18.
A lso? Was war hier los?“, wollte Gruber wissen, kaum dass er das Wohnzimmer von Leon Zöllners Wohnung betreten hatte. Seine Miene war finster und es war eindeutig, dass er Bennos Vorgehensweise noch immer missbilligte. Er warf einen raschen Blick auf Zöllner, den der Rettungsdienst mittlerweile auf eine Trage umgebettet hatte und dessen Gesichtsfarbe sich kaum von dem Weiß des Lakens abhob, welches die Männer, zusammen mit einer Rettungsdecke aus goldfarbener Folie, über ihn gebreitet hatte. In seiner Armvene steckte eine Kanüle, an welcher eine Infusion angeschlossen war und über welche die anwesende Notärztin ihm bereits verschiedene Medikamente gespritzt hatte.
Benno hoffte von ganzem Herzen für den armen Kerl, dass auch ein Schmerzmittel darunter gewesen war, doch angesichts der Tatsache, dass Zöllner nun ruhig und mit geschlossenen Augen dalag, hielt er es für recht wahrscheinlich.
Grubers Gesicht verfinsterte sich noch weiter, als er Zöllners zerschlagenes Gesicht sah, dann gesellte er sich zu Benno, der die Bemühungen des Rettungsdienstes stumm beobachtet hatte. Jetzt wandte er sich jedoch seinem Partner zu und zuckte mit grimmiger Miene die Achseln.
„Nach was sieht’s denn für dich aus?“, fragte er ironisch. „Lukianenko war hier und hat sich allem Anschein nach bei seinem Lover für dessen Aussage bedankt. Wer weiß, was er noch mit ihm gemacht hätte, wenn ich nicht aufgetaucht wäre und ihn unterbrochen hätte.“
„Schöne Scheiße“, konstatierte Gruber.
„Das kannst du allerdings laut sagen.“ Benno verschränkte die Arme und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Trage.
„Und was du da sehen kannst, ist noch längst nicht alles. Ich weiß nicht, was dieses Dreckschwein genau gemacht hat, aber die Eier von dem Kleinen sehen aus, als hätte er sie mit einem Baseballschläger bearbeitet.“
Ein Kollege vom Team der Spurensicherung erschien in diesem Augenblick auf der Türschwelle und machte auf sich aufmerksam.
„Können wir hier loslegen?“, fragte er, doch Gruber bedeutete ihm, noch zu warten.
„Lasst erst mal den Rettungsdienst seine Arbeit machen und den Jungen mitnehmen. Ihr könnt ja inzwischen in den übrigen Räumen anfangen.“
„Geht klar.“
Der Mann im weißen Overall nickte und verschwand wieder.
Benno und Gruber sahen zu, wie die Notärztin den beiden Rettungsassistenten das Kommando zum Abtransport des Verletzten gab. Anschließend kam sie zu den Kommissaren herüber und schüttelte dabei mit ernstem Gesicht den Kopf.
„Also, ich hab’ ja wirklich schon vieles gesehen, auch deutlich schlimmere Verletzungen, nach Unfällen oder so“, sagte er. „Aber eine derartige Brutalität erschreckt mich dann doch immer wieder. Dass Menschen zu so was fähig sind …?“
Sie blickte seufzend der Trage hinterher, ehe er sich erneut Benno und Gruber zuwandte.
„Hat er außer dem, was äußerlich sichtbar ist, noch mehr Verletzungen? Innere Blutungen oder so?“, wollte Ersterer wissen.
Die Ärztin schüttelte den Kopf.
„Sieht nicht so aus. Wer auch immer das gewesen ist, wollte ihn offenbar nicht zwingend umbringen, ihm aber zumindest maximale Schmerzen zufügen. Und das dürfte ihm auch gelungen sein. Hoffen wir, dass seine Testikel keinen irreparablen Schaden davongetragen haben“, erwiderte sie.
Die Kommissare nickten synchron.
„Danke. Wohin bringen Sie ihn?“, wollte Gruber abschließend wissen.
„Uniklinik“, entgegnete die Medizinerin knapp, während sie schon dabei war, sich umzudrehen und den Männern mit der Trage zu folgen. „Da ist er mit dem Verletzungsbild am besten aufgehoben.“
Benno atmete tief durch.
