22.
„H
ier! Hör’ dir das an!“
Dennis und Benno saßen zusammen am Frühstückstisch und genossen es, an einem Wochentag morgens nicht in Eile zu sein. Benno war inzwischen seit drei Wochen vom Dienst befreit, aufgrund von Überstunden und Resturlaubsansprüchen und auch Dennis hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen, weil sie in Lübeck gemeinsam Wohnungen besichtigen wollten.
Sie hatten geplant, nach einem späten und ausgiebigen Frühstück, loszufahren, wollten nach ihrem Eintreffen in der Hansestadt noch einen ausgiebigen Stadtbummel machen und dann in einem kleinen, gemütlichen Hotel übernachten. Im Laufe der nächsten beiden Tage standen dann etliche Besichtigungstermine an, bevor sie wieder zurückfahren würden.
Vorerst befanden sie sich aber noch im Stadium „gemütlich und entspannt“. Ein schönes Gefühl. Zu seiner eigenen Überraschung hatte Benno festgestellt, dass er seinen Job – zumindest bis jetzt – nicht vermisste. Sein Partner Gruber arbeitete noch, aber auch er hatte seine Ankündigung wahrgemacht und einen Antrag auf vorzeitige Pensionierung eingereicht.
Kriminalrat Kremer war, wie erwartet, nicht glücklich darüber, sie alle beide quasi mit einem Schlag zu verlieren, hatte sich aber verständnisvoll gezeigt. Benno hatte im Präsidium keine große Sache aus seinem Weggang gemacht, schließlich war er
noch nicht so lange dort und seine einzigen engeren Kontakte dort waren sein Partner und Mirko Kaufmann. An seinem letzten Arbeitstag hatte er darum lediglich die beiden zum Essen eingeladen. Abends waren sie zu dritt beim Italiener gewesen und hatten dort ein paar vergnügliche Stunden miteinander verbracht. Sie hatten gegessen, Rotwein getrunken, über alles Mögliche miteinander gesprochen und jeder von ihnen hatte ein paar launige Anekdoten aus seinem Berufsleben zum Besten gegeben.
Benno hatte damit gerechnet, dass er zumindest einen Anflug von Bedauern spüren würde, doch zu seinem Erstaunen war er eher erleichtert und, auch jetzt noch, mit sich selbst im Reinen. Vielleicht, weil er sich endlich zu einem Entschluss durchgerungen hatte?
Aber was auch immer der Grund dafür gewesen sein mochte, er war überzeugt davon, dass dieser Zustand der Zufriedenheit nicht ewig anhalten würde, schon allein deswegen, weil er noch immer nicht wusste, was er von nun an machen wollte. Dennis würde an seiner neuen Wirkungsstätte genügend Geld für ihrer beider Lebensunterhalt verdienen, das war also kein Problem. Trotzdem sah sich Benno nicht als zukünftiges Hausmütterchen.
Er war es gewohnt, zu arbeiten und sein eigenes Geld zu verdienen und wollte das definitiv auch weiterhin tun. Aber noch war er entspannt genug, sich mit einer Entscheidung Zeit zu lassen, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Er hatte allerdings mit seinem Freund darüber gesprochen, denn er wollte um jeden Preis vermeiden, dass Dennis das Gefühl hatte, er, Benno, würde ihn ausnutzen.
Seine Antwort darauf war jedoch lediglich ein lächelndes Kopfschütteln gewesen, ein Kuss und ein liebevolles: „Blödmann.“
Im Augenblick saß Dennis ihm gegenüber und blätterte in der Zeitung, die Benno zusammen mit den Brötchen beim Bäcker
um die Ecke erstanden hatte und die er nun mit einem auffordernden Blick in Bennos Richtung hielt.
„Was?“, fragte der und biss in seine Marmeladensemmel, während Dennis die Zeitung in ein handlicheres Format faltete und auf einen Artikel zeigte, den er offenbar gerade gelesen hatte.
„Na, das hier.“
Sein Freund grinste breit.
„Was ist das?“
„Lies doch!“
Auffordernd streckte Dennis ihm erneut das Blatt hin.
