Montag, 9 . April, 16 : 25 Uhr,
Berlin-Nikolassee,
Villa Kracht
Y ao passierte in Begleitung des Polizeifotografen die imposante Eingangstür und fand sich in einer großen und über beide Hauptgeschosse des Gebäudes reichenden Halle wieder, die sie mit den strahlig verlaufenden Ornamenten im Deckenbereich an ein Kreuzrippengewölbe im Inneren einer Kirche erinnerte. Die Wände waren mit dunklem Edelholz vertäfelt. Rechter Hand befand sich eine bodentiefe Fensterfront, die den Blick auf den parkähnlichen Garten freigab, in dem sich neben einigen größeren Statuen im hinteren Bereich auch ein Springbrunnen mit Wasser speienden Hirschen befand. Linker Hand waren bunte Bleiglasfenster in die Wandvertäfelung eingearbeitet, durch die sich das Sonnenlicht brach. Gegenüber dem Eingangsbereich führte eine aufwendig gearbeitete Holztreppe aus dunklem Edelholz in den oberen Stock.
Dort, wo sich der Polizeifotograf soeben in die Tiefe des Hauses entfernt hatte, erschien eine in einen weißen Ganzkörperanzug der Spurensicherung gekleidete Person, die sich als Erste Kriminalhauptkommissarin Monica Monti, langjährige Leiterin der vierten Mordkommission des Berliner Landeskriminalamts entpuppte. Die Ermittlerin mit den italienischen Wurzeln und den widerspenstigen schwarzen Locken, die unter dem Rand der Kapuze ihres Overalls herausschauten, war Yao zwar schon seit einigen Jahren von gemeinsamen Seminaren und Fortbildungen bekannt, die die Beamten von LKA und BKA gleichermaßen bei der Fortbildungsakademie der Berliner Polizei besuchten. An einem Tatort waren sich die beiden Frauen jedoch bisher noch nie begegnet.
»Frau Doktor!«, begrüßte sie die Ermittlerin, die von genauso zierlicher Statur wie Yao war.
»Wenn mich nicht alles täuscht, waren wir schon beim Du, Monica«, antwortete Yao mit einem breiten Lächeln.
»Alles klar, ich wollte nur auf Nummer sicher gehen … Wusste nicht, ob du dich noch erinnerst … Ich habe schon von Doktor Jörgensen gehört, dass du kommst. Ich gebe dir am besten erst mal ein kurzes Briefing, womit wir es hier zu tun haben, während du deinen Anzug überziehst, und dann bringe ich dich zu Doktor Jörgensen und der Toten.«
Yao signalisierte ihr Einverständnis und zog einen originalverpackten Ganzkörperoverall, die obligatorischen Plastiküberschuhe sowie Mundschutz und eine Packung mit Latexhandschuhen der Größe XS aus ihrem Tatortkoffer, den sie neben sich auf dem Parkettboden abgestellt hatte. »Hätte ich mich draußen umziehen sollen?«, fragte sie vorsichtig.
»Nein, nein. Alles in Ordnung«, erwiderte Monti, wobei sie sich den Mundschutz herunterzog und Yao jetzt ihrerseits ein breites Lächeln schenkte. »Wir sind hier in diesem Bereich schon durch mit der Spurensicherung. Clean area, sozusagen.«
Während sich Yao mit gekonnten Handgriffen ihre Schutzkleidung überzog, fasste Monica Monti den bisherigen Ermittlungs- und Kenntnisstand zusammen.
