Prolog

M it einem unterdrückten Stöhnen schob er das schwere metallene Bettgestell zur Wand neben der Zimmertür. Ganz langsam, darauf bedacht, keine verdächtigen Schleif- oder Schabgeräusche auf dem Schlafzimmerboden zu erzeugen, die vielleicht von darunter wohnenden Personen gehört würden.

Noch ein kleines Stück …

Er spürte, wie ein dünnes Rinnsal zwischen seinen Schulterblättern herunterlief und sich erste Schweißtropfen auf seiner Stirn unter der Kapuze des Polypropylen-Einwegoveralls bildeten. Ein Modell, wie es in jeder Malerabteilung eines Baumarkts erhältlich war. Mit einem weiteren gepressten Stöhnen hob er das schwere Bettgestell am Kopfende an und zog es an die Schlafzimmerwand heran.

Vorsichtig!

Der weiche Teppich dämpfte zu seiner Erleichterung das Geräusch ab, das die schweren Füße des Bettgestells auf dem Fußboden verursachten.

Geschafft!

Mit einem prüfenden Blick kontrollierte er den Abstand zwischen dem etwa neunzig Zentimeter hohen oberen Gestänge des Betts und der sich jetzt in unmittelbarer Nähe dazu befindlichen Türklinke der massiven Kassettentür in etwa ein Meter Höhe.

Er hob den verschmutzten, vom Sonnenlicht ausgeblichenen orangefarbenen Spanngurt vom Boden neben dem Bett auf. Den etwa vier Meter langen und einen Zentimeter breiten Gurt hatte er auf einem ehemaligen Fabrikgelände entdeckt, nun befestigte er ihn mit mehreren übereinandergesetzten Knoten an der obersten, längs verlaufenden Stange des kupferfarbenen Bettgestells.

Keine Knoten, die ich sonst verwende …, dachte er verächtlich. Er schlang den Spanngurt mehrmals locker um den am Türblatt endenden Teil der Klinke und drückte die sich nach außen hin öffnende Tür zu einem knapp dreißig Zentimeter breiten Spalt auf. Mit dem losen Ende des Gurts in der Hand zwängte er sich, auf dem Fußboden hockend, seitlich durch den Türspalt.

In dem weitläufigen Flur des über zweihundertfünfzig Quadratmeter großen Penthouse richtete sich der Mann nun zu seiner vollen Größe auf. Er schloss die Tür hinter sich bis auf einen handbreiten Spalt, durch den er gerade noch die Hand hindurchstrecken und die Türklinke an der Innenseite ertasten und sich somit vergewissern konnte, dass sein Plan funktionieren würde.

Mit einem zufriedenen Grinsen, das allerdings auch ein heimlicher Beobachter der bizarren Szenerie nicht hätte bemerken können, da er nicht nur den Plastikoverall, sondern auch Plastikhandschuhe, Einmalüberschuhe aus Kunststoff, an deren Sohlen er dicke Filzplatten geklebt hatte, und eine FFP 2 -Maske trug, ging er wieder ins Schlafzimmer zurück.

Jetzt ging alles ganz schnell. Er drehte den Leichnam der Frau, die er vor nicht einmal fünfzehn Minuten hier in ihrem Schlafzimmer getötet hatte, in Bauchlage und fasste die Tote von hinten unter den Achseln.

Das ist alles deine Schuld, du hättest dich in Zurückhaltung üben und ein klein bisschen bescheidener sein müssen, dann wäre es nicht so weit gekommen!

Er hob den Körper an, der noch keine Totenstarre aufwies, hievte ihn auf die zerwühlte Bettdecke, auf der zahlreiche cremefarbene Seidenkissen lagen. Ein Triumph seiner Größe, Unantastbarkeit und Gerissenheit übermannte ihn, als er feststellte, dass sein Plan aufgehen würde, dass er schon im Vorfeld an alles gedacht, jeden seiner Handlungsschritte akribisch geplant und alle Eventualitäten berücksichtigt hatte. The chase is better than the catch, der alte Motörhead-Song hatte recht. Er wusste in diesem Moment nur zu gut, wie wahr das war …

Auf dem Bett, neben der mit einem Jumpsuit aus feinem Jersey bekleideten Toten kniend, löste er nun zunächst das mehrfach locker um den Ansatz der Türklinke am Türblatt geschlungene Ende des Spanngurts. Dann zog er den rücklings auf dem Bett liegenden Leichnam noch ein Stück weiter in Richtung Kopfende, sodass der Kopf mit dem blondierten, akkurat geschnittenen Bob jetzt fast die Metallstäbe am Bettende berührte.

Sein Blick fiel dabei auf ihre leeren, toten Augen. Sie schienen so etwas wie eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen auszudrücken über das, was der Mann, den sie doch so gut zu kennen geglaubt hatte, da gerade mit ihr tat.

Du unersättliches Miststück …

Wut stieg in ihm auf. Dieselbe Wut, die er in den letzten Wochen verspürt hatte, als sie ihre verdammten Spielchen mit ihm getrieben hatte.

Erpresst hast du mich! Konntest den Hals nicht vollbekommen. Und das, obwohl du alles, was du hast, und alles, was du bist, allein mir zu verdanken hast.

Und als er jetzt wieder in ihre toten Augen sah, schienen sie nichts mehr auszudrücken, er sah nur Leere in ihrem Blick. Mit der behandschuhten Rechten wischte er von der Stirn der Toten in Richtung Nasenrücken über beide Augenoberlider, die herunterklappten und die toten Augen schlossen.

