Etwa zwei Wochen nach dem Gespräch mit Ursel gaben MUSCLE CARVAGGIO ein Konzert im FIASKO, um die Veröffentlichung ihres Demos zu feiern. Ich hatte die Aufnahmen schon mal von Gino vorgespielt bekommen und fand sie ultrascheiße, was ich ihm gegenüber aber verschwieg. Ihm war mit Kritik nicht mehr zu helfen; so um 1994 rum war er auf Noiserock hängen geblieben, folglich klang der Kram seiner neuen Band genauso bemitleidenswert wie der Kram seiner letzten Band: THE JESUS LIZARD mit billo Equip.
Live war die Sache noch fremdschämiger als auf Kassette: Massi trommelte an allen vorbei, Gino verpasste jeden Break, und Ekki klang immer noch wie Kevin von den Onkelz. Es fehlte ihnen auch an Haltung. So war es leider oft bei Ginos Bands: Nicht mal sie selbst glaubten an das, was sie da taten.
»Gott, ist das scheiße!«, urteilte ich.
»Abartig scheiße!«, urteilte Beppo.
»Damit ist es noch gelobt!«, urteilte Ursel.
Wir berieten uns, was wir Gino antworten sollten, wenn er uns nach unserer Meinung fragte. Wir hatten keine Lust, ihm das Herz zu brechen. Begeisterung vorzutäuschen, kam allerdings auch nicht infrage, denn dann hätte er von uns erwartet, dass wir künftig auf jedes ihrer Scheißkonzerte fuhren. Am Ende kamen wir zur Übereinkunft, es wäre am einfachsten zu behaupten, wir fänden zu Noiserock einfach keinen Zugang. Es war zwar eine Abfuhr, doch eine, die es Gino erlaubte, sich avantgardistisch und missverstanden zu fühlen.
»Es ist zum Heulen«, sagte Ursel. »Schlimmer als Kernlose Tauben, unglaublich, aber wahr.« Das war vor etwa fünf Jahren Ginos Versuch gewesen, studentischen Deutschpunk zu spielen. »Hätte dem Trottel bestimmt auch gefallen.« Sie meinte Ekki, der einen Fuß auf den Bühnenrand gestellt hatte und so tat, als würde er abgehen. Dass Gino und Massi nach der Boxerei mit Uwe angefangen hatten, mit Ekki abzuhängen, bewies, dass sie ganz unten angekommen waren. Ich wusste nicht, was sie sich dabei dachten. Sah Gino in Ekki den Rächer seines Bruders? Sah sich Massi als Ekkis Mitstreiter, obwohl seine einzige Rolle an jenem Abend darin bestanden hatte, sich vor Uwe einzupissen und in die Gosch zu kriegen? Egal: Es war erbärmlich. Nix auf der Welt war lächerlicher als Menschen, die sich nicht abzugrenzen wussten.
»Eeej, was los, weiter!« Ekki war sogar zu blöd, um zu erkennen, dass sie aufgehört hatten zu spielen, weil Gino eine gerissene Saite wechseln musste.
Lippen streiften mein Ohr: »Ist das überhaupt Musik?«
Es war Katja Hurlebaus, und sie stand da, als hätte sie was weiß ich was für eine Pointe gemacht – hinter dem Rücken verschränkte Hände und ein zweifelndes Lächeln.
»Die sind scheiße. Meine Band ist cool!«, schrie ich, um das einsetzende Lied zu übertönen.
»Aber ihr macht auch so einen Krach, oder nicht?«
»Nein, null! Das ist Noiserock, wir machen eher so …« Ich gab es auf – die Band war zu laut, Katjas Aufmerksamkeit zu höflich. So war es um Punkrock in Calvusberg bestellt: Man musste sich vor einem Mädchen rechtfertigen, das so ein blödes PUMA-T-Shirt mit Ärmelbündchen trug: »Was machst du überhaupt im FIASKO?«
Sie zeigte zum Rand der Tanzfläche, wo sich ihre Schwester, Pirmin und Ursel in den Armen lagen: »Der Salon hat sich verabredet, also bin ich mit.«
Gerade, als ich sie fragte, was ich ihr von der Bar mitbringen soll, bekam ich eine in den Arsch gepetzt. Ich wusste, wer der Übeltäter war, ohne mich umdrehen zu müssen: Beppo. Das war sein Ding – sobald ich dabei war, mit einem Mädchen anzubändeln, setzte er alles daran, mich dabei zu nerven, indem er mich kniff, kitzelte oder heimlich die Finger in meine Taschen steckte. Jetzt musste ich aber lachen, weil ich die Hurlebaus gar nicht klarmachen wollte, war ja bloß eine Schulfreundin. Das wusste Beppo aber nicht und petzte nach, bevor er sich zurückzog.
