19.
G ruber konnte sich seinen Zimmergenossen natürlich nicht aussuchen. Benno wäre aber ohnehin nicht als Kandidat infrage gekommen, weil der es vorzog, nach einer ambulanten Begutachtung auf eigene Verantwortung das Krankenhaus zusammen mit seinem Freund wieder zu verlassen. Nachdem die Retter ihm vor Ort noch für eine Weile Sauerstoff über die Maske verabreicht hatten, war der Hustenreiz nahezu vollständig abgeklungen und obwohl er darüber aufgeklärt worden war, dass auch nach 24 Stunden oder länger noch ein Restrisiko bestand, war es ihm wichtiger, bei Dennis zu sein. Sein Freund schaute Benno zwar skeptisch an, als der mittels Unterschrift seinen Entschluss bekräftigte, sich entgegen ärztlichen Rat selbst zu entlassen, erhob aber keine Einwände. 
Sie fuhren direkt in Dennis’ Wohnung, aßen eine Kleinigkeit, redeten jedoch nicht mehr viel an diesem Abend und wenn, dann über eher belanglose Dinge, anstatt über das, was geschehen war. Benno war seinem Freund dankbar, dass er ihm die Gelegenheit gab, zuerst für sich selbst zu sortieren, was er erlebt hatte.
Sie gingen bald zu Bett, doch Benno war bewusst, dass das, was da so impulsiv und aus dem Moment heraus zwischen ihnen zutage getreten war, einer endgültigen Klärung bedurfte. Und es war ihm auch ein Bedürfnis, es zu klären. Über die dramatischen Ereignissen auf dem Birkenhof mussten sie ebenfalls noch sprechen, aber für den Moment sehnte er sich nur danach, in Dennis’ Armen zu liegen, zu schlafen und für ein paar selige Stunden alles zu vergessen.
In seinem Kopf drehten sich die Gedanken jedoch noch lange im Kreis, und auch als er endlich eindöste, war er einem Entschluss, ob und vor allem wie er weitermachen sollte, kein bisschen näher gekommen.
Am nächsten Morgen jedoch, als er die Augen aufschlug und im Halbdunkel des Zimmers neben sich, halb unter der Bettdecke verborgen, Dennis’ strubbeligen Haarschopf erblickte, war er dafür ganz plötzlich da. Kristallklar und völlig selbstverständlich. Und mit einem Mal war ihm ganz und gar leicht ums Herz. Er wusste , was er zu tun hatte und vor allem, was in seinem Leben die absolute Priorität hatte: Einzig und allein der Mann, der neben ihm lag. Er und das, was sie miteinander teilten. Das war das Wichtigste von allem, nichts konnte das aufwiegen und wenn er das behalten wollte, dann musste er jetzt seine Entscheidung treffen und dazu stehen. Ganz egal wie unbequem die Konsequenzen vielleicht auch sein mochten.
In diesem Augenblick, fast als hätte er es gespürt, regte sich auch Dennis und schlug die Augen auf. Benno lächelte ihn an und sagte: „Guten Morgen, schöner Mann.“
Ein verschlafenes Gähnen kam zurück, dann ein träges Grinsen und schließlich erwiderte sein Freund, während er sich noch genüsslich unter der Bettdecke rekelte: „Wenn die Nebenwirkungen einer Rauchvergiftung darin bestehen, dass du schon morgens nach dem Aufwachen mit Komplimenten um dich wirfst, dann solltest du dich definitiv öfter in brennenden Gebäuden aufhalten.“
Benno lachte leise.
„Soll das etwa heißen, ich mache dir zu selten Komplimente?“
„Nein, das nicht“, sagte Dennis und schlang ihm einen Arm um die Taille. „Aber wer hört nicht gern schon kurz nach dem Aufwachen, dass er attraktiv ist. Also, trotz Knitterfalten, Strubbelfrisur und schlechtem Atem.“
Er schnupperte an Benno und verzog das Gesicht.