„Was für eine riesige Scheiße“, murmelte er.
„Oh ja. Allerdings!“, bestätigte Gruber und runzelte die Stirn. „Hat der Junge noch irgendwas zu dir gesagt, was uns irgendwie weiterhelfen könnte?“, fragte er dann.
„Nicht wirklich. Der war völlig am Ende. Ich hab’ Lukianenko auch nicht selbst gesehen, aber so wie die Lage sich darstellte, nehme ich an, dass ich ihn gestört habe und er durchs Fenster abgehauen ist. Genaueres muss Zöllner uns erzählen, wenn er wieder ansprechbar ist.“ 
„Aber du bist dir sicher, dass er hier war?“, hakte Gruber nach.
„Ja. Schon. Zumindest hat Zöllner es so gesagt, als ich ihn gefragt habe, wer ihm das angetan hat.“
„Okay. Dann lass’ uns hoffen, dass wir diesmal mit der Fahndung nach ihm genauso viel Glück haben, wie beim ersten Mal. – Hast du schon irgendwas von Dennis gehört?“, fragte er dann.
„Nein, noch nicht.“
Benno schüttelte den Kopf, fischte aber gleichzeitig nach seinem Handy.
Er hatte, während er auf Gruber gewartet hatte, bereits einmal versucht, seinen Freund zu erreichen, war jedoch auf dessen Mailbox gelandet. Weil er wusste, dass Dennis während er am Steuer saß, niemals an sein Telefon ging, hatte er sich deswegen keine großen Sorgen gemacht. Trotzdem hielt er es für angezeigt, ihm zumindest eine Warnung zukommen zu lassen. Immerhin war es nicht völlig unwahrscheinlich, dass Lukianenko sich nun auf dem Weg zum Birkenhof befand.
„Ich sage ihm Bescheid, dass er sich beeilen soll“, erklärte Benno und tippte auf die Kurzwahl für das Handy seines Freundes.
Es klingelte, einmal, zwei Mal, vier Mal und dann war plötzlich tatsächlich Dennis am anderen Ende.
„Benno?“ Seine Stimme klang gedämpft, so als bemühte er sich, leise zu sprechen. „Wo bist du?“
Augenblicklich stellten sich Bennos Nackenhaare auf.
„Was ist los?“, fragte er.
„Er ist hier“, erwiderte sein Freund. „Dieser Russe. Aber er ist nicht allein. Ein Typ mit einer Schusswaffe ist bei ihm. Für mich hat es so ausgesehen, als würde er ihn bedrohen.“
In Bennos Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ein Typ mit einer Schusswaffe, der Lukianenko bedrohte? Das musste dann wohl Sanjay Elwert sein, oder?
„Wo bist du? Sind die Frauen bei dir?“, wollte er wissen.
„Ja, die sind beide hier bei mir“, bestätigte Dennis, immer noch flüsternd. „Als wir die Typen kommen sahen, sind wir auf den Heuboden geklettert. Die sind allerdings inzwischen auch hier – ich meine unten, also – unter uns in der Scheune. Keine Ahnung, was die da genau treiben, im Moment diskutieren sie hauptsächlich. Bis jetzt haben sie uns zum Glück nicht bemerkt. Aber es wäre trotzdem toll, wenn du die Kavallerie losschicken könntest.“
„Wir sind schon unterwegs“, erwiderte Benno, während er sich bereits in Bewegung setzte.
Er sprintete regelrecht in die Küche, wo er, wie erhofft, auf Gruber traf.
„Lukianenko ist auf dem Birkenhof und Elwert auch. Samt Schusswaffe“, platzte er heraus. „Wir müssen sofort da hin, bevor was passiert.“
„Scheiße! Was ist mit Dennis? Geht’s ihm gut?“
Noch während er redete, waren Gruber und Benno bereits auf dem Weg zur Wohnungstür.
„Ja. Er und die Frauen haben sich in der Scheune auf dem Heuboden versteckt. Bis jetzt haben Elwert und Lukianenko sie offenbar nicht bemerkt.“
Benno erreichte seinen Wagen als Erster, riss die Tür auf und warf sich hinein. Hastig stieß er den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Motor. Gruber sprang auf der Beifahrerseite ins Fahrzeug und während Benno noch aus der Parklücke scherte und mit quietschenden Reifen einen Kavalierstart hinlegte, telefonierte Gruber bereits mit dem Präsidium, um die notwendigen Maßnahmen einzuleiten und zu koordinieren.
