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Sonntag, 8 . April, 16 : 44 Uhr,

Berlin-Steglitz,

Psychiatrische Fachklinik Sana Mente

E s schnürte Sabine Yao auch heute das Herz zusammen, ihre Schwester Mailin so zu sehen: die gräuliche, ungesunde Gesichtsfarbe, ihr von den Psychopharmaka aufgedunsenes Gesicht, das ihren Kopf unverhältnismäßig groß in Relation zu ihrem ausgemergelten Körper erscheinen ließ, und die im Nacken von einem Haarband nur unzureichend zusammengehaltenen und wirr vom Kopf herabhängenden schwarzen Haare. Auch wenn sich Mailins psychischer Zustand in den letzten Wochen deutlich verbessert hatte, war ihr körperliches Erscheinungsbild nach wie vor bemitleidenswert.

Ihre sechs Jahre jüngere Schwester hatte schon als kleines Mädchen eine gewisse Instabilität, etwas Zorniges, in sich getragen. Als Jugendliche hatte sie die Schule vernachlässigt, sich immer wieder geritzt und dann als junge Erwachsene schließlich versucht, ihre eigene Zerrissenheit im Alkohol zu ertränken. Erst mit der Gründung einer eigenen Familie hatte sich ihr Verhalten geändert, und es war ihr viel besser gegangen. Doch seit über einem Jahr war alles anders und sie nicht mehr dieselbe.

Mailins tragisches Schicksal hatte vor fast fünfzehn Monaten am Flughafen BER seinen Lauf genommen, als ihr Mann Thanh Zhou während seiner Frühschicht im Cargo-Bereich des Flughafens BER unter einem tonnenschweren Container begraben und getötet worden war. Von einem Tag auf den anderen war Mailin mit ihren damals eineinhalb Jahre alten Zwillingstöchtern Sina und Siara auf sich allein gestellt gewesen. Und als ob sie an diesem Schicksalsschlag nicht schon schwer genug zu tragen gehabt hätte, wurde ihre Tochter Siara ein halbes Jahr später Opfer eines brutalen Gewaltdelikts, bei dem sie schwerste Kopfverletzungen und irreparable Hirnschäden davontrug. Anfangs stand Mailin sogar selbst unter polizeilichem Verdacht, ihrer Tochter das angetan zu haben. Daraufhin war sie völlig abgestürzt, auch wenn sich kurze Zeit später herausstellte, dass sie zu Unrecht verdächtigt worden war. Mailin hatte allerdings auch nach dem Beweis ihrer Unschuld weiterhin Unmengen an Alkohol konsumiert, die autoaggressiven Tendenzen aus ihrer Pubertät wieder aufgenommen und sich geritzt. Während der Untersuchung des Vorfalls um ihre Tochter war sie sogar auf eine Jugendamtsmitarbeiterin losgegangen und hatte sich zu allem Unglück auch noch ihrer darauffolgenden Ingewahrsamnahme durch Polizeibeamte widersetzt.

Und auch wenn Yao insgeheim hoffte, dass der exzessive Alkoholmissbrauch und die damit verbundenen impulsiven Ausfälle und Selbstverletzungen nun der Vergangenheit angehörten und das Leben ihrer Schwester und ihrer Kinder mit den entsprechenden therapeutischen Maßnahmen und Betreuung durch Mitarbeiter der Familienhilfe in nicht allzu ferner Zukunft wieder in geordnete Bahnen geraten würde, wusste sie als Medizinerin nur zu gut, dass ihre Schwester zeit ihres Lebens eine suchtgefährdete, labile Person bleiben würde, die durch persönliche oder familiäre Niederlagen jederzeit wieder aus der Bahn geworfen werden konnte.

Sabine Yao lehnte sich auf der Couch im Besucherzimmer zurück und suchte Augenkontakt mit Mailin, die schräg neben ihr in einem geräumigen Sessel saß. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte Yao ihrer Schwester zu.

Ich muss ihr Kraft geben. Zuversicht. Im Moment bin ich der einzige Mensch, den sie hat, die einzige Unterstützung.

»Ich habe mit Doktor Schweiger gesprochen. Er meint, die Dosisreduktion deiner Medikamente verträgst du gut, und wenn du in den nächsten vier Wochen weiter so erfreuliche Fortschritte machst, wird er die Medikamente weglassen können. Und er sagt auch, wenn du dich dann ein paar Wochen stabil zeigst, kannst du vielleicht schon Ende Mai oder Anfang Juli entlassen werden. Das hört sich doch ganz gut an, oder?«

Mailin nickte zur Erwiderung nur stumm und presste dabei die Lippen so fest aufeinander, dass sämtliche Farbe aus ihnen wich.

