21.
G
ruber saß bereits voll angezogen in einem Stuhl am Fenster, als Benno kam, um ihn abzuholen. Sein Partner hatte ihn telefonisch darum gebeten und für ihn war es selbstverständlich gewesen, dieser Bitte nachzukommen. Zumal er sowieso noch einmal ins Krankenhaus gemusst hatte, um mit Leon Zöllner zu sprechen.
Der junge Mann hatte diesmal deutlich besser ausgesehen, als bei ihrer letzten Begegnung, allerdings würden die Verletzungen in seinem Gesicht durchaus noch einige Zeit zu sehen sein. Außerdem bekam er nach wie vor Schmerzmittel, hauptsächlich wegen der Quetschungen, die er im Genitalbereich erlitten hatte und sollte aus demselben Grund auch noch weitestgehend liegen.
Er hatte die Nachricht über den Tod von Sergej Lukianenko scheinbar ungerührt aufgenommen. Nur ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel hatte verraten, dass er noch längst nicht über die Geschehnisse hinweg war. Benno vermutete, dass die seelischen Wunden dabei sehr viel länger brauchen würden, um zu verheilen, als die körperlichen.
Leise, aber gefasst, hatte Leon Zöllner ihm anschließend erzählt, was an dem Abend nach Sergejs Freilassung passiert war. Wie der plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte, anfangs noch mit der scheinbar völlig vernünftig vorgetragenen Bitte um eine Unterredung.
„Er hat gesagt, er wollte mir erklären, was passiert wäre und mich gebeten, ich sollte ihm wenigstens zuhören. Danach
könnte ich ihn immer noch wegschicken, wenn ich das wollte. Er wirkte in dem Moment total ruhig und aufrichtig. Kein bisschen aggressiv. Sonst hätte ich ihn doch nie und nimmer reingelassen. – Das war dumm von mir, oder?“
Der Blick des jungen Mannes hatte Benno buchstäblich angefleht, ihm zuzustimmen, ihm Absolution zu erteilen und der hatte schließlich etwas hilflos die Achseln gezuckt.
„Nach allem, was wir wissen, konnte Sergej schon ziemlich überzeugend sein, wenn er es darauf anlegte“, hatte er erwidert.
Das stimmte durchaus, gleichzeitig wusste Benno, dass es als Erklärung trotzdem viel zu wenig sein würde. Leon Zöllner gab sich selbst die Schuld an dem, was passiert war und auch wenn da natürlich was dran war, erkannte Benno es als klassisches Opferverhalten.
Er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man glaubte, selbst dafür verantwortlich zu sein, dass man überhaupt zum Opfer geworden war. Was es hieß, sich in jeder wachen Minute zu fragen, warum, zur Hölle, man ein bestimmtes Risiko eingegangen war, warum man nicht klüger gehandelt hatte, weshalb man so leichtsinnig gewesen war oder was auch immer. Mit all diesen Dingen hatte er sich selbst jahrelang herumgeschlagen.
Und dabei hatte es Leon Zöllner in gewisser Hinsicht noch weitaus schlimmer getroffen, als Benno. Er war damals immerhin von einer Droge ausgeknockt gewesen, während ein Wildfremder sich an ihm vergangen hatte. Leon dagegen hatte nicht nur jeden einzelnen Augenblick seines Martyriums bei vollem Bewusstsein miterlebt, es war noch dazu der Mann gewesen, mit dem er vorher eine Beziehung geführt hatte, der ihn da buchstäblich halbtot geprügelt hatte. Und ganz egal, wie diese Beziehung auch ausgesehen haben mochte, er und Lukianenko waren so was wie ein Paar gewesen, und nach dem zu urteilen, was der junge Mann in seiner allerersten Befragung
ausgesagt hatte, waren zumindest von seiner Seite aus echte Gefühle im Spiel gewesen. Da musste es erst recht furchtbar sein, wenn der Partner sich plötzlich als brutaler Schläger entpuppte.