„Nö.“ Benno grinste ebenfalls und suchte unter dem Tisch mit den Zehen nach der Wade seines Freundes. „Lies vor.“
Seufzend zog Dennis die Hand mit der Zeitung zurück und schüttelte den Kopf.
„Faulpelz“, murmelte er.
„Wenn ich selbst lese, beklagst du dich hinterher nur wieder, dass wegen meiner Marmeladenfinger die Seiten zusammenkleben“, erwiderte Benno und hielt ihm demonstrativ die Handflächen entgegen.
„Schon gut, schon gut.“ Mit einem weiteren Seufzer entfaltete Dennis die Zeitung wieder, räusperte sich und begann dann, vorzulesen.
„Also, hier steht: 'Am heutigen Tag wird mit Spannung die Urteilsverkündung im Prozess gegen Johannes H. erwartet. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, seinen ehemaligen Arbeitgeber, den in literarischen Fachkreisen nicht unumstrittenen Fantasyautor Cosmin Zellerfeld, am Tag von dessen geplanter Hochzeit, in eindeutiger Tötungsabsicht entführt und mit einer Waffe bedroht zu haben. Der Fall hatte für einiges Aufsehen gesorgt, da der Angeklagte behauptet, mit dem Geschädigten bis dato eine sexuelle Beziehung unterhalten zu haben, was dieser wiederum energisch abstreitet. Ebenfalls
Gegenstand der Verhandlung waren auch mehrere, offenbar vom Angeklagten verfasste Drohbriefe. Johannes H. gibt zwar zu, die Briefe geschrieben zu haben, besteht allerdings darauf, dies auf Anweisung des Geschädigten getan zu haben. Cosmin Zellerfeld habe damit Aufmerksamkeit generieren wollen, da seine Verkaufszahlen in der Zeit davor stetig zurückgegangen seien. Einen Beweis für diese Behauptung konnte H. allerdings nicht vorlegen. Brisanz erhielt das gesamte Verfahren dadurch, dass Zellerfeld eine Klage gegen die lokale Polizeibehörde einreichte. Der Autor behauptete darin, einzelne Vertreter derselben hätten sich im Zuge ihrer Ermittlungen wegen der Drohbriefe, in verleumderischer und ehrverletzender Weise öffentlich über ihn geäußert, wodurch sein Ansehen beschädigt und ihm ein messbarer finanzieller Schaden in erheblicher Höhe entstanden sei, aufgrund von erneut rückläufigen Buchverkäufen.
Zusätzliches Aufsehen erregten im Nachgang dieses Geschehens aber auch zwei Angriffe auf einen Kommissar, der mit Zellerfelds Fall befasst war und in der Klageschrift namentlich benannt wird. Nach Ansicht der ermittelnden Behörden lag beide Male ganz offensichtlich eine Tötungsabsicht vor.
Die ausführende Täterin, Ilona G. aus Bochum, konnte nach dem zweiten Anschlag jedoch festgenommen werden und hat bereits gestanden. Allerdings will auch sie wiederum von Zellerfeld zur Ausführung angestiftet worden sein.
Da es, im Gegensatz zum Fall von Johannes H., hier jedoch eindeutige Beweise für diese Anschuldigungen gibt, sieht sich Cosmin Zellerfeld nun ebenfalls mit einer Anklage konfrontiert und muss unter Umständen mit einer Haftstrafe rechnen. Das bekräftigte unserer Zeitung gegenüber nicht nur Benno H., der Kommissar, dem die beiden Anschläge galten, sondern auch
Samuel G. aus Hamburg, der bei einem der Angriffe ebenfalls anwesend war und dabei leicht verletzt wurde.