»Professor Doktor Roderich Kracht, fünfundfünfzig Jahre alt, hat heute gegen kurz nach 13 :30 Uhr seine Ehefrau, Melanie Kracht, zweiundvierzig, im Badezimmer hier in der unteren Etage seines Hauses leblos aufgefunden. Er war erst wenige Minuten vorher von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt, aus seiner – wie er sich wörtlich ausdrückte – Klinik. Kracht konnte seine Frau zunächst nicht im Haus finden, was ihn wohl irritierte, da sie eigentlich zusammen zu Mittag essen wollten, ihr Auto vor der Tür stand, ihr Haustürschlüssel im Eingangsbereich an der üblichen Stelle lag und seine Frau schließlich auch auf sein Rufen im Haus nicht reagierte. Er hatte bei Verlassen der Klinik, die anscheinend von ihm geleitet wird, aber das wird gerade noch alles ermittelt, gegen kurz nach 13 :00 Uhr vergeblich versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Na ja, wie auch immer. Er findet sie dann im Badezimmer, versucht, sie vom Boden aufzuheben, stellt dabei aber fest, dass sie tot ist. Dann hat er 110 gewählt, und die Kollegen in der Zentrale haben entschieden, sofort auch einen Notarztwagen mitzuschicken. Der Notarzt, der sogar noch kurz vor den Beamten vom hiesigen Abschnitt hier eingetroffen ist, stellte ebenfalls nur noch den Tod fest. Das war um exakt 13 :47 Uhr. Wir sind dann gegen 15 :00 Uhr eingetroffen, Jörgensen ist seit etwa vierzig Minuten vor Ort. Er sagt, ein Angriff gegen den Hals sei zum jetzigen Zeitpunkt als die wahrscheinlichste Todesursache anzunehmen. Wie auch immer … Du wirst dir selbst ein Bild machen. An der Bestimmung der Todeszeit ist er noch dran.«
Angriff gegen den Hals …, ging es Yao durch den Kopf.
»Sobald ihr die Todeszeit eingegrenzt habt, können wir wiederum den mutmaßlichen Tatzeitraum näher eingrenzen und Zeugenbeobachtungen, die in dieser Zeit gemacht wurden, konkret nachgehen. Du kennst das ja, Sabine. Momentan tappen wir noch im Dunkeln, weil das Zeitintervall von acht Stunden verdammt lang ist.«
Yao, die sich mittlerweile vollständig mit ihrer Schutzkleidung vermummt hatte und sich den Mundschutz zurechtzog, verstand nicht, was die Ermittlerin genau mit diesem Zeitintervall von acht Stunden meinte, doch Monti fuhr bereits fort: »Zuletzt lebend gesehen hat Kracht seine Frau heute Morgen gegen kurz vor 5 :30 Uhr, als er das Haus verließ. Er selbst war also in der Zeit von etwa 5 :30 Uhr bis 13 :30 Uhr außer Haus, nach seinem eigenen Bekunden. Natürlich wird das noch genau von uns überprüft werden.«
»Warum ist er so früh los?«, wollte Yao wissen. In der Medizin begann der Arbeitstag zwar immer früh am Morgen, deutlich früher als in den meisten anderen Berufen, aber für einen Chefarzt oder Ärztlichen Leiter einer Klinik schien es dann doch etwas ungewöhnlich.
»Weil Kracht immer montags und freitags von kurz vor 6 :00 bis kurz vor 7 :00 Uhr in einem Fitnessstudio eines nur Mitgliedern vorbehaltenen exklusiven Clubs trainieren geht, wie er sagte. Auch das werden wir natürlich überprüfen.«
Yao gab ein zustimmendes Brummen von sich.
»Zurück zum Tatort: bisher keinerlei Einbruchspuren. Nichts durchwühlt oder in anderem Zustand als am Morgen, als Kracht das Haus verlassen hat. Es scheint nichts zu fehlen – zumindest Stand jetzt. Vielleicht hat Frau Kracht den Täter über den Haupteingang reingelassen, allerdings stand auch eine Terrassentür im hinteren Bereich des Hauses offen, als Herr Kracht zurückkehrte. Dort gibt es eine große steinerne Freitreppe, die in den Garten führt. Da machen sich die Kollegen von der KT gerade zu schaffen. Keine Bewirtungssituation oder zum jetzigen Zeitpunkt irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass Frau Kracht Besuch hatte oder jemanden erwartet hat. Auch keinerlei Anzeichen für ein Kampfgeschehen. Wir überprüfen, wer alles einen Schlüssel zum Haus hat. Fest steht, wenn es ein Fremder war, hat der Täter sie offensichtlich überrascht, nachdem er unbemerkt ins Haus eingedrungen ist. Oder sie war bei dem Angriff völlig arglos, weil es eben kein Fremder war, sondern jemand, den sie kannte.«
»Was wisst ihr bisher über Frau Kracht und ihren Mann?«, fragte Yao, während sie es Monti gleichzutun begann und den weißen Overall an Ärmeln und Beinen mehrfach umschlug. Herzfelds Andeutungen vorhin im Sektionssaal über Professor Roderich hatten die Neugier der Rechtsmedizinerin geweckt.