„Aber kaum war er richtig drinnen, hat er die Maske fallenlassen“, hatte Leon Zöllner ihm dann auch prompt erklärt, und eine einzelne Träne war ihm dabei über die Wange gerollt. „Der erste Tritt von ihm ging gleich in die Eier und dann …“
Der junge Mann hatte heftig geschnieft und sich immer wieder übers Gesicht gewischt.
„Dann hat er einfach immer weiter gemacht. Geschlagen und getreten, immer und immer wieder. … Ins Gesicht, in die Rippen, den Rücken und immer wieder zwischen die Beine. Ich hab’ gedacht …“ Wieder ein Schniefen. „Ich hab’ wirklich gedacht, er schlägt mich tot und irgendwann … irgendwann hab’ ich dann bloß noch gehofft, dass es bald so weit ist. Dass ich bald tot bin, damit es aufhört. Und während er mich verprügelt hat, hat er mich die ganze Zeit über beschimpft und mich angeschrien. Dass er mir meine hübsche Nuttenfresse ruinieren wird. Dass er dafür sorgen wird, dass mich nie wieder irgendein anderer Kerl auch nur ansieht, ohne sich vor mir zu ekeln und dass ich dann froh und dankbar sein müsste, wenn er mir in Zukunft noch erlauben würde, ihm den Schwanz zu lutschen. Dass er das im Club tun würde, vor allen Gästen, damit sie mich sehen und sich wundern würden, warum ein Kerl wie er sich mit einem Monster wie mir abgibt. Und dass er mich dann allen, die mich wollen, zur Verfügung stellt, damit sie mich ficken können, solange, bis …“
Er hatte gestockt, heftig geschluckt und sichtlich um seine Fassung gekämpft, während Benno geduldig gewartet hatte.
„Bis mein Arsch total ausgeleiert ist und mich keiner mehr haben will“, vervollständigte er leise den Satz.
Er hatte tief Luft geholt, war Bennos Blick jedoch ausgewichen.
„Dann hat es an der Tür geschellt. Da hat er mich gefragt, ob ich noch wen erwarte und ich hab’ … Ich hab’ ihn angelogen. Ich wusste nicht, dass Sie das waren, aber ich hab’ einfach behauptet, ja, da kommt gleich noch wer von der Polizei. Kurz bevor er aufgetaucht ist, hätte ich einen Anruf bekommen und die wollten sich noch mal mit mir unterhalten. Das … ich weiß nicht, das ist mir, einfach so, plötzlich eingefallen. Ich dachte … ich hab’ gehofft, vielleicht bekommt er Angst und … und haut ab oder so. Obwohl, nein, ich weiß nicht, was genau ich in dem Moment gedacht habe, das war mehr so eine Art … Reflex, oder so.“
An dieser Stelle war er endgültig in Tränen ausgebrochen und Benno hatte sich in seinem Stuhl nach vorn gelehnt, um den Arm des jungen Mannes zu berühren. Leon hatte sich ihm nicht entzogen, ihn aber noch immer nicht angeschaut.
„Hey? Reflex oder was auch immer – das war verdammt clever von Ihnen“, hatte Benno gesagt und es auch genau so gemeint. „Womöglich hat es Ihnen sogar das Leben gerettet.“
Daraufhin hatte Zöllner endlich wieder Blickkontakt aufgenommen.
„Meinen Sie?“
Benno hatte genickt.
„Ich nehme an, danach ist Sergej dann abgehauen, oder?“, hatte er behutsam weiter gefragt und Leon Zöllner hatte schluchzend genickt.