Mit beiden Händen griff er nun hinter die Schultern der Toten und zog Oberkörper und Kopf zu sich heran. Beinahe sah es so aus, als würde sich die Tote im Bett noch einmal aus eigener Kraft aufrichten, und fast hätten sich ihre und seine Nasenspitzen bei diesem Manöver kurz berührt. Er war froh, dass er einen Mund-Nasen-Schutz trug. Nicht, weil er bei dieser Berührung womöglich ein Gefühl von Ekel, Reue oder überhaupt irgendeine Emotion verspürt hätte, sondern weil jegliche Übertragung von DNA -Spuren von ihm auf ihren Körper seinen Plan womöglich zunichtegemacht hätte. Auch befürchtete er für einen Moment, dass Schweißtropfen auf die Tote vor ihm oder auf das Bett heruntertropfen würden, aber dies verhinderte seine Overall-Kapuze.

Auf keinen Fall darf ich eine biologische Spur an oder auf ihrem Körper hinterlassen. Denn ich bin ja noch nie hier gewesen …

Er schlang das lose Ende des Spanngurts, das von den Verknotungen am Bettgestell abging, nun zweimal eng um den Hals der Toten. Und zwar exakt so, dass die dort an der Vorderseite des Halses annähernd horizontal verlaufende, immer noch rötliche Drosselmarke von dem Spanngurt verdeckt wurde. Die Drosselmarke würde durch ihre zunehmende oberflächliche Vertrocknung innerhalb der nächsten Stunden eine schmutzig bräunliche Farbe annehmen.

Er ließ den Leichnam los, und der schlaffe Körper glitt für den Bruchteil einer Sekunde von ihm weg, bis der Teil des Spanngurts zwischen der oberen Längsstrebe des Metallgestells und ihrem Hals straff gespannt war und unter Zug stand.

Durch seine Inszenierung der Auffindesituation der Toten – auf dem Rücken liegend in ihrem Bett, den Oberkörper leicht schräg nach oben gerichtet und das Strangwerkzeug, den Spanngurt, eng um den Hals liegend, hatte er die ursprüngliche Drosselmarke in eine Strangmarke verwandelt. Sie würde von jedem auch noch so erfahrenen Leichenschauer und polizeilichen Todesermittler als solche akzeptiert werden.

Vor allen Dingen, weil sie ja allein im Raum gewesen sein muss, als sie sich das Leben nahm …

Er erhob sich vom Bett und betrachtete zufrieden sein Werk.

Der Rest ist ein Kinderspiel.

Er hob die leere dunkelbraune Papiertüte vom Boden auf, in der er seine Utensilien – Overall, Mundschutz, Füßlinge, Plastikhandschuhe und Spanngurt – in das Charlottenburger Penthouse im noblen Ortsteil Westend transportiert hatte. Er würde keinerlei Spuren hinterlassen …

Dann trat er seitlich an die mit weißem Klavierlack lackierte Heizgitterverkleidung unter der breiten Panoramafensterfront des Schlafzimmers heran. Verdeckt von den schweren, bodentiefen, cremefarbenen Seidenvorhängen warf er einen Blick hinaus. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, von einem der weit entfernt gegenüberliegenden Wohnhäuser aus gesehen zu werden, bewegte er sich langsam, immer darauf bedacht, nicht die seitliche Deckung der Vorhänge zu verlassen.

Dann drehte er den Heizkörper auf die höchste Stufe.

Die Leichenfäulnis wird ihr Übriges tun …, ging es ihm durch den Kopf, als er sich erneut der Toten zuwandte und das nach Anlegen des Stranges um den Hals der Toten noch etwa zweieinhalb Meter lange freie Ende des Spanngurts ergriff und, wie nur wenige Minuten zuvor, erneut mehrfach um die Türklinke wickelte, sodass sich die nach außen hin öffnende Schlafzimmertür nur noch einen knapp dreißig Zentimeter breiten Spalt weit öffnen ließ. Erneut zwängte er sich in gebückter Haltung durch den Türspalt in den Flur, blieb diesmal aber vor der Schlafzimmertür hocken, die er auch jetzt wieder bis auf einen nur noch handbreiten Spalt schloss. Dann schob er beide Hände zurück in das Innere des Schlafzimmers. Diesmal fixierte er die Umwicklungen der Türklinke mit einem Doppelknoten.

Er erhob sich und überprüfte ein letztes Mal sein Werk: Die Schlafzimmertür ließ sich jetzt nur noch wenige Zentimeter weit öffnen, ehe der Spanngurt zwischen Türklinke und der zweitourig um den Hals der Toten gelegten Schlinge Zug aufnahm und eine weitere Öffnung der nach außen in den Flur öffnenden Tür verhinderte.

Als sich die Frau erhängt hatte, konnte keine weitere Person mit ihr im Zimmer gewesen sein, las er schon in Gedanken in der Ermittlungsakte, die sich demnächst mit dem Suizid von Daria Diakovska beschäftigen würde.

Er drückte auf den Knopf des zu dieser Wohneinheit gehörenden Aufzugs, der ihn direkt in die Tiefgarage des Gebäudes bringen würde. Von dort würde er sich durch den nicht kamera- oder sonst wie überwachten Notausgang in den großen umliegenden Park davonstehlen, wo ihm Büsche und Bäume reichlich Deckung boten und sich seine Spur für immer verlieren würde.