Dazu befragt, äußerte sich der Kommissar wie folgt: „Das war ein feiges und heimtückisches Verbrechen, akribisch geplant und vorsätzlich begangen. Noch dazu wurde eine eigentlich unbeteiligte Person auf abscheuliche Weise manipuliert und als Täterin zur Ausführung derselben benutzt. Einzig in der Absicht, ihr im Falle eines Scheiterns die alleinige Schuld anzulasten. Ich denke, man kann das durchaus als heimtückisch bezeichnen.“
Samuel G. äußerte sich in ähnlicher Weise und kündigte darüber hinaus an, beim Prozess gegen Ilona G. und Cosmin Zellerfeld als Nebenkläger aufzutreten. Benno H. ist inzwischen freiwillig aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden, führt dafür jedoch rein private Gründe an.
Eine Einschätzung der Lage von Seiten der Staatsanwaltschaft liegt uns bislang nicht vor.
Anmerkung der Redaktion: Wie wir kurz vor Redaktionsschluss erfahren haben, hat Cosmin Zellerfeld seine Klage gegen die Justizbehörde mittlerweile zurückgezogen. Wir berichten, sobald das Urteil im Prozess gegen H. gefällt ist weiter.'
Und hier ist noch ein Kasten mit der Überschrift 'Hintergrund'.“
Dennis griff nach seiner Kaffeetasse und trank einen Schluck, während Benno gespannt darauf wartete, dass er weiter vorlas. Die Erwähnung seines eigenen Namens in dem Artikel hatte ihm ein perfides Vergnügen bereitet und flüchtig fragte er sich, ob das nun bedeutete, dass er ein schlechter Mensch war. Nein, beschloss er jedoch und konzentrierte sich dann wieder ganz auf Dennis.
„Da drin steht: 'Cosmin Zellerfeld ist seinem Publikum als Autor und Herausgeber der Fantasyromanreihe 'Ryuga' bekannt.'
“, las der gerade vor. „'In dieser Geschichte findet ein
Junge namens Ryuga heraus, dass er nicht nur selbst ein Gestaltwandler ist, sondern dass es überall um ihn herum magische Wesen gibt, die weitestgehend unerkannt unter den Menschen leben. Darunter nicht nur andere Wandler der unterschiedlichsten Arten, sondern auch Drachen, Hexen, Dämonen und Ähnliches. Fans der Serie loben die Vielfalt und Ausgestaltung der Figuren, Kritiker bemängeln vor allem die fehlende Tiefe der einzelnen Charaktere und zunehmend klischeehafte Ausarbeitung der Handlungsstränge. Besonders die letzten Bände fanden immer weniger Absatz und wurden in den Fanforen teils sehr kontrovers diskutiert. Einige Leser sind der Meinung, die Serie habe inzwischen ihren Zenit überschritten und laufe sich tot.
Zellerfeld selbst gilt als schillernde Erscheinung und provoziert gern, sowohl mit seinem exzentrischen Auftreten, als auch mit öffentlichen Äußerungen. Zuletzt war er jedoch mit einer geplatzten Hochzeit in die Schlagzeilen geraten, deren Hauptzweck angeblich das Erlangen eines Millionenerbes, sowie die Unterdrückung immer wieder aufkeimender Gerüchte über seine angebliche Homosexualität waren.'
In Klammern: 'Wir berichteten.'
“
Dennis ließ das Blatt sinken und blickte über den Tisch hinweg Benno an. Der schmunzelte und nickte.
„Ziemlich treffend, oder?“
Sein Freund hob eine Braue und grinste.
„Na, na? Höre ich da etwa so was wie Schadenfreude heraus?“
„Schon möglich.“ Benno griff nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. „Und bevor du gleich fragst, ob ich mich nicht schäme: Nein. Tu ich nicht.“
„Pfui“, erwiderte Dennis gespielt vorwurfsvoll. „Kaum bist du kein Bulle mehr, wechselst du die Seiten und lebst deine niedersten Instinkte aus. Hätte ich das mal früher geahnt!“
„Du hast mein Mitgefühl“, feixte Benno. „Und willst du wissen, was ich noch getan habe?“
„Na?“
„Ich habe mich noch ein paar Mal in Meierlings Fanforen umgeschaut und mir meinen inneren Reichsparteitag gegönnt, als ich gesehen habe, was da aktuell so abgeht.“
„Und das wäre?“, wollte Dennis wissen.