„Ja, genau“, hörte Benno ihn sagen. „Die beiden Verdächtigen befinden sich draußen auf dem Birkenhof und mindestens einer davon hat eine Schusswaffe dabei. Insgesamt befinden sich fünf Personen in der Scheune, drei davon sind unbeteiligte Zivilisten, die sich nach unseren Informationen auf dem Heuboden versteckt halten. Deren Sicherheit hat oberste Priorität, verstanden? Auch deshalb die Anfahrt auf jeden Fall erst mal ohne Signal und möglichst unauffällig. Schalten Sie die Scheinwerfer aus, wenn Sie sich dem Hof nähern, damit die Verdächtigen nicht schon vom weitem gewarnt sind. Wir nicht wissen nicht, wie sie darauf reagieren würden, wenn plötzlich ein SEK-Team auftaucht. Und vor allem muss unbedingt vermieden werden, dass Lukianenko und Elwert die drei Zivilisten entdecken, also bleiben Sie vorerst in Deckung und sprechen Sie jeden weiteren Schritt zuerst mit uns ab.“
Anschließend schien er der Antwort seines Gesprächspartners zu lauschen.
„Ich bin selbst in Begleitung von Kommissar Hagemann auf dem Weg zum Birkenhof“, sagte er dann. „Schätzungsweise werden wir in ungefähr fünfzehn Minuten vor Ort eintreffen. Peilen Sie bis dahin schon mal vorsichtig die Lage und bleiben Sie für uns auf Empfang. Sichern Sie das Areal aber vorerst nur weiträumig ab und vergewissern sie sich auch, dass keine weiteren Personen irgendwo in einem der umliegenden Gebäude sind. Wie bereits gesagt hat die Sicherheit der Zivilisten in diesem Fall alleroberste Priorität! Lukianenko ist skrupellos und gefährlich, und was den Mann mit der Waffe angeht, besteht Grund zu der Annahme, dass er zu allem entschlossen ist. Mit anderen Worten: unberechenbar!“
Noch einmal hörte er kurz zu, dann nickte er knapp und beschloss das Gespräch mit den Worten: „Alles klar. Bis gleich.“
Inzwischen hatte Benno den Stadtrand erreicht und raste über die schmale, um diese Tageszeit vollkommen leere Landstraße in Richtung Birkenhof. Das Herz schlug ihm bis zum Hals bei dem Gedanken, was sich dort draußen womöglich gerade in diesem Moment abspielen mochte. Hätte er Dennis doch bloß nicht dort hingeschickt!
Aber jetzt war es zu spät für Reue, was nun noch blieb, war – hoffentlich! – Schadensabwehr oder zumindest -begrenzung.
Sein Partner sagte während der gesamten Fahrt kein Wort. Erst als sie in die mehrere Kilometer lange, noch schmalere Zufahrt zum Birkenhof einbogen, brach er sein Schweigen.
„Dennis passiert schon nichts.“
„Woher willst du das wissen?“, fauchte Benno ihn an, entschuldigte sich aber sofort. „Tut mir leid. Das … war unangebracht.“ Er stieß den Atem aus. „Es ist nur … Wenn ihm was zustößt, dann … dann ist das allein meine Schuld! Das wäre …“
Er brach ab, doch Gruber nickte.
„Schon klar.“
Danach schwiegen sie wieder beide minutenlang. Als sie sich der Hofreite näherten, schaltete Benno die Scheinwerfer seines Wagens aus und wurde langsamer. In einer Entfernung von vielleicht hundert Metern vor den Gebäuden stellten sie das Auto endgültig ab und stiegen aus. Offenbar waren sie vor dem SEK-Team eingetroffen, denn nirgends war eine Spur von zusätzlichen Einsatzkräften oder Fahrzeugen zu sehen.