„Ja. Er hat geflucht, mir noch einen Faustschlag ins Gesicht verpasst und ist zum Fenster raus. Dann … dann hab’ ich mich irgendwie an die Tür geschleppt und den Rest wissen Sie ja.“
„Ja“, hatte Benno gesagt. „Für den Augenblick wäre das auch erst mal alles. Wir werden sicher noch einige Fragen an Sie haben, aber jetzt werden Sie erst mal wieder richtig gesund. Ruhen Sie sich aus.“
Ein leises, irgendwie spöttisches Schnauben war daraufhin von Leon Zöllner gekommen und hatte Benno aufhorchen lassen.
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen“, hatte er dann gesagt. „Zum Ausruhen habe ich ab sofort mehr Zeit, als mir lieb ist.“
„Wieso das?“
Bennos Neugierde war geweckt. Vielleicht lag es auch daran, dass der junge Mann ihm sympathisch war und ihn an sich selbst erinnerte.
„Mein Chef war heute Morgen schon hier“, hatte Zöllner erwidert. „Na ja, mein Ex-Chef, muss ich jetzt wohl sagen. Er hat mir mitgeteilt, dass er in Zukunft in seinem Laden keine Verwendung mehr für mich hat. Anscheinend sind mein Gesicht und mein Name in der Zeitung gelandet und das ist keine gute Reklame für sein Geschäft. Außerdem wären Reporter bei ihm im Laden gewesen und hätten ihn über mich ausfragen wollen. Und es hätten schon einige Kunden ihre Termine wegen all dem abgesagt. Er meinte, das könnte er sich nun mal nicht leisten. Sein Geschäft wäre kein Schickimicki-Szeneladen, sondern ein seriöses Unternehmen und mit solchen anrüchigen Vorgängen wolle er nichts zu tun haben.“
Er hatte eine Hand gehoben und eine müde wirkende Geste gemacht.
„Kann er Sie denn so einfach kündigen?“, hatte Benno gefragt. „Sie haben als Arbeitnehmer doch auch gewisse Rechte.“
„Ja, sicher.“ Wieder hatte Zöllner geschnaubt. „Allerdings befinde ich mich noch in der Probezeit und selbst wenn das nicht der Fall wäre – würden Sie weiter für jemanden arbeiten, von dem Sie wissen, dass er Sie lieber heute als morgen loswerden will?“
Dem hatte Benno zugestimmt, wenn auch widerwillig, aber die Situation des jungen Mannes, der nun mehr oder weniger unverschuldet vor den Trümmern seines bisherigen Lebens stand, beherrschte seitdem auch weiterhin seine Gedanken. Mit
Sicherheit war er nach allem traumatisiert und nun zu allem Überfluss auch noch arbeitslos.
Sein letzter Satz hatte gelautet: „Wer weiß, vielleicht ist es ja ohnehin besser, ich breche meine Zelte hier komplett ab und fange anderswo ganz neu an. Irgendwo weit weg, wo mich keiner kennt.“
Irgendwie verspürte Benno das heftige Bedürfnis, dem jungen Mann zu helfen. Er hatte nur leider nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese Hilfe genau aussehen sollte.
„Hallo, Benno“, begrüßte ihn nun sein Partner und vertrieb damit fürs Erste die Gedanken an Leon Zöllner aus Bennos Bewusstsein. „Schön, dass du endlich kommst. Wie du siehst, hat man mir mein Bett quasi schon unter dem Hintern weggenommen und ich sehne mich ehrlich danach, in meine eigenen vier Wände zu kommen.“
Er machte eine Kopfbewegung hin zu dem, mit Folie abgedeckten, sauberen Bett, das an der Stelle stand, wo tags zuvor noch Grubers Platz gewesen war. Das zweite Bett war mit einem jungen Kerl mit gebrochenem Bein belegt, der bei Bennos Eintreten nur kurz aufgeschaut und ihm zugenickt hatte.
Gruber selbst trug den linken Arm in einer Art Schlinge und stand nun mit einem erleichtert klingenden Seufzen auf.