„Tztztz, Herr Kasulke!“ Benno setzte eine missbilligende Miene auf, konnte aber nicht verhindern, dass seine Mundwinkel zuckten. „Wie war das gerade eben noch mit den niederen Instinkten?“
„Ich hab’ nie behauptet, dass ich keine hätte“, bekannte sein Freund freimütig.
Benno prustete leise.
„Abgründe tun sich auf!“, behauptete er. „Na ja, was soll da schon los sein? Einiges. Es gibt jede Menge Einträge à la 'Nie im Leben hätte ich gedacht, dass Cosmin so ein Fiesling ist!'
und heiße Diskussionen darüber, ob das alles nun wirklich stimmt oder nicht. Die Mehrheit tendiert inzwischen allerdings eindeutig dazu, dass es wahr ist. Natürlich gibt es auch noch die Hardcore-Fans, die ihrem Idol nach wie vor die Treue halten und auch die Verkaufszahlen seiner Bücher gehen momentan steil nach oben.“ Er zuckte die Achseln. „Wie heißt es so schön? Jede PR ist gute PR. Und wenn er tatsächlich verknackt wird – wovon ich im Augenblick mal ausgehe – dann hat er ja auch jede Menge Zeit, sich auf seine Schreiberei zu konzentrieren. Vielleicht bekommen seine Figuren dann sogar wieder mehr Tiefgang, wer weiß?“
Dennis schnaubte und wollte etwas erwidern, wurde jedoch von der Türklingel unterbrochen. Mit gerunzelter Stirn sah er zu Benno hinüber.
„Erwartest du jemanden?“, fragte er.
„Ich? Um diese Uhrzeit? Nö. – Vielleicht die Post?“, vermutete er.
Dennis war bereits aufgestanden und ging in den Flur.
„Ja?“, hörte Benno ihn in die Gegensprechanlage rufen. Gleich darauf blickte sein Freund, den Hörer in der Hand, über die Schulter zu ihm. „Okay. Kommen Sie hoch.“
Er hängte ein, betätigte den Türöffner und kehrte zu Benno zurück. Mit in die Seiten gestemmten Fäusten sah er auf ihn hinunter, die Miene eine Mischung aus Belustigung und Genervtheit.
„Woher weiß dieser Geisterfuzzi eigentlich wo du wohnst?“
„Geisterfuzzi? Wer?“ Entgeistert starrte Benno zu Dennis hoch. „Du meinst doch nicht etwa …?“
Er setzte sich aufrecht, als er plötzlich begriff. „Oh, nein! Nicht der!“
„Doch. Haargenau den meine ich.“
Stöhnend ließ Benno sich wieder zurücksinken.
„Horst“, sagte er dann grimmig. „Ich wette, den hat mir Horst auf den Hals gehetzt!“
Es schellte erneut, diesmal direkt an der Wohnungstür. Dennis schaute ihn auffordernd an und setzte sich dann wieder.
„Willst du deinen Besuch nicht reinlassen?“
Nein, eigentlich wollte Benno das wirklich nicht. Ausgerechnet Samuel Goldstein. Was machte der denn hier? Dass der sogenannte 'Paranormale Ermittler' nur rein zufällig vor seiner Tür stand, daran glaubte Benno nicht eine Minute.
Seufzend erhob er sich und ging zur Tür, um den Mann hereinzulassen. Nach einem tiefen Atemzug öffnete er und tatsächlich stand niemand anderer, als der hünenhafte Geisterjäger, draußen im Hausflur, wie üblich von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gehüllt.
„Hallo, Benno“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Darf ich reinkommen?“
Ohne den Gruß zu erwidern, trat Benno einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Geste. Samuel Goldstein schob sich an ihm vorbei, das Leder seiner Kleidung knarzte bei jedem Schritt und in einer Hand trug er einen ebenfalls schwarzen Motorradhelm.
Kaum war er ganz drinnen, blieb er höflich abwartend stehen und wartete, bis Benno die Tür geschlossen hatte.