»Viel wissen wir noch nicht über die Krachts. Nur dass Frau Kracht im Gegensatz zu ihrem Mann eher zurückgezogen gelebt haben soll. Wie gesagt, sie ist dreizehn Jahre jünger als er gewesen. Seit vier Jahren verheiratet. Er hat hier schon vorher gelebt. Seit wann und ob allein oder mit einer Lebensgefährtin, ist noch unklar. Laut ersten Erkenntnissen keine zerrüttete Ehe, zumindest haben die Nachbarn, die wir bisher befragt haben, nichts von Streitigkeiten berichtet. Kracht und seine Frau wurden nur selten gemeinsam in der Öffentlichkeit gesehen, aber wenn, dann wirkten sie wie ein liebevolles, harmonisches Paar.«
Yao entnahm ihrem Tatortkoffer eine bauchige Tasche aus dunklem Leder in DIN -A4 -Format, in der neben dem elektronischen Thermometer mit unterschiedlichen Sonden zur Messung von Rektaltemperatur und Umgebungstemperatur sowie einem transportablen Reizstromgerät zur Überprüfung der elektrischen Erregbarkeit der mimischen Muskulatur noch weiteres Instrumentarium wie Pinzetten, Skalpelle und kleine Asservatenbehälter verstaut waren.
Da die Erste Kriminalhauptkommissarin ihren Mundschutz wieder hochzog, ein Zeichen dafür, dass sie ihre Ausführungen fürs Erste beendet hatte, nutzte Yao die Gelegenheit, um weitere Nachfragen zu stellen.
»Das Gelände um die Villa scheint mir nicht nur äußerst gepflegt, sondern auch ganz gut nach außen hin abgeschottet. Was ist mit Überwachungskameras, Gärtnern oder sonstigem Personal?« Yao wusste, dass sie mit dieser und den noch folgenden Fragen ihr eigenes berufliches Terrain verließ. Monica Monti konnte in den vielen Jahren, in denen sie jetzt bereits die vierte Mordkommission leitete, einige beachtliche Ermittlungserfolge vorweisen. Yao hoffte deshalb inständig, dass die Ermittlerin ihr Interesse an weiteren Einzelheiten nicht falsch oder gar als Kritik verstand. Spätestens am nächsten Tag würde sie ohnehin fast alle Antworten auf ihre offenen Fragen in der dann schriftlich vorliegenden Ermittlungsakte vorfinden. Yao war einfach jedes Mal, wenn sie in einen neuen Fall einstieg, nicht nur hoch konzentriert, sondern auch interessiert an jeglichen Details, die ihren ersten Eindruck vervollständigten. Sie war damit zwar schon mehrfach bei den jeweils zuständigen Mordermittlern angeeckt, aber bei Monica Monti hatte sie das Gefühl, dass die Ermittlerin ihr das nicht übel nehmen, sondern ihre Nachfragen als professionelle Neugier verstehen würde.
»Keine Kameras. Ein Gärtnertrupp kommt wohl einmal die Woche, ganztägig jeden Donnerstag. Keine Haushaltshilfe, nicht mal eine Reinigungskraft. Frau Kracht hat das riesige Haus ganz allein bewirtschaftet und in Schuss gehalten, sagt ihr Mann. Es gibt zwar eine Alarmanlage, die war aber nicht eingeschaltet, was laut Professor Kracht jedoch nicht ungewöhnlich ist, da sie nur nachts eingeschaltet wird.«
Monti schien registriert zu haben, dass Yao ihre Vorbereitungen für die rechtsmedizinische Untersuchung der Toten beendet hatte, denn sie setzte sich langsam in Bewegung und bedeutete ihr mit einer ausladenden Schulterbewegung, ihr in den Flur rechts neben der Haupttreppe zu folgen, in dem zuvor schon der Polizeifotograf verschwunden war.