„Dann lass uns mal“, sagte er. Und an seinen Zimmergenossen gewandt: „Wiedersehen sage ich lieber nicht. Gute Besserung weiterhin!“
Der Angesprochene lächelte und erwiderte die Abschiedsfloskel, dann waren sie draußen im Gang. Gruber trug lediglich eine graue Mülltüte mit seinen blutigen Kleidern darin und den Entlassungsbrief in der gesunden rechten Hand. Benno hatte ihm, auf seine ausdrückliche Bitte hin, am Vortag nur frische Kleidungsstücke zum Wechseln gebracht. Alles andere wäre unnötig, hatte sein Partner gemeint und nun war dessen untere Gesichtshälfte entsprechend mit grauen Stoppeln übersät. Das
ließ ihn deutlich älter scheinen, als er war, aber zumindest wirkte er einigermaßen frisch und erholt, was Benno ungemein beruhigte. Es nagte noch immer sehr an ihm, dass die Kugel, die seinen Partner verletzt hatte, eigentlich für ihn bestimmt gewesen war.
„Ist es okay, wenn wir bis zu meinem Wagen laufen müssen?“, wollte er wissen.
Gruber schaute ihn von der Seite an und hob fragend die Brauen.
„Wieso sollte das nicht okay sein? Die Scheißkugel hat mich schließlich an der Schulter erwischt, nicht an den Beinen“, erwiderte er.
„Na ja, schon. Aber – es könnte ja immerhin sein, dass du noch Schmerzen hast oder so“, wandte Benno ein.
„Halt’ die Klappe, Jungspund“, gab Gruber zurück. „Sehen wir lieber zu, dass wir hier rauskommen. Du weißt, dass ich Krankenhäuser nicht mag und daran hat sich nichts geändert.“
Benno schmunzelte kurz, nahm ihm dann jedoch mit einer entschlossenen Geste die Mülltüte aus der Hand.
„Okay“, sagte er. „Dann mal los, alter Mann.“
Zehn Minuten später saßen sie im Wagen und Benno startete den Motor. Auf dem restlichen Weg zu seinem Fahrzeug hatten sie nur ein paar belanglose Sätze gewechselt, doch jetzt, so nah beisammen auf engem Raum, fühlte sich das nicht mehr richtig an. Benno wusste, er war es seinem Partner schuldig, ihm von seinem Entschluss zu erzählen, den Polizeidienst zu quittieren. Er hatte allerdings keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Also sagte er zunächst gar nichts.
Aber auch Gruber war ungewohnt schweigsam. Fast schien es, als beschäftigte ihn ebenfalls etwas. Oder bildete sich Benno das ein? Vielleicht war ja der Wunsch Vater dieses Gedankens?
„Ich muss dir was sagen, Benno“, kam es da plötzlich von der Beifahrerseite.
Benno wandte kurz den Kopf in Grubers Richtung und fand dessen Blick auf sich gerichtet.
„Was ist los?“
„Ich … ich hab’ nachgedacht. Während der letzten beiden Tage. Darüber, wie ich weitermachen soll. Und ob ich das überhaupt will.“
Gruber sprach stockend und das war ungewöhnlich. Er schien sich ehrlich schwer zu tun, mit dem, was er sagen wollte. Doch Benno begann zu ahnen, worum es ging.
„Weitermachen?“, fragte er. „Du meinst – beruflich?“
Sein Partner nickte neben ihm.