„Bitte.“
Benno wies auf die offenstehende Küchentür, wo Dennis mit verschlossener Miene und verschränkten Armen am Tisch saß. Obwohl sein Freund mittlerweile längst begriffen hatte, dass seine Eifersucht in Bezug auf Samuel, vollkommen unnötig gewesen war, konnte er den Mann offenbar noch immer nicht besonders gut leiden. Das wusste Benno, allerdings war es ja nun auch nicht gerade so, als hätte er ihn zu sich eingeladen. Dennoch besann er sich auf seine Rolle als Gastgeber.
„Setz’ dich“, bat er seinen Besucher, der verlegen in der Küchentür stehengeblieben war.
„Oh? Ihr seid noch beim Frühstück.“
Benno winkte ab.
„Willst du auch einen Kaffee?“
„Danke, nein“, erwiderte Goldstein und lächelte wieder. „Ich hab’ vorhin in einem Backshop was gegessen, weil ich dich nicht schon in aller Herrgottsfrühe belästigen wollte.“ Er räusperte sich und rückte auf seinem Stuhl hin und her. „Dein Partner hat mir gesagt, du bist aus dem aktiven Dienst ausgeschieden?“
„Ja.“ Benno nickte. „Ich hab’ gekündigt. Es … hat sich einfach nicht mehr richtig angefühlt“, erklärte er schlicht.
Goldstein erwiderte das Nicken mit derselben Geste.
„Dein Partner – oder Ex-Partner – erwähnte so was, ja. Und als ich neulich hier war, hast du mir ja auch schon selbst davon erzählt, wie frustrierend der Job manchmal sein kann. Und … hast du schon irgendwas Neues in Aussicht?“
„Nein. Nicht wirklich.“ Benno fasste nach der Hand seines Freundes. „Allerdings konzentrieren wir uns jetzt erst mal auf die Wohnungssuche.“
Goldstein blickte auf ihre verschränkten Finger.
„Ihr zieht zusammen? Das freut mich für euch“, sagte er und es klang ehrlich.
„Na ja, nicht nur zusammen“, mischte sich nun Dennis ein. „Ich habe ab ersten Januar eine Stelle in Lübeck und dort ziehen wir gemeinsam hin. Um ganz ehrlich zu sein, haben wir auch eigentlich vor, heute hinzufahren, uns einen netten Tag in Lübeck zu machen und im Laufe der nächsten Tage ein paar Wohnungen zu besichtigen. Wir wollten nur noch zu Ende frühstücken und dann los.“
Na, wenn das mal nicht der Wink mit dem berühmten Zaunpfahl war?
Goldstein verstand ihn jedenfalls.
„Oh? Na, ich wollte euch auch sicher nicht unnötig aufhalten, Ich bin seit gestern schon in der Stadt, wegen der Sache mit diesem Meierling. Ich hab’ nachher einen Termin bei der Staatsanwaltschaft, aber dann dachte ich mir, wenn ich eh schon mal da bin, dann kann ich auch schnell vorbeikommen und Hallo sagen.“ Er zuckte die Achseln. „Zuerst war ich im Präsidium, aber nachdem dein Partner mir dann erzählt hat, dass du nicht mehr im Dienst bist, war er so nett, mir deine private Adresse zu geben. Ich wollte nicht einfach wegfahren, ohne kurz mit dir geredet zu haben, schließlich haben wir ja gemeinsam einen Fall aufgeklärt, nicht wahr? Aber wenn ihr heute noch bis nach Lübeck wollt, dann …“
Ein melodisches Trillern unterbrach ihn und Benno runzelte irritiert die Stirn. Es war sein Handy, das auf dem Tisch lag und auf diese Weise einen eingehenden Anruf meldete. Was, zum Kuckuck, war denn heute los? Erst kam Goldstein
hereingeschneit und nun nervte ihn auch noch irgendwer per Handy?
„Entschuldige mich kurz“, bat er seinen Gast genervt und griff nach dem Telefon.
Die Nummer, die angezeigt wurde, kannte er nicht.
„Hallo?“, meldete er sich kurzangebunden.