»Dann hätte ich auch gern eine.« Katja meinte eine Cola – ihre Entscheidung war erst gefallen, nachdem sie mich gefragt hatte, was ich mir holen werde. Sie hatte mir nicht glauben wollen, dass ich keinen Alkohol trank. Es war nix Neues: Aus irgendeinem Grund glaubten alle, ich wäre für Alkohol geschaffen, und kaum jemand war bereit, sich meine Erklärung dafür, dass ich nicht trank, bis zum Ende anzuhören. Katja tat es, und als ich sie überzeugt hatte, schien sie erleichtert. Ich versuchte mich zu erinnern, was sie auf der Geburtstagsparty getrunken hatte. Besoffen war sie jedenfalls nicht gewesen – nicht mal angeschickert.
Ich hatte keine drei Schritte Richtung Bar getan, als mir Beppo am Ärmel hing – nicht, um mich über Katja auszufragen, wie ich erst dachte, sondern in Panik:
»Oh Scheiße, oh Scheiße, oh Scheiße.«
Uwe war im FIASKO. Er kam durch Neonlicht und Rauch angewalzt, ein unfrohes Grinsen, Zähne wie ein Wolf. Ihm rollte eine Welle Kahlrasierter hinterher, zehn bis fünfzehn Ochsen, allesamt Vollfaschos: Bomberjacken, Stiefel, Sonnenbrillen, Runen- und Spinnen-Tattoos am Hals – alles.
»Wir sollten weg«, sagte Beppo. »Des gibt Zores.«
»Ah, gummo do«, sagte Uwe mit giftiger Fröhlichkeit, als er uns erreichte. »Bruder, Schwessi, Fotz!« Letzteres galt Valerie, die ihm den Stinkefinger zeigte – diese Irre fürchtete wirklich niemanden. »Ab! Raus!«
»Freunde nehmen wir mit«, sagte Beppo und nahm Valeries Hand und meine, was mich rührte.
»Mach, was du willst, ich bin wegen dem da hier.« Er zeigte auf Ekki, als zielte er mit einer Pistole, und die Nazis hinter ihm nickten, grinsten, die Glatzen glänzend, auch die Sonnenbrillen, die Bomberjacken – die Lederstiefel sowieso. MUSCLE CARVAGGIO hatten aufgehört zu spielen. Ginos Verstärker rückkoppelte ein bissl; Gino würgte ihn ab. Langsam, unentschlossen schoben er und sein Bruder sich näher an Ekki heran.
»Was nun, Uwe Spitz?«, fragte einer der Nazis – damals womöglich das größte in freier Wildbahn lebende Exemplar der Spezies. Es verließ die Höhle nur, um Unschuldige ins Krankenhaus zu prügeln und sich mit Brunhildes und Freyas zu paaren. »Gehts los?«
»Gleich, Samson, gleich.« Uwes Blick blieb aus irgendeinem Grund kurz an mir hängen, und er sagte zu dem Hünen: »Schau, der da. Das ist der Landsmann von dir. Der, von dem ich dir erzählt habe.«
»Aha.« Der Nazi starrte mich fünf Sekunden lang stumm an und sprach plötzlich in gedehntem Dorftrottel-Bosnisch: »Wie heißt du?«
»Sabahudin.«
Er legte sich eine Hand auf die Brust: »Šemso Šuga. Freut mich, dich kennenzulernen. Odakle si, Sabahudine?«
»Aus Mostar.«
Was wollte diese abartige Kreatur von mir?
»Mostar. Und von welcher Seite Mostars, Sabahudine?«
»Von der muslimischen«, sagte ich.
»Bist kein Kroate?«
»Lieber wäre ich tot«, log ich – ich war ja Viertelkroate. Aber im Gegensatz zu mir hatte der gestiefelte Šemso offenbar keine Ahnung von unserer Namenskunde: Mein muslimischer Name hätte ihm reichen müssen, um meine mahala zu bestimmen – so wie sein Name mir ausreichte, um zu wissen, zu welchen Teilen meiner Verwandtschaft ich mich hier bekennen durfte.
»Lieber tot? Aha. Bist du etwa Serbe, Sabahudin?«
»Ich wäre lieber eine Frau als Serbe!«, log ich – war ja Viertelserbe (und außerdem hätte ich es interessant gefunden, für ein paar Stunden Ömmies und Mumu zu haben).
»Gut so.« Er wechselte zurück ins Deutsche: »Ihr Kinder geht jetzt lieber mal raus. Papa Samson muss Onkel Uwe helfen abzurechnen.«
»Eckhart, wir haben was zu regeln!«, schrie Uwe.
»Einer gegen einen?«, fragte Ekki.
