wohnte. Aufmerksam schaute er sich um, ob irgendwas Verdächtiges zu sehen war, entdeckte aber nichts. Also stellte er seinen Wagen in einer Parklücke am Straßenrand ab, vergewisserte sich noch einmal, dass seine Dienstwaffe griffbereit im Holster unter seiner Jacke steckte und stieg aus.
Nachdem er sein Fahrzeug verriegelt hatte, blickte er sich erneut um und ließ den Blick vor allem über sämtliche düsteren Schatten wandern. Hauseingänge, Einfahrten, die Schwärze, wo hohe Hecken das Licht der Straßenlaternen verschluckten. Davon gab es für seinen Geschmack eindeutig viel zu viele hier. Es rührte sich jedoch nichts, also machte er sich auf den Weg zu dem mehrstöckigen Mietshaus, in dem Leon Zöllner wohnte.
Ein Ziegelbau, weder besonders gepflegt, noch auffallend heruntergekommen, lediglich ein paar grobe Graffitis an der Hauswand wiesen darauf hin, dass die Wohngegend nicht zu den besten der Stadt gehörte. Hier lebten einfache Leute, junge Familien mit wenig Geld, Rentner und auch ein paar Asylanten, wie Benno wusste. Ein Brennpunkt war das Viertel aber nicht, ganz im Gegenteil war es eines der ruhigeren und die Bewohner wussten das ebenso zu schätzen, wie die erschwinglichen Mieten. Dafür nahmen sie auch in Kauf, dass rein optisch durchaus Verbesserungsbedarf bestand.
Nach allen Seiten horchend und sich immer wieder umschauend, ging Benno auf die Haustür zu, drückte probeweise dagegen, fand sie jedoch verschlossen. Zahlreiche Klingeln waren daneben angebracht und es dauerte einen Augenblick, bis er ein Schildchen mit dem Aufdruck „L. Zöllner“ daran in der untersten Reihe ausgemacht hatte. Benno drückte auf den zugehörigen Knopf, doch es rührte sich nichts.
Vielleicht war der Kleine ja auch gar nicht zuhause? Die Möglichkeit hatte er bisher noch nicht bedacht.
Benno klingelte noch einmal. Wieder rührte sich eine ganze Weile nichts und eigentlich wollte er schon fast wieder gehen, als es plötzlich doch noch im Lautsprecher knackte.
„Hal …lo?“
Unverkennbar die Stimme von Leon Zöllner, aber irgendwie klang schon dieses eine Wort verdammt merkwürdig, oder? So, als wäre der junge Mann betrunken, oder vielleicht …
Bei Benno schrillten sämtliche inneren Alarmglocken.
„Herr Zöllner?“, fragte er. „Hier ist Benno Hagemann von der Kripo. Darf ich reinkommen? Es gibt da noch etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen muss.“
Stille antwortete ihm.
„Herr Zöllner?“
„Hel … Helfen Sie mir!“
Plötzlich drang ein erstickter Laut aus dem Lautsprecher, dann knackte es noch einmal und die Leitung war tot.
„Verdammt!“
Benno drückte erneut auf den Klingelknopf, warf sich gegen die Tür, aber natürlich öffnete sie sich davon nicht. Einer Eingebung folgend legte er als Nächstes die komplette Handfläche einmal quer über sämtliche Klingeln, in der Hoffnung, dass irgendwer einfach den Türöffner betätigen würde, ohne vorher zu fragen und richtig – es dauerte elend lange Sekunden, bis es schnarrte, doch dann gelangte er endlich nach drinnen.
Der Position der Klingel nach zu urteilen, wohnte Leon Zöllner wohl im Erdgeschoss, deshalb pirschte er sich, mit gezogener Dienstwaffe, so schnell wie möglich durch den düsteren Hausflur. Glücklicherweise gab es offenbar keinen Bewegungsmelder, der die Beleuchtung eingeschaltet hätte, sondern lediglich eine schwache Notbeleuchtung. Benno lauschte aufmerksam, ob von irgendwo her verdächtige Geräusche zu hören waren, ehe er sich der ersten Wohnungstür näherte.
Der Name der daran stand, war der falsche, an der zweiten wurde er ebenfalls nicht fündig.