„Herr Hagemann?“
Eine junge Stimme. Bebend, leise, so als hätte der Anrufer vor irgendetwas große Angst. Vage kam Benno die Stimme bekannt vor.
„Am Apparat“, sagte er förmlich.
„Hier ist Leon. Leon Zöllner. Sie erinnern sich?“
Reflexartig spannte Benno sich an.
Er hatte aus einem spontanen Impuls heraus, dem jungen Mann bei dessen letzter Befragung, eine Visitenkarte gegeben und ihm angeboten, sich jederzeit bei ihm zu melden, wenn ihm noch etwas einfiele. Zwar hatte Benno auch da schon gewusst, dass er bald kein Polizist mehr sein würde, aber Leon Zöllner hatte etwas in ihm angerührt. Er hatte so unglücklich und verloren gewirkt. Verschlossen, beinahe schon feindselig. Und ja, hatte Benno konnte nicht leugnen, dass er sich dadurch ein wenig an sich selbst erinnert fühlte. An die Zeit nach dem sexuellen Übergriff, den er als gerade mal Achtzehnjähriger erlebt hatte und daran, wie er damals geglaubt hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Niemanden zu haben, dem er sich anvertrauen konnte und zerfressen von dem Gedanken, den Übergriff zu allem Überfluss auch noch selbst provoziert zu haben.
Er hatte Leon seine Karte gegeben, aber nicht ernsthaft damit gerechnet, jemals wieder von dem jungen Mann zu hören. Doch nun war ganz offensichtlich irgendetwas passiert.
„Natürlich“, sagte er. „Ist alles in Ordnung?“
Er hörte schnelles Atmen am anderen Ende und dann: „Nein. … Ja. … Ich … ich weiß nicht, was ich machen soll.“
Es klang leicht hysterisch.
„Okay“, erwiderte Benno. „Ganz ruhig, Leon. Atmen Sie tief durch und dann sagen Sie mir, was los ist, ja?“
„Okay.“
Ein tiefer Atemzug war zu hören und Bennos Blick fiel währenddessen auf seinen Freund und Samuel Goldstein. Beide wirkten alarmiert und der Geisterjäger hatte außerdem die Brauen zusammengezogen.
„Da ist dieser Typ, der … der taucht seit ein paar Tagen immer da auf, wo ich auch bin“, klang es in sein Ohr. „Zuerst hab’ ich ja gedacht, ich bilde mir das ein. Dass es bloß Zufall ist, dass ich Gespenster sehe, nach … nach der Sache mit … mit Sergej. Aber heute ist er auch wieder da! Er folgt mir, seit ich meine Wohnung verlassen habe und er beobachtet mich! Ich hab’ dann ein paar Mal die Richtung gewechselt und jedes Mal ist er kurz danach wieder hinter mir aufgetaucht. Was soll ich denn jetzt machen? Ich … ich hab’ Angst.“
Der letzte Satz wurde in schriller Tonlage ausgestoßen und Benno rieb sich über die Stirn, während er überlegte. Konnte es möglich sein, dass irgendjemand Leon Zöllner verfolgte? Warum? Sergej war tot und wer sollte sonst ein Interesse an dem jungen Mann haben?
Andererseits … Lukianenko war in Drogengeschäfte verwickelt gewesen und hatte, laut Aussage seiner Angestellten, bei seinen Lieferanten ziemlich in der Kreide gestanden. Gewiss, es schien erst mal weit hergeholt, dass diese Leute sich nun ausgerechnet an Lukianenkos mehr oder weniger mittellosen Lover heranmachen sollten. Andererseits … man hatte bekanntlich schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen, oder? Und falls das der Grund war, dass jemand Leon verfolgte, dann war der Kleine ernsthaft in Gefahr.
„Wo sind Sie gerade?“, fragte Benno.
„Ich bin in einen Backshop rein. In der Zelterstraße“, erwiderte Zöllner.
„Gut. Bleiben Sie auf jeden Fall da“, befahl Benno. „Ich komme Sie abholen und dann überlegen wir uns was, in Ordnung?“
„In Ordnung.“
Benno legte auf und sah sich mit den fragenden Mienen von Dennis und Samuel Goldstein konfrontiert.