Mit gezogenen Dienstwaffen pirschten sie sich näher heran, konnten aber zunächst nichts Verdächtiges wahrnehmen. Nachdem sie den eigentlichen Hof erreicht hatten, hielten sie sich nah an der Wand, im Schatten des ersten Gebäudes, Benno vorneweg, Gruber dicht hinter ihm. Der gepflasterte Innenhof war leer bis auf ein einzelnes Fahrzeug – den silbernen Mercedes, der schon bei ihrem allerersten Besuch dort geparkt hatte und von dem sie inzwischen wussten, dass er Lukianenko gehörte.
Benno spähte aufmerksam in sämtliche Richtungen, doch alles schien ruhig. Eine einzelne Lampe über der Haustür des Wohngebäudes spendete nur wenig Helligkeit, sodass es viele finstere Ecken gab, die einer Person, oder sogar mehreren, Deckung bieten konnten.
„Siehst du irgendwas?“, wisperte Gruber hinter ihm.
„Nein. Nichts“, gab Benno ebenso leise zurück.
Er deutete nach vorn.
„Wenn sie in der Scheune sind, dann müssten sie dort drüben sein. In dem Gebäude da.“
Wie um seine Vermutung zu bestätigen, ertönte plötzlich lautes Geschrei, gleich darauf wüstes Gepolter und schließlich zwei Schüsse, kurz hintereinander. Anschließend senkte sich wieder tiefe Stille über das Gelände.
Einen Sekundenbruchteil standen Benno und Gruber wie erstarrt, dann rannten sie beide los. Benno war als Erster bei dem großen Scheunentor. Es war geschlossen, doch die kleinere Tür, die in den rechten Torflügel eingefügt war, stand weit offen.
Er presste sich mit dem Rücken an das Holztor neben der Türöffnung, ehe er einen raschen Blick riskierte. Er konnte jedoch nicht wirklich viel erkennen. Im Inneren der Scheune herrschte Schwärze, die plötzlich von einem flackernden, gelblichen Schein erhellt wurde.
Moment! Flackernd und gelblich? Feuer?
Noch einmal spähte Benno nach drinnen, länger diesmal und erblickte eine große Gestalt, die sich nach vorn beugte und etwas aufzuheben schien, während dahinter, in einem Strohhaufen am Boden, ein paar kleine Flämmchen züngelten. War das Sanjay? Oder Lukianenko?
Mit einem Mal fand das Feuer Nahrung, eine Stichflamme loderte hoch und fraß sich mit beängstigender Geschwindigkeit an einem Balken der Rückwand nach oben. In ihrem Schein erkannte Benno nun, dass es Lukianenko war, der dort stand und mit einer Pistole hantierte. Sie war es offenbar auch gewesen, die er aufgehoben hatte und Benno begriff, dass Sanjay Elwert am Boden lag und sich nicht mehr rührte.
Er machte einen großen Schritt über den Türsturz hinweg, richtete seine Pistole auf den Russen und rief: „Weg mit der Waffe! Und nehmen Sie die Hände hoch!“
Lukianenko schreckte auf, hob den Kopf und blickte Benno einen Moment lang an wie ein Tier, das ins Scheinwerferlicht eines Wagens geraten ist. Dann riss er die Waffe hoch und drückte ab.
Benno hatte jedoch geahnt, was passieren würde, noch bevor es geschah und sich reflexartig fallen lassen. Die Kugel verfehlte ihn, pfiff über seinen Kopf hinweg, während er sich herumrollte und gleich wieder auf die Ellbogen hochstemmte. Lukianenko war aber nicht stehengeblieben, sondern hatte sich augenblicklich abgewandt und war in die Tiefe der Scheune geflüchtet.
Gab es dort noch einen zweiten Ausgang?
Benno rappelte sich hoch, schaute rasch über seine Schulter und sah Gruber in der Türöffnung lehnen. Als Nächstes ging er kurz neben Sanjay Elwert in die Knie und nahm die Wunde in dessen Brust in Augenschein. Obwohl er wenig Hoffnung hegte, angesichts der weit offenstehenden Augen, legte er prüfend die Finger an den Hals des jungen Mannes. Nichts. Sanjay war tot.
In diesem Moment hörte er plötzlich Dennis seinen Namen rufen und sah auf. Am oberen Ende einer nahen Leiter ragte der Kopf seines Freundes in die vom Feuerschein erleuchtete Scheune. Dichter Rauch ballte sich bereits dort oben.