Yao schloss zu der Ermittlerin auf und fragte: »Was hat Kracht auf dich für einen Eindruck gemacht, Monica?«
»Was meinst du?«
»Ich meine …« Yao suchte nach den richtigen Worten. »Das, was hier passiert ist … Dass seine Frau tot ist, ist das eine. Das andere aber ist, dass sie offensichtlich gewaltsam getötet, Opfer eines Verbrechens wurde. Und das auch noch in ihren eigenen vier Wänden, ihrem und auch seinem Zuhause. Und er sie hier tot liegen sieht. Das macht doch was mit ihm …«
»Wie Kracht reagiert hat?«, fragte Monti. »Gefasst. Getroffen, aber gefasst, würde ich sagen.« Bei diesen Worten nickte sie hinter ihrem Mundschutz bekräftigend, wobei die viel zu große weiße Kapuze, die ihr tief in die Stirn hing, wie ein überdimensionierter Ballon vor und zurück wippte. »Als wir ihm gesagt haben, dass er uns routinemäßig seine gesamte Kleidung, die er am Körper trägt, für die Untersuchung im Labor überlassen muss, war er sofort damit einverstanden. Das habe ich schon ganz anders erlebt. Dass sich Angehörige von Getöteten aufregen, man würde sie verdächtigen und nicht seine eigentliche Arbeit machen und nach dem wahren Täter suchen. Kracht hingegen hat diese Aufforderung ausgesprochen gefasst, fast gelassen aufgenommen.«
Yao warf Monti im Gehen einen fragenden Blick zu, ob es mit dieser Bemerkung vielleicht eine tiefgründigere Bewandtnis hatte.
Aber die Erste Kriminalhauptkommissarin schien in dem schmalen Streifen, der zwischen dem Rand der Overall-Kapuze und dem Mundschutz nur Yaos Augen freiließ, ihren Blick nicht richtig einordnen zu können, denn sie berichtete weiter.
»Herr Kracht ist jetzt bei uns in der Keithstraße, zeugenschaftliche Vernehmung. In Begleitung seines Anwalts. Mit dem hat er telefoniert, als er noch hier war, und ihn zu uns ins Dienstgebäude zitiert. Professor Doktor Roderich Kracht scheint eine große Nummer zu sein. Mit eigener Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie, wie er sich ausgedrückt hat. Fakt ist, nicht mal eine halbe Stunde nachdem die Kollegen mit ihm in die Keithstraße gefahren waren, hat mein Dezernatsleiter angerufen und mir erklärt, dass dieser Fall nicht nur von großem öffentlichen Interesse ist, sondern auch der Innensenator höchstpersönlich regelmäßig über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten werde möchte.
So etwas habe ich in den gesamten zwanzig Jahren, die ich jetzt bei der Truppe bin, fast zehn davon bei der Mordkommission, noch nie erlebt. Kracht ist eine bedeutende Persönlichkeit, hat gute Kontakte und so weiter. Ich meine …«, Monti machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr, »… als ob wir nicht jeden Fall ernst nehmen und nicht immer mit größter Sorgfalt und Akribie vorgehen würden. Ich finde … na, ist auch egal.
Jedenfalls läuft die übliche Maschinerie an. Wir überprüfen sämtliche privaten und beruflichen Kontakte von Frau und Herrn Kracht, befragen die Nachbarn, ob irgendwem irgendwas irgendwann um das Haus herum oder in der Straße aufgefallen ist, ob ein Nachbar vielleicht eine Kamera hat, deren Aufnahmen wir auswerten können.«
Nachdem Yao und die Ermittlerin den letzten Teil des lang gestreckten Flurs, der ebenso imposant wie die Eingangshalle mit deckenhohem, dunklem Edelholz vertäfelt war und dann in einen weiß gestrichenen, deutlich helleren Teil übergegangen war, passiert hatten, blieb Monti vor einer geöffneten Tür stehen. »Da sind wir.«
Hinter der Tür befand sich ein Badezimmer.