Benno fluchte, weil er mehr und mehr das Gefühl hatte, die Zeit liefe ihm davon. Leon Zöllner war womöglich nicht allein in seiner Wohnung. Es war nicht klar, ob er sich in akuter Gefahr befand, Benno musste jedoch davon ausgehen. Die undeutliche Sprechweise des jungen Mann, halb erstickt und ein wenig so, als hätte er eine Wollsocke im Mund, das konnte natürlich alles Mögliche bedeuten. Aber Benno war sich sicher, dass die Erklärung alles andere als harmlos war und ihn stattdessen jemand geschlagen hatte. Heftig geschlagen. Und da kam in Anbetracht der Lage ja eigentlich nur Sergej Lukianenko als Täter infrage.
Sanjay Elwert war wütend auf den Russen, nicht auf Zöllner, also warum sollte er den Jungen verprügeln?
An der dritten Tür stand endlich Leon Zöllners Name. Benno presste sein Ohr ans Holz des Türblatts und horchte angestrengt, hörte aber rein gar nichts. Er schellte.
Drinnen rührte sich nichts, also schellte er noch einmal. Länger diesmal.
„Herr Zöllner?“, rief er schließlich halblaut und klopfte.
Auch das wiederholte er und legte beim zweiten Mal etwas mehr Nachdruck in sein Klopfen.
„Sind Sie da? Ist alles in Ordnung? Herr Zöllner? Machen Sie auf!“
Endlich erklang ein leises Klirren, so als würde ein Schlüssel gedreht und gleich darauf öffnete sich die Wohnungstür.
„Großer Gott“, entfuhr es Benno erschrocken, als er Leon Zöllners Gesicht ungefähr in Hüfthöhe entdeckte. Reflexartig zog er die Pistole. Der junge Mann lag halb auf den Knien vor ihm am Boden und sah einfach nur schrecklich aus. Das linke Auge war bloß noch ein schmaler Schlitz inmitten einer hässlichen purpurfarbenen Schwellung. Die Braue darüber war aufgeplatzt und Blut von da aus über die gesamte linke Gesichtshälfte geflossen. Die andere Seite wirkte kaum weniger entstellt. Die rechte Schläfe des jungen Mannes zierte ein dunkler Bluterguss, die Wange war aufgeschürft und blutete, ebenso wie der Mund. Auch aus den Nasenlöchern flossen dunkle Rinnsale.
Leon Zöllner war nackt, auf seiner schmalen blassen Brust leuchteten mehrere rote Brandmale. Benno vermutete brennende Zigaretten als Ursache. Zöllner kniete derweil noch immer am Boden und presste dabei beide Hände vor sein Geschlecht.
„War das Lukianenko?“, fragte Benno leise. Er blickte sich in der Wohnung um, so weit wie er sie von der Tür aus einsehen konnte und behielt seine Waffe dabei im Anschlag.
Zöllner wimmerte leise und nickte schwach. Er wirkte, als würde er jeden Augenblick endgültig zusammenbrechen, was in Anbetracht seines desolaten Zustandes beileibe kein Wunder war.
„Ist er noch hier?“
Ein Kopfschütteln.
„Er … Weg“, hauchte der junge Mann und sein Oberkörper schwankte bedenklich.
Rasch steckte Benno die Pistole hinten in seinen Hosenbund, bückte sich dann und fasste Zöllner um die Taille. Er bemühte sich, dem Kleinen auf die Füße zu helfen, doch der krümmte sich ruckartig zusammen, kaum dass die Bewegung seinen Körper etwas mehr streckte und stieß einen Schmerzensschrei aus. Dabei presste er die Hände noch fester auf sein Glied.
Was zur Hölle hatte Lukianenko bloß alles mit dem armen Kerl angestellt?
Benno stieß die Tür hinter sich mit einem Fußtritt zu und schleifte Zöllner dann langsam und möglichst vorsichtig durch den kurzen Wohnungsflur.
„Wohin?“, fragte er. „Ins Schlafzimmer?“
Ein heftiges Kopfschütteln war die Antwort, dann deutete der junge Mann flüchtig geradeaus.
„Wo … Wohnzimmer“, keuchte er, mit einer Hand noch immer zwischen seinen Beinen. „Sofa.“
„Okay.“
Im Wohnzimmer angelangt, bugsierte Benno ihn auf das Sofa und half ihm, eine einigermaßen bequeme Lage zu finden, ehe er sich kurz im Raum umblickte. Alles wirkte ziemlich normal, abgesehen davon, dass das einzige Fenster weit offenstand. Während er sein Handy hervorzog, warf Benno rasch einen Blick nach draußen. Er entdeckte einen Hinterhof mit mehreren Mülltonnen und einigen abgestellten Autos, sonst war nichts Auffälliges zu sehen.