„Benno? Seid ihr das?“
„Ja! Los, kommt runter! Ihr müsst so schnell wie möglich hier raus!“, rief er hinauf. „Der Kerl hat ein Feuer gelegt!“
„Ist Sergej weg?“
Eine Frauenstimme diesmal und gleich darauf wurden auch die Köpfe von Sylvie Metzinger und Johanna Unterlechner über dem Rand des Heubodens sichtbar. Sie husteten, wirkten aber unsicher, ob sie der Aufforderung Folge leisten sollten oder nicht.
Hilfesuchend blickte Benno erneut zu Gruber. Der war ein paar Schritte näher gekommen und winkte nun ab. In der anderen Hand hielt er dabei sein Handy.
„Ich bringe die drei raus“, sagte er. „Sieh du zu, dass uns dieser Schweinehund nicht wieder durch die Lappen geht. Die Kollegen wissen Bescheid. Die Feuerwehr ist alarmiert und das SEK ist auch jeden Moment hier. Dann kommt Lukianenko von hier sowieso nicht mehr weg, aber bis dahin müssen wir verhindern, dass er sich verdrückt. Was ist mit ihm?“
Er deutete auf den am Boden liegenden Sanjay Elwert. Benno schüttelte den Kopf.
„Scheiße“, kommentierte Gruber, dann hustete auch er.
„Alles in Ordnung?“, fragte Benno.
Sein Partner wedelte mit einer Hand.
„Klar. Und jetzt ab mit dir! Schnapp’ dir den Mistkerl.“
Nach einem letzten Zögern und einem Blick aufwärts, mit dem er sich vergewisserte, dass Dennis und die beiden Frauen tatsächlich mit dem Abstieg vom Heuboden begonnen hatten, wandte Benno sich um und drang tiefer ins Innere der Scheune vor. Er sah nur wenig. Der Feuerschein malte zuckende Schatten an jede Wand und auf jeden Balken, sodass es schien, als wäre rund um ihn her alles in Bewegung.
Mit der Pistole im Anschlag, jede noch so kleine Möglichkeit der Deckung nutzend, tastete Benno sich vorwärts, ständig darauf gefasst, dass ihn bereits in der nächsten Sekunde ein Schuss treffen könnte.
Gerümpel stand in größeren und kleineren Ansammlungen herum und erschwerte es ihm zusätzlich, etwas zu erkennen. Ausrangierte Möbel, landwirtschaftliches Gerät, rostig und mit Spinnweben überzogen, Bretterstapel, zwei halb ausgeschlachtete Autos ohne Räder, ein alter Traktor. Dutzende Möglichkeiten, sich zu verstecken, zumindest auf dem Weg zur Rückseite des Gebäudes Deckung zu suchen oder einem etwaigen Verfolger aufzulauern.
Hinter Benno knisterte und rauschte das Feuer immer lauter. Das alte Holz, aus dem die Scheune gebaut war, bot ihm reichlich Nahrung und brannte wie der sprichwörtliche Zunder. Es stank nach Rauch, der das Gebäude allmählich immer mehr füllte und Benno begriff, dass er selbst auch lieber zusehen sollte, möglichst rasch ins Freie zu kommen, sonst war er hier drin gefangen.
Ein Blick zurück offenbarte ihm, wie richtig er mit dieser Einschätzung lag. Aber er durfte doch auf keinen Fall zulassen, dass Lukianenko schon wieder mit einem Mord davonkam! Dem dritten, von dem sie wussten!
Entschlossen wandte sich Benno wieder nach vorn und suchte mit Blicken nach einem Hinterausgang, den der Russe möglicherweise benutzt haben könnte. Es gab tatsächlich einen, wie er kurz darauf feststellte. Ein breites, zweiflügeliges Tor, nicht ganz so groß, wie das vordere. Auch hier war in einem der Flügel eine Tür eingelassen, um einen raschen Durchgang zu ermöglichen, ohne das ganze Tor komplett öffnen zu müssen.
Davor lag etwas, ein Mensch, wie Benno gleich darauf erkannte. Noch ein Opfer? Oder Lukianenko selbst?