„Allerdings ist der Geruch nach kaltem Rauch auch nicht so der Brüller, wenn ich ehrlich sein soll. Na ja und die Tatsache, dass du dich dafür in Lebensgefahr begeben musst …“ Er seufzte. „Hm, nein, dann verzichte ich doch lieber auf die Komplimente, glaub’ ich.“
Er zog Benno in eine feste Umarmung und schloss die Augen, riss sie jedoch abrupt wieder auf, als der sagte: „Übrigens – ich kündige.“
Nach einer kurzen Schreckstarre zuckte Dennis zurück und sah in Bennos Gesicht. Seine Miene war fassungslos.
„Du … Was?
„Ich kündige“, wiederholte Benno.
Jetzt setzte Dennis sich auf und schüttelte dabei den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er hörte. Und vermutlich war das auch so.
„Ist das dein Ernst? Du willst deinen Job hinschmeißen? Aber – wieso denn? Du bist doch mit Leib und Seele Bulle! Warte – etwa, weil ich gesagt habe, dass ich nicht weiß, wie ich mit der Ungewissheit zurechtkommen soll?“
Benno setzte sich ebenfalls auf.
„Auch das“, gab er zu. „Aber es ist sehr viel mehr als das. Wie du gerade selbst gesagt hast, bin ich mit Leib und Seele Polizist. Ich habe diesen Beruf ergriffen, weil ich an das System geglaubt habe, an uns, die Polizeibeamten und daran, dass wir Menschen helfen. Dass wir der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, mit dem was wir tun, so geschwollen das vielleicht auch klingen mag. Dass das Ganze nicht perfekt ist, war mir dabei immer bewusst. Aber was ist schon perfekt? In den letzten paar Jahren habe ich allerdings immer öfter das Gefühl, wir dienen nicht mehr den Menschen, die wir doch eigentlich beschützen sollen, sondern mehr und mehr dem System als solches. Reiben uns auf zwischen Ansprüchen, die so widersprüchlich sind, dass ihnen niemand jemals wirklich gerecht werden kann . Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich nach jedem größeren Ereignis empören, weil wir schlimme Dinge nicht verhindert haben, denn wir hätten doch angeblich lange vorher schon wissen müssen, dass sie geschehen würden. Auf der anderen verteufelt man uns aber, wenn wir in die Privatsphäre von Menschen eingreifen, um genau das zu tun. Das ist doch krank! Und dann nimm Leute, wie diesen Thomas Meierling. Die haben keinerlei Skrupel, andere Menschen – auch Polizisten! – zu benutzen und anschließend fallenzulassen, wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel, je nachdem, was dem eigenen Vorteil gerade am dienlichsten ist. Und in aller Regel sind es gerade diese Leute, die dem Gesetz eine lange Nase drehen und mit den wildesten Geschichten durchkommen! Und unsere Gerichte? Die sind total überlastet, weil heutzutage scheinbar niemand mehr in der Lage ist, persönliche Konflikte vernünftig auszutragen und stattdessen gleich nach Anwalt und Polizei schreit, wenn der Nachbar ihn auch bloß mal schräg anschaut. Dadurch werden eigentlich dringliche Verfahren hinausgezögert, Fälle verjähren oder die Staatsanwälte schließen irgendwelche obskuren Deals mit Straftätern, bloß um die Verfahren endlich vom Tisch zu haben. Die Opfer fallen dabei regelmäßig hinten runter. Und anstatt regulierend einzugreifen, kürzt der Staat nur seit Jahren die Etats systematisch immer weiter zusammen, weitet aber dafür die Zuständigkeiten immer weiter aus. Die Folge sind Überstundenkonten, die aus allen Nähten platzen und immer größerer Frust. Dass es unter diesen Umständen auch immer wieder zu dienstlichem Fehlverhalten kommt, ist damit zwar auch nicht entschuldigt, aber ich kann es zumindest ein Stück weit verstehen. Ich bin gerade in diesem Fall jetzt selbst einmal beinahe ausgerastet. Wenn Horst mich nicht gebremst hätte, wer weiß, vielleicht hätte ich diesem Lukianenko dann auch die Fresse poliert.“
Benno sah Dennis um Verständnis heischend an.