»Hier liegt die Tote. Und hier hat ihr Mann sie auch gefunden.«
Yao blickte in ein überdimensioniertes Badezimmer, das ihr auf den ersten Blick ungefähr so groß erschien wie Wohn- und Schlafzimmer ihrer Wohnung zusammen, darin drei Männer in weißen Ganzkörperanzügen. Zwei der Männer beugten sich gerade zu einer Person herunter, die auf dem Fliesenboden lag. Allerdings waren von der Toten nur die nackten Füße und Beine zu sehen, der Rest war von einer whirlpoolartigen Badewanne verdeckt, die vor einer riesigen Fensterfront mit Blick auf den hinteren Teil des Gartens thronte. Bei dem dritten Mann, der immer wieder seine Position veränderte und sich mit einer riesigen Kamera immer mal wieder der Person auf dem Boden näherte, handelte es sich um den Polizeifotografen.
»Ich lasse dich jetzt deine Arbeit machen, Sabine, und höre mal nach, ob die Kollegen neue Erkenntnisse haben«, verabschiedete sich Monti. Ehe sie im Flur verschwand, drehte sie sich noch einmal zu Yao um.
»Ach, noch was, Herr Kracht meinte, seine Frau hätte in letzter Zeit vermehrt dem Alkohol zugesprochen.«
Was wir problemlos anhand ihres Blutalkoholspiegels überprüfen werden. Und wie häufig sie getrunken hat, werden wir über Alkoholismus-Marker im Rahmen der toxikologischen Untersuchung verifizieren oder falsifizieren können …, schoss es Yao durch den Kopf. Sie warf einen Blick durch die halb geöffnete Tür gegenüber dem Badezimmer, hinter der sich ein Fitnessraum befand, der mit zahlreichen chromblitzenden Geräten wie Fahrrad-Ergometer, Rudertrainer, Crosstrainer und diversen in entsprechenden Ständern und Regalen vorgehaltenen Hanteln und Gewichtscheiben in den verschiedensten Variationen und Größen keine Wünsche offenließ.
Kracht geht in ein Fitnessstudio zum Trainieren, obwohl er ein eigenes Fitnessstudio bei sich zu Hause hat? Sie würde Monti bei Gelegenheit fragen, welche Erklärung der Hausherr dafür hatte, denn die engagierte Ermittlerin mit den italienischen Wurzeln würde Roderich Kracht genau diese Frage stellen. Jede Wette …
Dann betrat Yao den Tatort.
Lars Jörgensen brummte ein »Willkommen« hinter seinem Mundschutz, als Yao zu ihm und den beiden anderen Männern in den weißen Ganzkörperschutzanzügen trat und sie begrüßte. Yao schätzte den kurz vor seiner Pensionierung stehenden Rechtsmediziner – Gerichtsarzt, wie er sich selbst gerne scherzhaft nannte – für seine fachliche Kompetenz, die sie schon mehrfach vor Gericht erleben durfte.
Zu solchen Zusammentreffen von Rechtsmedizinern verschiedener Berliner Institutionen vor Gericht kam es immer dann, wenn die »Extremdelikte« zum Beispiel einen Mordfall von den Kollegen des Landesinstituts im Verlauf eines Strafverfahrens übernommen hatten, da dieser sich im Lauf der Ermittlungen als Teil einer Serie durch ein und denselben Täter oder als politisch motiviertes Attentat erwiesen hatte, sodass Staatsschutz und der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich zogen. In der Regel wurden dann sowohl der obduzierende Rechtsmediziner des Landesinstituts als auch der später hinzugezogene rechtsmedizinische Sachverständige von Herzfelds BKA -Spezialeinheit vor Gericht geladen, und so hatten sich die beruflichen Wege von Yao und Jörgensen das eine oder andere Mal gekreuzt. Nichtsdestotrotz war die heutige Situation für die beiden Rechtsmediziner neu.
Yao wollte gerade Jörgensen und den beiden Beamten des LKA ihre Anwesenheit erklären und betonen, dass es dabei keineswegs um eine Kontrolle von Jörgensens rechtsmedizinischen Untersuchungen und den daraus resultierenden Ergebnissen oder gar um Misstrauen gegenüber seiner fachlichen Befähigung gehe, sondern dass ihre beiden Chefs wohl der Überzeugung seien, dass das im Sektionssaal geltende Vieraugenprinzip in diesem Fall auch bei der rechtsmedizinischen Tatortarbeit Anwendung finden solle, aber Jörgensen kam ihr zuvor.