„Was war das denn?“, wollte sein Freund wissen.
Benno schaute von ihm zu Goldstein und plötzlich kam ihm eine Idee.
„Wann genau ist dein Termin bei der Staatsanwaltschaft?“, fragte er den Geisterjäger.
„Um elf. Wieso?“
„Ich denke, ich könnte vorher noch mal deine Hilfe gebrauchen.“
Als sie den Backshop betraten, entdeckte Benno Leon Zöllner sofort. Der junge Mann saß ganz hinten, mit dem Rücken zur Wand an einem kleinen Zweiertisch und sah ihnen mit großen Augen entgegen. Benno, Dennis und Goldstein marschierten zielstrebig auf ihn zu, und es war klar ersichtlich, dass der große Kerl in schwarzem Leder den Kleinen im ersten Moment mächtig einschüchterte.
Benno zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran und Goldstein tat es ihm gleich, während Dennis sich auf den freien Sitzplatz sinken ließ.
Zöllner sah zwischen den drei Männern hin und her, strich sich mit einer fahrigen Geste eine Haarsträhne hinter das Ohr und machte den Eindruck, als würde er am liebsten davonlaufen.
„Das hier ist mein Lebensgefährte, Dennis Kasulke“, stellte Benno vor, dann deutete er auf Goldstein. „Und dieser Herr hier ist Samuel Goldstein aus Hamburg. Ein … Bekannter. Keine Angst, er ist weitaus harmloser, als er aussieht. Er war zufällig da, als Ihr Anruf kam und ich dachte, es wäre vielleicht keine schlechte Idee, ihn auch mitzubringen.“ Er warf einen Blick in die Runde. „Ist der Kerl noch da, der Sie verfolgt hat?“
Zöllner schaute rasch nach draußen und nickte.
„Ja. Da drüben. Vor dem Schaufenster auf der anderen Straßenseite. Der Typ, der mit dem Rücken zu uns steht.“
Benno drehte den Kopf und sah in die angegebene Richtung, ebenso, wie Dennis und Goldstein.
Er wusste augenblicklich, wen Zöllner meinte. Der Kerl war nicht besonders groß, dafür aber von gedrungenem Körperbau, ein bisschen wie ein Ringer oder vielleicht auch ein Boxer? Auf jeden Fall wie jemand, der sich zu verteidigen wusste. Die warme Daunenjacke ließ wenig Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Oberkörpers zu, doch seine eng sitzende Jeans verbarg die muskulösen Oberschenkel dafür umso weniger. Die Haare, über dem kräftigen Nacken, waren bis auf wenige Millimeter geschoren, und er schien sich gerade sehr für die Auslage des Ladens – ein Second-Hand-Markt für Elektronik – zu interessieren.
Benno runzelte die Stirn. Zöllner schien das zu bemerken und meinte offenbar, sich rechtfertigen zu müssen.
„Der steht da schon, seit ich hier reingegangen bin“, beteuerte er. „Er geht ab und zu ein paar Schritte am Schaufenster längs, aber dann kommt er immer wieder zurück.“
In diesem Moment drehte der Kerl sich um und schaute ganz unverhohlen hinüber zum Backshop. Dabei zog er ein Handy aus
der Jackentasche und warf einen Blick aufs Display, ehe er es wieder einsteckte. Anschließend ging er ein paar Meter in eine Richtung, blieb dann aber stehen, kehrte um und blieb, mit Blick auf den Backshop erneut stehen. Das war in der Tat verdächtig.
Benno prägte sich das Gesicht des Mannes ein. Rund, mit groben, kantigen Zügen und einer typischen Boxernase. So was sah man heute nicht mehr sehr oft. Selbst Verbrecher waren heutzutage meist eitel genug, um die Segnungen der modernen Medizin in Anspruch zu nehmen. Ließ sich jemand die eingeschlagene Nase nicht richten, dann oft nur aus dem Grund, weil er abschreckend und gefährlich wirken wollte.