„Ja. Auch das. Wir haben ja vor Kurzem schon mal darüber gesprochen, aber … Ich meine, ich weiß, ich hab’ immer gesagt, ich sehe keinen Sinn darin, in Pension zu gehen. Dass ich nicht wüsste, was ich dann mit mir anfangen soll. Aber als mich dann vorgestern diese Scheißkugel erwischt hat, da hab’ ich mich plötzlich gefragt, ob es wirklich das ist, was ich will. Im aktiven Dienst irgendwelche Verbrecher jagen, bis ich mir eine Kugel fange, oder, bis man mich in den Innendienst versetzt und ich dann womöglich eines Tages an meinem Schreibtisch tot zusammensacke. Oder vielleicht wache ich ja auch einfach nur eines Morgens nicht mehr auf. Bisher hat mir diese Vorstellung nie was ausgemacht. Ich hab’ ja eh sonst nichts, außer meiner Arbeit, hab’ ich immer gedacht. Aber auf einmal … ich weiß nicht warum, aber – irgendwie reicht mir das nicht mehr. Ich hab’ da in diesem Scheißklinikbett gelegen, meine Schulter hat geschmerzt und plötzlich hab’ ich denken müssen, dass es doch noch so viele andere Dinge da draußen gibt, Dinge, die ich mir ansehen und die ich erleben will. Ich meine, ich hab’ bestimmt keine Torschlusspanik oder so, verstehst du? Aber irgendwie möchte ich … na ja, einfach noch ein bisschen mehr erleben, bevor ich den Löffel abgebe.“ Er holte tief Atem. „Mit anderen
Worten: Ich lasse mich so bald als möglich in den Ruhestand versetzen.“
Benno ließ einen Moment verstreichen, den er dazu benutzte, sich zu sammeln und eine angemessene Reaktion zurechtzulegen. Seinem Partner dauerte das aber scheinbar zu lang.
„Willst du gar nichts dazu sagen?“, hakte er nach. „Von mir aus kannst du auch ruhig sauer sein, das ist völlig in Ordnung. Ich meine, ich weiß ja, dass das verdammt plötzlich kommt, und ich an deiner Stelle wäre auch angepisst, aber ich hab’ mir eben gedacht, du und Dennis, ihr geht ja sowieso weg nach Lübeck und dann …“
„Es ist in Ordnung, Horst“, unterbrach ihn Benno. „Ich bin nicht angepisst. Überrascht vielleicht, aber nicht sauer oder so.“
„Nicht?“
Gruber wirkte verblüfft, so als hätte man ihm den Wind aus den Segeln genommen.
„Nein.“
Okay, das war dann wohl jetzt der große Moment. Benno holte tief Atem und sagte: „Aber ich hab’ auch Neuigkeiten. Ich war heute früh bei Kremer und hab’ ihm meine Kündigung überreicht.“
Gruber sagte erst mal gar nichts dazu. Er schwieg sogar so lange, dass Benno schließlich den Kopf drehte und zu ihm hinüberschaute. Die Miene seines Partners wirkte konsterniert.
„Du …du kündigst
?“
„Ja.“
„Du wirfst tatsächlich komplett hin?“
„Ja!“
„Aber … wieso nun auf einmal doch? Hast du nicht neulich noch gesagt, dass du das nicht so einfach tun kannst, schon weil du ja auch einiges in deine Karriere investiert hast?“
Es klang ehrlich verständnislos. Benno war es jedoch wichtig, dass Gruber – vor allem er! – begriff, warum er zu diesem Entschluss gekommen war.