Als Erstes wählte er den Notruf und forderte den Rettungsdienst an, dann wählte er Grubers Nummer.
„Und? Wie sieht’s aus?“, meldete der sich nach dem zweiten Klingeln.
„Beschissen wäre geprahlt“, erwiderte Benno. „Allem Anschein nach war Lukianenko tatsächlich hier. Er hat den Kleinen ziemlich übel zugerichtet. Er lebt, aber ich hab’ den Rettungsdienst für ihn angefordert. Es sieht wirklich schlimm aus.“
„Scheiße“, sagte Gruber. „Aber wenn du sagst, er war dort, dann heißt das vermutlich, er ist weg, richtig?“
„Richtig. Er scheint durchs Fenster abgehauen zu sein. Wahrscheinlich als ich gekommen bin. Möglicherweise hält er sich noch irgendwo in der Nähe auf, aber ich glaube es eigentlich nicht. Am besten, du lässt ihn gleich zur Fahndung ausschreiben und kommst dann selbst her. Ein Team von der SpuSi wäre sicher auch nicht schlecht.“
Ein schmerzerfülltes Stöhnen lenkte Bennos Aufmerksamkeit wieder zurück auf Leon Zöllner.
„Ich muss Schluss machen“, sagte er.
„Okay“, erwiderte sein Partner. „Ich leite alles in die Wege und komme rüber. Bis gleich.“
Benno steckte das Handy ein und ging zum Sofa.
„Kann ich irgendwas für Sie tun?“, fragte er den jungen Mann.
Doch der reagierte gar nicht, sondern hatte den Kopf etwas angehoben, um offenbar einen Blick zwischen seine eigenen Beine zu werfen. Sehr langsam löste er die Finger von seinem Schambereich und Benno sog entsetzt die Luft ein, als er sah, was ihm bislang verborgen geblieben war.
„Ach, du Scheiße“, entfuhr es ihm.
Was auch immer Lukianenko mit Zöllners Gesicht und Körper angestellt hatte, verblasste vor diesem Zeugnis brutaler Gewalt. Auf den ersten Blick sah es aus, als trüge Leon Zöllner einen Ball zwischen den Schenkeln. Einen dunkelroten Ball mit einem blau unterlaufenen Anhängsel.
Beide Hoden waren so stark angeschwollen, dass die Haut regelrecht glänzte und auch der Penis war in Mitleidenschaft gezogen worden. Das musste doch geradezu höllisch wehtun! Ein Wunder, dass der junge Mann noch nicht vor Schmerz ohnmächtig geworden war!
Eis! , schoss es Benno durch den Kopf.
Er drehte sich auf dem Absatz um, suchte die Küche und öffnete den Kühlschrank. Im Gefrierfach fand er tatsächlich einen Eiswürfelbehälter, der etwa zur Hälfte gefüllt war, riss ein Geschirrtuch vom nächsten Haken und kippte das Eis mit Schwung hinein. Das Ganze zu einem Paket zusammendrehend, hastete er dann zurück ins Wohnzimmer und näherte sich erneut dem Sofa. Zöllner schaute ängstlich aus einem Auge zu ihm auf.
„Was …?“, formulierte er mühsam und unter Zähneklappern.
Logisch. Dank des offenen Fensters war es eiskalt im Raum, der Junge war nackt und sicher stand er auch unter Schock.
„Das kann jetzt etwas wehtun“, sagte Benno und zeigte ihm das Bündel, das er in der Hand hielt.
„Was …?“ , kam es erneut von Zöllner.
„Eis. Zum Kühlen“, erläuterte Benno. „Damit es nicht mehr so schmerzt.“
Er deutete auf die Körpermitte des Liegenden, beugte sich dann hinunter und platzierte so vorsichtig wie möglich das improvisierte Kühlpack über den geschwollenen Hoden. Zöllner quittierte es mit einem leisen Wimmern, wehrte sich jedoch nicht. Als Nächstes schnappte Benno sich eine Wolldecke, die über der Rückenlehne des Sofas hing und deckte den jungen Mann damit zu. Zuletzt schloss er das Fenster und drehte die Heizung höher.
Während er das tat, hörte er Martinshorn und atmete erleichtert auf.
„Der Krankenwagen kommt“, informierte er Leon Zöllner, doch der hatte jetzt die Augen geschlossen und Benno war sich nicht sicher, ob er ihn überhaupt noch hörte.