„Und Sie sind sicher, dass Sie den Mann nicht schon mal irgendwo anders gesehen haben?“, fragte er Leon Zöllner.
Der schüttelte den Kopf.
„Nie. – Na ja, also nicht bevor das mit Sergej passiert ist“, setzte er leise hinzu. „Aber seit ein paar Tagen … wie gesagt, er scheint überall da aufzutauchen, wo ich hingehe.“
Benno registrierte, wie Goldstein unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte. Während der Fahrt in die Stadt hatte Benno ihm in groben Zügen berichtet, was dem jungen Mann zugestoßen war, und der Geisterjäger war alles andere als amüsiert gewesen.
„Was für ein mieses Schwein“, hatte er geknurrt. „Der kann froh sein, dass er schon tot ist, sonst hätte ich ihm und seinem sauberen Etablissement vielleicht mal einen Besuch abgestattet.“
Jetzt jedoch schien bei ihm ein regelrechter Beschützerinstinkt voll anzuspringen.
„Soll ich mal kurz da rübergehen und den Kerl fragen, was er von dir will?“
Er machte bereits Anstalten, sich zu erheben, doch Benno hielt ihn energisch zurück.
„Lass’ den Quatsch“, mahnte er. „Ich werde lieber versuchen, ein Foto von dem Kerl zu machen und es dann an Horst
weiterleiten. Der soll sich darum kümmern, ob es in den Datenbanken der Polizei irgendwas zu dem Typen zu finden gibt. Vielleicht hängt das ja alles irgendwie mit Sergej und dessen schmutzigen Geschäften zusammen.“
Er kramte nach seinem Handy, richtete es nach draußen und vergrößerte den Bildausschnitt so lange, bis er ein einigermaßen scharfes Foto des Unbekannten schießen konnte. Aber Goldstein war offensichtlich noch nicht bereit, es dabei bewenden zu lassen.
„Wieso ist das Quatsch?“, wollte er wissen. „Von mir aus lass’ Gruber nachforschen, aber das hilft dem Kleinen nicht hier und nicht jetzt! Der Typ da drüben macht ihm eine Scheißangst, kapierst du das nicht?“
„Doch, das kapiere ich durchaus“, entgegnete Benno eindringlich. „Aber was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Ich bin kein Bulle mehr und selbst wenn: Wenn
der Kerl da drüben wirklich irgendwas Übles vorhat und wenn
das wirklich was mit Sergej zu tun hat, dann bewirkst du mit deiner Rambo-Nummer höchstens, dass die Kerle gewarnt sind und sich beim nächsten Mal mehr in acht nehmen. Dann sind sie vielleicht vorsichtiger und keiner bemerkt sie mehr, bis es zu spät ist. Und wer weiß, was dann passiert! Hältst du das etwa für besser?“
Er sah Zöllner entschuldigend an.
„Es tut mir leid – ich habe Herrn Goldstein in groben Zügen von Ihnen und Sergej erzählt. Es erschien mir notwendig, weil ich wollte, dass er uns begleitet. Damit er weiß, worauf er sich dabei eventuell einlässt.“
„Schon in Ordnung.“ Leon winkte ab. „Es hat doch sowieso in allen Zeitungen gestanden.“ Sein Gesicht nahm einen bitteren und resignierten Ausdruck an. „Ich muss einfach hier weg. Hier bin ich bekannt wie ein bunter Hund. Nur leider ist das nicht so
einfach, wenn man keinen Job und hat und dadurch auch kein Geld. Wäre das anders, ich wäre längst nicht mehr hier.“
Er zuckte die Achseln und ließ den Kopf hängen.
Goldstein sah wieder durch die Scheibe nach draußen, wo der Fremde immer noch Wache schob. Plötzlich wandte er sich an Zöllner.
„Warst du schon mal in Hamburg?“, fragte er.
„Hamburg?“ Leon zog die Brauen zusammen. „Nein. Wieso?“
„Nuuun …“ Goldstein zog das Wort in die Länge, dann setzte er sich sehr gerade hin und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Sagen wir mal so – ich hätte da vielleicht einen Vorschlag …“