Kurz überlegte er, wie er es am besten in Worte fassen könnte, dann sagte er: „Ja, stimmt. Das hab’ ich gesagt. Es ist nur … Ich stehe nicht mehr hinter dem, was ich tue. Ich glaube, das trifft es am ehesten. Und ich will nicht, dass meine Arbeit irgendwann einfach bloß noch ein Job ist, der das Essen auf den Tisch bringt. Ich bin mal aus Überzeugung Polizist geworden, aber den Beruf auszuüben hat im Laufe der Zeit meine Sicht auf viele Dinge stark verändert. Und nicht unbedingt im positiven Sinne.“ Er schüttelte den Kopf und warf erneut einen Blick zu Gruber. „Verstehst du, was ich meine?“
„Absolut.“ Gruber nickte und stieß den Atem aus. „Wenn du es so erklärst, kann ich ganz gut damit leben, denke ich. Ein Problem wäre es für mich gewesen, wenn du jetzt gesagt hättest, du wirfst hin, weil Lukianenko auf dich geschossen, aber mich getroffen hat.“ Er lachte. „Ehrlich gesagt bewundere ich dich sogar ein bisschen. Du traust dich, rechtzeitig einen Schlussstrich zu ziehen. Ich hab’ im Laufe meines Berufslebens auch gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, es aber nie wirklich getan. Es gab immer irgendwas, was als Grund dafür herhalten musste, zu bleiben und weiterzumachen. Zuerst meine Ehe, dann mein Alter und irgendwann war es dann sowieso zu spät. Ich war so eingefahren in meinem Alltag, dass schon der Gedanke, sich noch anderweitig zu orientieren völlig verrückt zu sein schien. Aber du wagst den Schritt, Benno. Gut, wenn du nicht denselben Fehler machst. Such’ dir was anderes, irgendeinen Job, der dich ausfüllt und auf Dauer glücklich macht. Geld und Karriere allein sind schließlich nicht alles. Hast du schon eine Idee, welche Richtung du einschlagen willst?“
Benno schüttelte den Kopf.
„Nein“, erwiderte er. „Das Ganze kam zwar nicht wirklich überraschend, wenn ich jetzt drüber so nachdenke, aber es war immer noch spontan genug, dass ich mir über mein weiteres Vorgehen noch keine größeren Gedanken machen konnte.“
„Und Dennis?“, wollte Gruber wissen. „Ich schätze, er ist erleichtert, dass er in Zukunft keine Angst mehr um dich haben muss, was?“
„Er ist nicht böse darüber, nein.“ Benno lächelte. „Schauen wir mal, was er in ein paar Monaten dazu sagt, wenn er einen arbeitslosen Bullen am Hals hat, den er durchfüttern muss.“
Nun lachte Gruber.
„Wer weiß? Vielleicht freut er sich ja auch, dass er nach eurem Umzug nach Lübeck dadurch eine kostenlose Haushälterin zur Verfügung hat?“, meinte er.
„Das sagst du aber auch bloß, weil du keine Ahnung hast, wie schlecht es um meine hausfraulichen Qualitäten wirklich bestellt ist“, konterte Benno grinsend.
Sein Partner winkte ab.
„Du wirst sicher noch andere Qualitäten haben, mit denen er was anfangen kann. Da bin ich sicher. – Und nein!
“ Er hob die Hand. „Bitte keine
näheren Details jetzt!“
Diesmal lachten sie gemeinsam.
„Wenn alle Stricke reißen, kannst du dich ja bei Samuel Goldstein um einen Job bewerben“, fügte Gruber immer noch grinsend hinzu. „Der kann bei seinen Gespensterjagden doch bestimmt einen fähigen Ermittler brauchen, denkst du nicht?“
Benno verzog das Gesicht.
„Ausgerechnet Goldstein? Na, vielen Dank. Und abgesehen davon, dass er mir, als er hier war, hauptsächlich auf die Nerven gegangen ist, macht der Kerl doch normalerweise alles im Alleingang. Wozu sollte der denn einen Ermittler brauchen? “
„Keine Ahnung.“ Sein Partner zuckte die Achseln. „War ja auch nur so ein Gedanke. Immerhin habt ihr bei dem Fall der
kleinen Alicia als Team großartige Arbeit geleistet. Die Kleine wurde gefunden und eine zehn Jahre alte Akte konnte endgültig geschlossen werden.“
„Schon“, räumte Benno ein. „Aber ich und Geisterjäger? Du hattest auch schon mal bessere Ideen.“
„Na, wie auch immer, lass’ uns erst noch mal über unseren aktuellen Fall sprechen.“ Gruber machte eine auffordernde Handbewegung.
Dankbar für den Themenwechsel wölbte Benno auffordernd die Brauen.