»Wars damals awwa nit, mei Liewerle. Erinnersch dich?«
»Ekki ist nicht allein, Uwe«, sagte Gino. »Wir sind bei ihm.«
Wieso bloß?, dachte ich – auch Beppo schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich scheiß mir gleich in die Hose«, höhnte Šemso gellend. Die Truppe, die Uwe hier angeschleppt hatte, umgab etwas Mörderisches: Das waren Barbaren, die nach Fußballspielen Innenstädte demolierten, Büros unliebsamer Sozialarbeiter überfielen, Asylheime belagerten, brandschatzten, Obdachlose totstiefelten; die sich nicht wie normale Jungs ab und an aus Abenteuerlust prügelten, sondern andauernd, weil sie einen Durst zu stillen hatten.
»Gansi, auf!« Ursel versetzte Katja einen Schubser in Lisas Arme und zog mich dann mit sich – nach zwei Schritten sträubte ich mich aber: Gino bräuchte doch Hilfe.
»Was willst du beweisen?«, fragte Ursel. Katja ergriff meinen Ärmel:
»Bleib nicht!«
»Lasst mich mit den Zwillingen reden«, beharrte ich. »Sie sollen mitkommen.«
»Uwe ist nicht zum Reden hier, und die zwei Vögel sind alt genug«, sagte Beppo. »Außerdem sind die Türsteher bei ihnen. Auf jetzt!«
Er zog nun als Dritter an mir. Valerie und Pirmin waren am Treppenabsatz stehen geblieben und warteten auf uns, sich gegen die Fliesen pressend, damit Flüchtende vorbeikonnten. Auf einmal drang mir ins Bewusstsein, dass mich Ursel immer noch am Armgelenk festhielt, wie ein Kind.
Draußen stürmte es – es war, als würde man mit nassen Handtüchern geschlagen werden. Wir rannten über die Straße in den City Döner, ein Lichtwürfel in der Finsternis, wo der Besitzer auf Wunsch einer Gruppe geflohener FIASKO-Gäste bereits mit der Polizei telefonierte. Wir bestellten uns Falafelteller, besetzten einen der Stehtische am Fenster und sahen uns die Komödie bis zum Schluss an: Gedämpfter Lärm, dann Blaulichter, erst Wannen, später Krankenwagen; dann Menschen, die sich in Handschellen wie auf dem Laufsteg aufführten.
Ein Geschwisterpaar fand das alles weniger amüsant als das andere:
»Calvusberg ist so asozial«, sagte Lisa Hurlebaus. »Du ziehst hier weg, und zwar fünf Minuten nach dem Abi.«
Katja antwortete nicht. Sie schien etwas zu betrauern.
»Ich hoffe, Gino und Massi leben noch«, sagte ich.
»Massi ist ein Arschloch, aber mein Bruder ist ein Nazi.« Beppo sprach es aus wie eine Formel. Draußen riss sich ein Glatzkopf mit einem Toupet aus Blut von den Bullen los, schrie etwas und wurde niedergeknüppelt.
Lisa wiederholte, Calvusberg sei die asozialste Stadt Deutschlands. Niemand widersprach ihr, wir waren ja schon immer auch ein bissl stolz druff gewesen.
»Da ist unser Essen«, sagte Pirmin. Er ging zur Theke, um es in Empfang zu nehmen, Lisa folgte ihm nach einem Augenblick.
»Und da ist unser Uwe.« Ursel und Beppo stellten sich in den Eingang, um die Abführung ihres Bruders zu verfolgen.
»Ist es nicht besser so?«, fragte Katja plötzlich. Sie sprach leise und eilig, als müsste sie die Gelegenheit nutzen, dass wir alleine waren.
»Was meinst du?«
»Wir hier drinnen.« Sie zeigte auf den Radau vor dem FIASKO. »Die da draußen.«
Uwe war mit roher Gewalt in die Wanne gestopft worden, und Ursel schloss gerade die Glastür, als etwas Großes aus der Dunkelheit heranschoss und dagegenprallte. Es war dieser Šemso, in taumelnder Flucht vor einer Meute behelmter Bullen mit Plexiglasschildern; seine Bomberjacke klebte an der Scheibe wie ein angewehter Müllsack. Während ihn drei Polizisten mit Knüppeln in Schach hielten, begann ein vierter, ihn mit Pfefferspray einzusprühen – so großzügig, dass die Hälfte davon die Glasscheibe runterschmierte wie gelber Rasierschaum.
Und da wusste ich plötzlich, was Katja meinte.
Ursel umarmte Pirmin, der mit unseren Tellern kam, von hinten und küsste ihn auf den Hals. Er lächelte, als wäre ihm sein Glück peinlich.
Irgendwas musste sich ändern.
»Schon«, sagte ich. »Ist wirklich besser so.«