»Verdammt, Kleine. Das ist doch eine Perspektive. Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber du musst nach vorne schauen. Nicht zurück. Für Sina und Siara, und …«, fuhr Yao fort und überlegte kurz, ob sie sagen sollte, dass Thanh es definitiv auch so gewollt hätte, aber das Thema war immer noch so hochemotional für Mailin, dass sie sich dagegen entschied und stattdessen hinzufügte: »… und du hast mich. Wir müssen nach vorne schauen. Ich werde immer an deiner Seite sein.«

Du musst aufstehen, wieder laufen lernen, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber für dich ist es eigentlich viel mehr, als nur wieder laufen zu lernen. Du musst wieder leben lernen. Dich zurechtfinden in einem Leben ohne den Vater deiner Kinder und mit der riesigen Bürde, zwei kleine Mädchen, eines davon mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen, großzuziehen.

»Und dann? Was mache ich dann, Bine?«, fragte Mailin mit brüchiger Stimme und sah Yao aus verquollenen Augen an.

Ihr viel zu großes hellgraues Sweatshirt hing an ihr herunter wie ein unförmiger Sack, und sie leckte sich immer wieder mit der Zunge über die blassen Lippen – eine Nebenwirkung der Psychopharmaka.

Auch wenn Mailin immer noch ein Bild des Jammers war, war Yao glücklich, dass ihre Schwester antwortete und dabei auch noch adäquat reagierte auf das, was sie zu ihr gesagt hatte. Die Verzweiflung über ihre jetzige Situation schwang jedoch in jedem ihrer wenigen Worte mit. Noch zu Anfang des Jahres war mit Mailin keinerlei Kommunikation möglich gewesen, weder auf verbaler noch auf nonverbaler Ebene, an ein Gespräch gar nicht zu denken. Bis vor etwa drei Monaten hatte sie ihr Krankenzimmer nicht selbstständig verlassen, war auf Unterstützung bei der Körperpflege und Nahrungsaufnahme angewiesen gewesen und hatte immer nur apathisch dagesessen. Yao hatte sie dennoch regelmäßig zweimal die Woche besucht. Mit ihrer eingefrorenen Mimik, die keinerlei Rückschlüsse auf ihr Gefühlsleben zuließ, und mit ihrer totalen motorischen Antriebslosigkeit hatte sie dem Erscheinungsbild einer völlig entkräfteten, vor sich hin siechenden Greisin geglichen.

»Dann kommt der nächste Schritt«, beantwortete Yao die Frage ihrer jüngeren Schwester. »Rehabilitation. Du gehst ganztägig in eine ambulante Behandlung in einer – wie Doktor Schweiger es nannte – wohnortnahen Einrichtung. Es gibt in Marzahn wohl mehrere solcher ambulanten Therapieeinrichtungen. Doktor Schweiger will mir zwei oder drei nennen, die er uns empfehlen würde. Die werde ich mir ansehen und dir davon berichten. Dann entscheidest du, in welche du gehen möchtest. Es sei denn, du willst nicht zurück nach Marzahn in deine Wohnung, was ich durchaus verstehen könnte. Dann werde ich dir eine neue Wohnung suchen, und es würde auf ein ambulantes Therapiezentrum dort in der Nähe hinauslaufen. Wichtig ist nur, dass sich die ambulante Therapie nahtlos an deinen Klinikaufenthalt hier anschließt. Das ist entscheidend, damit es weiter bergauf mit dir geht. Aber wo du zukünftig mit deinen Töchtern wohnen möchtest, das entscheidest du.«

»Ich weiß es nicht, Bine. Ich weiß wirklich nicht, was ich möchte. Was ich weiß, ist, dass ich für Sina und Siara da sein möchte und dass ich es ohne deine Hilfe nicht schaffe …«

Als Yao die psychiatrische Fachklinik verließ, die neben der Behandlung psychischer Erkrankungen auch auf Entzugsbehandlungen bei Suchterkrankungen spezialisiert war, hatte die Abenddämmerung bereits eingesetzt. Der kaum bewölkte Himmel über Berlin erstrahlte in einer spektakulären Farbmischung aus intensivem Pink und hellem Lila, ein Phänomen, das auf Staub aus der Sahara zurückzuführen war. Dieses Farbspektakel war von den Meteorologen auch für die nächsten Tage angekündigt worden.

Als die Rechtsmedizinerin über den an diesem Sonntagabend fast leeren Klinikparkplatz zu ihrem Mini Cooper ging, spürte sie endlich wieder Hoffnung in sich aufsteigen. Anders als bei ihren zahllosen vorherigen Besuchen schien sich etwas getan zu haben. Zum ersten Mal empfand sie kein Gefühl von Hilflosigkeit oder Leere mehr.

Es geht aufwärts mit Mailins psychischer Gesundheit, dachte die Rechtsmedizinerin, als sie zu dem funktionalen quaderförmigen Bau mit der dunkelgrauen Klinkerfassade zurückschaute. Und da sah sie eine kleine Gestalt in einem grauen Oberteil an einem Fenster des Flurs im zweiten Stock, in der auch das Besucherzimmer lag. Dieses Mal winkte Mailin ihr zum Abschied.