„Was willst du wissen?“
„Also, vor allem natürlich: Wie war das jetzt mit diesem Sanjay Elwert und Lukianenko und all den anderen? Kannst du inzwischen mehr dazu sagen? Bring’ mich mal auf den neuesten Stand.“
Benno wiederholte für seinen Partner, was er morgens bereits seinem Vorgesetzten berichtet hatte, außerdem das Ergebnis seiner Unterhaltung mit Leon Zöllner und ein paar weitere Details.
„Also dieser Lukianenko war wirklich ein mieses Stück Dreck“, stellte Gruber erschüttert fest, nachdem Benno geendet hatte. Der nickte.
„Das kannst du laut sagen. Er hat offenbar alle seine Angestellten mit irgendwas erpresst. Bei Elwert war es die kleine Schwester, die er sich holen wollte. Johanna Unterlechner hat einen kleinen Sohn, der bei seinen Großeltern lebt und ihr hat er damit gedroht, das Kind zu töten, wenn sie nicht spurt. Nur bei Sylvie Metzinger wissen wir nicht, wie es genau war, weil sie sich bei der ersten Gelegenheit abgesetzt hat und im Augenblick verschwunden ist. Aber irgendwas wird er bestimmt auch bei ihr gefunden haben, um sie damit unter Druck zu setzen. Davon können wir, denke ich, ausgehen. Nur bei Timo Marquardt war es etwas anders.“
„Na ja, anders schon, aber ob es nun besser ist, jemandem der emotional bedürftig ist, Gefühle vorzuspiegeln, ihn dann mit Drogen anzufüttern und am Ende für sich anschaffen zu lassen, anstatt ihn zu erpressen oder mit Gewalt gefügig zu machen, sei mal dahingestellt“, erwiderte Gruber ironisch. „Und dieser kleine Friseur wäre vermutlich sein nächstes Opfer geworden, darauf gehe ich jede Wette ein.“
Benno nickte grimmig.
„Sehe ich genauso.“
„Und konntest du rekonstruieren, was nun eigentlich das Motiv für den Mord an Kuwilski gewesen ist?“
Benno seufzte und zuckte die Achseln.
„Vage. Aus den letzten Befragungen von Sylvie Metzinger und Johanna Unterlechner ließ sich folgern, dass es wohl irgendwelche Probleme wegen der Ablösesumme für Timo Marquardt gegeben hat. Es wäre also theoretisch denkbar, dass Kuwilski versucht hat, einen Rabatt auszuhandeln. Vielleicht hatte er ja irgendwie Wind davon bekommen, dass an Sergejs Geschäften was faul ist und wollte dieses Wissen benutzen, um den Kerl unter Druck zu setzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lukianenko das gut aufgenommen hätte. Wenn er das Geld wirklich so dringend gebraucht hat, hätte das bedeutet, er steckt ziemlich in der Klemme.“
„Oder vielleicht war es ja auch andersherum und der gute Sergej ist gierig geworden?“, überlegte Gruber laut.
Benno seufzte und zuckte die Achseln.
„Denkbar ist alles. Allerdings bleibt das alles Spekulation, da die Beteiligten tot sind und wir keinerlei Beweise für den tatsächlichen Tatablauf haben. Aber ich bin auf jeden Fall davon überzeugt, dass die Version, die uns Lukianenko und sein Anwalt aufgetischt haben, dass Timo Kuwilski im Drogenrausch getötet haben soll, kompletter Schwachsinn ist. Selbst wenn er unter Drogen stand und Kuwilski alkoholisiert war, glaube ich
nie im Leben, dass Timo es gewesen ist. Was aber leider auch keine Rolle mehr spielt, weil beide Tatverdächtigen tot sind und es deshalb auch nie zu einem Prozess kommen wird“, schloss Benno.
„Ja, leider“, stimmte Gruber zu.
Er überlegte kurz.