Er pirschte sich näher heran, hörte keuchende Atemzüge und blickte gleich darauf in das schweißnasse Gesicht des Gesuchten. Im mittlerweile allgegenwärtigen Feuerschein war der Mann deutlich zu erkennen.
Aber warum lag er hier? Wieso war er nicht geflohen?
Bennos Blick wanderte an Lukianenkos Gestalt abwärts und entdeckte die Waffe, die ihm aus der schlaffen, rechten Hand gerutscht war. Die Linke hielt er auf seinen Bauch gepresst. Sie glänzte schwarz im flackernden Schein und Benno begriff.
Er hatte zwei Schüsse gehört, aber Sanjays Körper hatte nur eine Schusswunde aufgewiesen. Wie auch immer es passiert sein mochte – und das Gepolter, das sie vorhin wahrgenommen hatten, sprach für ein Handgemenge – offenbar hatte jeder der beiden Kontrahenten dabei einen Schuss abbekommen. Sanjays Verletzung war sofort tödlich gewesen, die von Lukianenko hatte etwas länger gebraucht, um den Mann in die Knie zu zwingen.
Der Blick der kalten grauen Augen heftete sich auf Benno, als der jetzt neben den am Boden Liegenden trat. Mit einem Fuß kickte er die Waffe weg, dann ging er in die Hocke und zog Lukianenkos Hand von der Bauchwunde.
„Vergessen Sie’s“, keuchte der Russe, schnappte noch einmal nach Luft und verdrehte röchelnd die Augen.
Im nächsten Moment kippte sein Kopf zur Seite. Er war tot.
Auch hier prüfte Benno mit den Fingern den Puls an der Halsschlagader, fand aber keinen mehr.
Einen Moment lang hockte er noch da und starrte auf den Toten herunter, dann brachte ihn das Krachen eines herabstürzenden Balkens aus dem vorderen Teil der Scheune zurück in die Realität. Es war allerhöchste Zeit, hier zu verschwinden!
Hastig sprang Benno auf die Füße und eilte zu der kleinen Tür im rückwärtigen Tor. Er zerrte an dem schmiedeeisernen Riegel, doch der gab nicht nach. Dann also das ganze Tor.
Doch auch hier waren seine Bemühungen vergeblich. Was zur Hölle war hier los? Wieso ließen sich weder die Tür, noch das Tor öffnen? Dann war dem Russen also nicht bloß die Schusswunde zum Verhängnis geworden. Selbst wenn seine Verletzung weniger schwer gewesen wäre, hätte er es nicht nach draußen geschafft. Und so, wie es aussah, galt dasselbe nun auch für Benno.
Der hustete, als der Rauch um ihn herum immer dichter wurde, ihn einhüllte und in seine Lungen kroch. Er wusste, dass die meisten Brandopfer nicht am Feuer selbst starben, sondern an einer Rauchvergiftung, hatte aber wenig Lust, diese Erfahrung am eigenen Leibe zu machen. Als er einsah, dass er an der Tür auf keinen Fall weiter kam, schaute er sich um, ob es vielleicht irgendein Werkzeug gab, das ihm weiterhelfen konnte. Eine Hacke vielleicht, oder eine Axt, ein Hammer – was auch immer! Ihm war alles recht. Lag denn so was nicht für gewöhnlich in Scheunen herum?
Er hastete im dichten Qualm hustend von einem Gerümpelhaufen zum nächsten und endlich hatte er Glück. Eine lange, schwere Axt steckte in einem Hackklotz, der von einer rostigen Schubkarre halb verdeckt wurde. Mit einiger Mühe und unter ständigem Husten zerrte Benno das Werkzeug aus dem Holz und machte sich dann daran, die kleine Tür damit zu bearbeiten.
Seine Euphorie verwandelte sich jedoch schnell in Resignation. Das Holz des Scheunentors mochte ja alt sein, morsch war es deswegen trotzdem nicht und außerdem mehrere Zentimeter dick. Schon nach wenigen Schlägen erkannte Benno, dass die Zeit nie im Leben ausreichen würde. Der Qualm, der ihn umgab war bereits so dick, dass er seine Umgebung kaum noch sehen konnte und ihm würde der Sauerstoff ausgehen, bevor er auch nur einen einzigen Spalt in die Tür geschlagen haben würde.