„Ich habe mich aus Berlin hierher versetzen lassen, weil ich dort schon gemerkt habe, dass ich mehr und mehr an meine Grenzen stoße. Ich dachte, vielleicht ist es hier anders, weil es keine Millionenstadt ist und alles … na ja, etwas beschaulicher ist, verstehst du?“
Dennis grinste schief.
„Beschaulich? Das ist nicht gerade das Wort, das mir einfallen würde, wenn ich an die letzten paar Monate denke. Dass es auch hier bei uns, sozusagen in der tiefsten deutschen Provinz, so viele schwere Verbrechen gibt, war mir allerdings nicht klar.“ Er zuckte die Achseln und zupfte an der Bettdecke, während er weiterredete. „Aber vielleicht liegt das ja auch nur daran, dass ich jetzt mit dir zusammen bin? Als normaler Zivilist hätte ich von all dem vermutlich bloß in der Zeitung gelesen und es dann schnell wieder vergessen.“
„Glaub’ mir“, sagte Benno und berührte seine Schulter. „Im Vergleich zu Berlin ist es immer noch die reinste Sommerfrische. Trotz allem.“ Er seufzte. „Aber was ich damit sagen will, ist Folgendes: Ich will und kann so nicht mehr weitermachen. In meinen Augen ist das ganze System von der Wurzel her krank und ich will kein Teil mehr davon sein. Erst recht nicht, wenn ich weiß, dass du dabei zuhause sitzt und krank vor Sorge bist. Ich will nicht mehr irgendwelchen finsteren Typen nachjagen, meinen Hals dabei riskieren, angeschossen oder sonst wie verletzt werden und dann später im Gerichtssaal zuhören, wie ein überbezahlter Anwalt davon schwadroniert, dass seine Mandanten ja eigentlich nur auf die schiefe Bahn geraten sind, weil sie so eine verdammt schwere Kindheit hatten. Viele Menschen haben eine echt beschissene Kindheit, oft genug auch gerade wegen solcher Typen und werden trotzdem nicht kriminell! Und in meinen Augen ist es ein Hohn, wenn ein Mörder oder Vergewaltiger mit einer lächerlichen Strafe davonkommt, während die Opfer oder die Hinterbliebenen auf jeden Fall lebenslänglich haben.“
Dennis hob die Brauen.
„Wow“, machte er. „Bist du plötzlich unter die Verfechter der Todesstrafe gegangen, oder wie soll ich das verstehen?“, fragte er und es klang nur zum Teil belustigt.
„Keineswegs.“ Benno schüttelte den Kopf. „Aber ich wäre dafür, dass eine Strafe einem Verbrechen angemessen sein muss und es eben nicht immer bloß um den sogenannten Rechtsfrieden geht und darum, ein Verfahren abzuhaken. Aber vor allem wäre ich dafür, dass endlich ausreichend Planstellen für Polizeibeamte geschaffen werden. Und natürlich dass all die Meiers, Müllers und Schmidts, die da draußen meinen, der Staat wäre dafür zuständig, ihnen bei ihrem Streit darüber, wer mit Straße fegen oder Schnee schippen an der Reihe ist, oder wer seine Karre wo abstellen darf, zu ihrem Recht zu verhelfen, sich endlich mal wieder darauf besinnen, dass ein vernünftiges Gespräch manchmal mehr bringt, als sinnloses Gepöbel und gegenseitige Beleidigungen! Aber ich schätze, das sind beides Dinge, auf die kann ich lange warten.“ Er holte tief Atem. „Ich kann nur für dich und mich was tun. Also, für uns beide. Ich kann die Notbremse ziehen – indem ich kündige. Und genau das werde ich tun.“
Sie schwiegen beide eine Weile, nachdem Benno geendet hatte. Schließlich fasste Dennis nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger miteinander.
„Okay“, sagte er dann. „Und hast du schon eine Idee, was du stattdessen machen willst?“