„Ich frage mich bloß, wie es kam, dass Timo im Besitz von ein paar der Uhren war“, meinte er nachdenklich. „Lukianenko wird sie ihm ja wohl kaum geschenkt haben, oder was denkst du?“
Benno schürzte die Lippen.
„Noch was, was wir nicht mit Sicherheit wissen. Allerdings würde ich Lukianenko durchaus zutrauen, dass er Marquardt damit zu dem Juwelier geschickt hat. Damit er nicht selbst damit in Verbindung gebracht wird, falls was ruchbar wird. Oder er hat Timo tatsächlich ein, zwei Uhren überlassen, um ihn zu belasten. Timo war mit Kuwilski ja sozusagen liiert, sicher hat er damit gerechnet, dass die Polizei diese Spur irgendwann bis zum Birkenhof zurückverfolgt.“
„Oder der Kleine hat mal wieder lange Finger gemacht“, schlug Gruber vor. „Sein neuer Sugardaddy war schließlich tot und vielleicht wollte er sich auf eigene Faust aus Lukianenkos Fängen befreien. Ihm muss schließlich klar gewesen sein, dass ihm nicht nur von Seiten der Strafverfolgungsbehörden Gefahr drohte, sondern auch von Lukianenko selbst. Immerhin war er ein Mitwisser. Aber eine Flucht kostet Geld. Und womöglich hat er gehofft, er bekommt für die Uhren genug, damit er sich absetzen und für eine Weile irgendwo untertauchen kann.“
„Könnte auch sein“, stimmte Benno zu. „Wie gesagt, das wissen wir alles nicht.“
„Und dieser Anwalt? Dr. Siegmund Dörbecker? Seid ihr wenigstens bei dem weitergekommen?“, fragte Gruber weiter.
„Sind wir“, bestätigte Benno. „Allerdings war die Sache nicht ganz so spektakulär, wie erhofft. Mit irgendwelchen
Großdealern oder so hatte es jedenfalls nichts zu tun. Scheinbar ist Dörbecker vor einiger Zeit mal Gast in der Mouse Trap
gewesen und hat sich dabei ein bisschen in Sergejs Hinterzimmer vergnügt. Privat ist der feine Herr Rechtsanwalt nämlich offenbar weit weniger tough und lässt sich ganz gerne mal auspeitschen. Sergej hat heimlich Fotos von diesem Ereignis geschossen und den Mann damit erpresst. Sylvie Metzinger hat uns das erzählt.“
„Ist nicht wahr?“ Gruber machte große Augen. „Na, da kann man mal sehen.“
Sie hatten inzwischen den Weg bis zu Grubers Wohnhaus hinter sich gebracht und Benno lenkte den Wagen an den Straßenrand.
„Soll ich noch kurz mit reinkommen?“, fragte er, als sein Partner die Tür öffnete, um auszusteigen.
„Nicht nötig. Nur weil ich mich pensionieren lasse, bin ich nicht urplötzlich zum Tattergreis mutiert, weißt du?“
Er zwinkerte, was seinen Worten die Schärfe nahm.
„Das vielleicht nicht“, konterte Benno belustigt. „Aber ein bisschen mimosenhaft stellst du dich ja neuerdings schon an, oder?“
Gruber stand inzwischen neben dem Wagen auf dem Gehweg, beugte sich in die offene Tür und sagte: „Du mich auch.“
Benno lachte.
„Sorry, aber du bist so gar nicht mein Typ, Horst. Und Dennis hätte sicher auch was dagegen.“
Sein Partner lachte ebenfalls, schlug dann die Tür zu und klopfte auf das Wagendach. Dann machte er einen Schritt rückwärts und hob die Hand. Als Benno Gas gab, winkte er, und im Rückspiegel war zu sehen, wie er anschließend sein Gesicht einen Augenblick lang in die winterlich blasse Sonne hielt, ehe er langsam auf das Haus zuging.