Er machte trotzdem weiter, denn aufgeben kam nicht infrage.
„Hilfe!“, rief er, hustete und schlug erneut zu. „Hilfe! Hört mich wer?“ Husten. Ein Schlag mit der Axt. „Ich bin hier hinten und …“ Wieder husten. „Die Tür …“ Husten, zuschlagen. „Die verdammte Tür … geht nicht auf!“
Er wusste nicht, wie lange er schon auf das Holz eindrosch, als er plötzlich glaubte, davor Stimmen zu hören, die das mittlerweile ohrenbetäubende Brausen der Flammen übertönten. Gleich darauf knallte es laut. Noch ein Schuss?
Benno schwankte und brach in die Knie, dann fiel er vollends zu Boden und rollte herum, bis er quasi Auge in Auge mit dem toten Lukianenko lag.
Etwas rasselte und knarrte, dann kam ein erster Luftzug, den er reflexartig tief einsaugte, was ihn erneut husten ließ.
„Helfen Sie mir!“, hörte er jemanden sagen. Dennis? „Er muss hier raus, an die frische Luft! Los!“
Er wurde an Armen und Beinen gepackt und von der Stelle geschleift. Über sich sah er Dennis’ besorgtes Gesicht und zu seinen Seiten Johanna Unterlechner und Sylvie Metzinger.
Nach einer Weile wurde er dann abgelegt, starrte nach oben in den sternenübersäten Himmel, ohne zu begreifen, was geschah. Die kalte Luft war köstlich, doch als er sie noch einmal tief in seine Lungen zu saugen versuchte, erfasste ihn ein derart heftiger Hustenkrampf, dass er sich schließlich sogar zur Seite wälzte und heftig übergab.
Erst danach war er wieder etwas klarer im Kopf und in der Lage, zu verstehen, was um ihn herum eigentlich vor sich ging. Er setzte sich auf, blickte auf die brennende Scheune des Birkenhofes und wischte sich über den Mund. Dennis war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie die beiden Frauen.
Martinshorn kam näher, übertönte langsam das Knacken, Rauschen und Brausen des Feuers. Blaulicht zuckte, als mehrere Feuerwehrfahrzeuge und zwei Rettungswagen über die Zufahrt herangebraust kamen.
„Hast du ihn wenigstens erwischt?“
Benno drehte den Kopf und zu seinem Entsetzen sah er, dass es Gruber war, der neben ihm im kurzen feuchten Gras hockte. Er war leichenblass und presste ein blutgetränktes Taschentuch auf eine Wunde an seiner linken Schulter.
„Horst! Was …?“
Seine heftige Reaktion bescherte Benno einen neuerlichen Hustenanfall.
„Reg’ dich ab“, beschwichtigte ihn sein Partner. „Das sieht schlimmer aus, als es ist. Als Lukianenko auf dich geschossen hat, hat er mich getroffen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Hast du den Drecksack erwischt?“
Benno musterte seinen Partner, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich keine unmittelbare Lebensgefahr bestand. Gruber war zwar sehr blass, aber er wirkte nicht wie ein Todeskandidat. Halbwegs beruhigt schüttelte Benno den Kopf.
„Nein, das hat ganz offensichtlich Sanjay Elwert für uns erledigt“, sagte er.
„Elwert? Wie das?“, wollte Gruber wissen.
„Wir haben zwei Schüsse gehört, vorhin, als wir hier angekommen sind. Du erinnerst dich?“, fragte Benno. Sein Partner nickte. „Tja, einer davon hat ganz offenbar Lukianenko selbst getroffen. In den Bauch. Er ist vor meinen Augen gestorben, kurz nachdem ich ihn gefunden hatte.“ Er deutete mit der Hand in Richtung Scheune. „Er liegt da drin, gleich hinter dem Tor.“
Gruber schien einen Augenblick zu überlegen, dann schnaubte er.
„Ich weiß, ich sollte das als Bulle nicht sagen, aber … gut so! Ein Teil von mir findet es beschissen, dass er jetzt nicht für all das bestraft werden kann, was er anderen Menschen angetan hat, aber andererseits – auf die Weise richtet er wenigstens kein Unheil mehr an.“
Er verzog das Gesicht. Dann änderte er seine Position, nahm das Taschentuch von der Wunde und warf einen prüfenden Blick darauf.
„Hier drüben!“, hörte Benno hinter sich und drehte den Kopf.
Dennis kam dort über die nächtlich taufeuchte Wiese, drei Rettungsassistenten im Schlepptau und sichtlich aufgewühlt. Mit großen Schritten eilte er jetzt an Bennos Seite und ging neben ihm in die Hocke.
„Bist du in Ordnung?“, wollte er wissen und fasste nach Bennos Hand.
„Es ging mir schon mal besser, aber … wenn du so fragst: Ja.“ Benno verschränkte seine Finger mit denen von Dennis. „Und jetzt, wo ich weiß, dass du unverletzt und in Sicherheit bist, erst recht.“ Er schaute erneut zur brennenden Scheune und dann zu Gruber, um den sich bereits zwei der Rettungskräfte bemühten. „Was ja nicht alle Beteiligten von sich sagen können.“
Als der dritte Retter zu ihnen trat, machte Dennis ihm rasch Platz. Er beobachtete schweigend, wie Benno untersucht und schließlich mit einer Decke um die Schultern und einer Sauerstoffmaske vor dem Gesicht zu einem der Rettungswagen geführt wurde.
Gruber lag inzwischen auf einer der Tragen, den linken Arm vor der Brust fixiert und mit einer Infusion versehen. Auch er wurde gleich darauf zu einem der beiden Rettungswagen gebracht.
„Ob man sich im Krankenhaus wohl einen Zimmergenossen wünschen kann?“, witzelte er, als er an Benno vorüber getragen wurde.
Der lächelte erleichtert. Das Gesicht seines Partners hatte bereits wieder etwas mehr Farbe bekommen, also war die Verletzung womöglich wirklich nicht so schwer, wie er im ersten Moment befürchtet hatte.
Am Rettungswagen angelangt, setzte Benno sich zunächst auf dessen hintere Stufe und atmete weiterhin vorsichtig den Sauerstoff ein. Wenn er sich auf seine Atmung konzentrierte, schaffte er es, den Hustenreiz zu unterdrücken.
Dennis war ihnen gefolgt und als der Rettungsassistent das Fahrzeug wieder verließ, um nach den beiden Frauen zu sehen, kam er zu Benno. Sein Gesicht war sehr ernst.
„Bist du okay?“, fragte der und fasste mit der freien Hand wieder nach Dennis’ Fingern.
Zu seiner Bestürzung schüttelte sein Freund jedoch den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Bin ich nicht.“
Eine eisige Klammer schien sich um Bennos Brustkorb zu legen.
„Was ist? Soll ich den Sanitäter rufen? Bist du …?“
Er machte Anstalten, sich in die Höhe zu stemmen, doch Dennis hinderte ihn daran.
„Nein!“, widersprach er mit Nachdruck. „Das ist es nicht. Mir fehlt nichts. Es ist nur …“
Er stockte, verzog das Gesicht und blickte zur Seite.
„Was?“, hakte Benno nach. „Was ist es dann?“
„Ich hab’ dich belogen, fürchte ich. Ich … ich kann das nicht.“
„Was kannst du nicht?“
„Mit der Ungewissheit leben“, erwiderte Dennis. „Ich dachte wirklich, ich schaffe das, weißt du. Ich wollte es unbedingt schaffen, schließlich bin ich ein Kerl und keine Memme. Du bist mit Leib und Seele Polizist, das weiß ich und ich finde das auch toll und will es dir auf keinen Fall wegnehmen. Aber … so was wie das hier …“
Er drehte sich halb und machte eine ausholende Geste mit der Hand.
„Wie soll ich es denn auf die Dauer ertragen, mich immer und immer wieder zu fragen, ob du nach so einem Einsatz heil und lebendig zu mir zurückkommst, oder nicht?“
Er sah Benno an und in seinem Gesicht spiegelte sich so viel Verzweiflung, dass es darauf nur eine Antwort gab. Benno zog ihn an sich und umarmte ihn fest.
„Gar nicht“, flüsterte er.