»Mein Chef, Professor Ionnidis, hat Sie schon angekündigt. Die erste Leichenschau, gerade bei einem Tötungsdelikt – und um ein solches handelt es sich hier unzweifelhaft –, hat immer weichenstellenden Charakter. Und je mehr Fachleute darauf schauen, umso besser«, wandte er sich mit tiefer Stimme mehr an den Polizeifotografen und den Beamten von der Spurensicherung, der gerade mit einem angefeuchteten Wattetupfer vorsichtig über den Hals der Toten strich, um dort möglicherweise vorhandene, mit dem bloßen Auge nicht sichtbare Hautkontaktspuren – DNA -haltiges Material, das vom Täter stammte – zu sichern, als an Yao.
Sie atmete erleichtert und anscheinend gut für alle Anwesenden vernehmbar hinter ihrem Mundschutz aus, was Jörgensen mit einem knappen »Alles gut, Frau Kollegin« kommentierte.
Der anwesende Beamte der Spurensicherung war augenscheinlich ein jüngerer Kollege, wie Yao an dem blonden Haaransatz und den freundlichen grünen Augen, die noch von keinerlei Fältchen umgeben waren, festmachte und dem sie bisher auch noch nicht begegnet war. »Burkhard Henßge, KT «, stellte er sich vor.
»Sabine Yao, BKA , Rechtsmedizin.«
Yao verschaffte sich kurz einen Überblick über das an die fünfzig Quadratmeter große Badezimmer: ein langer, weiß lackierter Unterschrank, darauf eine Edelholzplatte mit zwei frei stehenden tropfenförmigen weißen Keramikwaschbecken mit glänzenden Armaturen und darüber ein Spiegelschrank, ein frei montiertes Toilettenbecken und ein entsprechendes Bidet sowie eine viertelkreisförmige Duschkabine aus rahmenlosem Glas und im Zentrum des Raumes die Whirlpoolwanne. Davor lag die Tote, der Sabine nun ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte.
Die zweiundvierzig Jahre alt gewordene Melanie Kracht war nicht nur eine sehr zierliche, sondern auch auffallend hübsche Frau gewesen, wie Yao feststellte. Sie schätzte ihr Gewicht auf etwa fünfzig Kilogramm, vielleicht sogar etwas weniger. Eine Schätzung der Körperlänge war aufgrund der Lage der Toten, die nur mit einem türkisfarbenen Seidenslip und einem gelben Seidennegligé mit dezentem hellgrauen Spitzensaum bekleidet war, nicht möglich. Melanie Kracht lag auf ihrer linken Körperseite, beide Arme nach vorne weit von sich gestreckt, die sehnigen und muskulösen Beine leicht angewinkelt, in den Kniegelenken gebeugt. Das Negligé war ihr bis über die Hüften hochgerutscht und gab den Blick auf eine wohlproportionierte Taille frei. Die mit dunkelrotem Nagellack überzogenen Finger- und Fußnägel waren makellos, und die Rechtsmedizinerin konnte auch bei genauerem Hinsehen keinerlei Abbrüche der Fingernagelränder erkennen. Doch auch die großen, spaltweit geöffneten blauen Augen der Toten mit den langen, dunkel geschminkten Wimpern und dem feinen Lidstrich, der leicht geöffnete Mund mit den vollen dunkelroten Lippen, hinter denen sich weiße Zähne zeigten, und das lange, gepflegte dunkelblonde Kopfhaar, das am Hinterkopf mit einem hellvioletten Haarband zu einem Zopf zusammengehalten wurde, konnten nicht über die Zeichen einer massiven Gewalteinwirkung gegen den Körper der zierlichen Frau vor ihrem Tode hinwegtäuschen. An dem schmalen Hals zeigten sich zahlreiche unregelmäßig konfigurierte oberflächliche Hautschürfungen, die teils streifig, teils kleinfleckig imponierten und bereits eine fortgeschrittene bräunliche Vertrocknung aufwiesen. Eine postmortale Vertrocknung, die durch die Verdunstung von Gewebswasser entstand, wenn die nur wenige Mikrometer dicke äußerste Hautschicht – Epidermisschüppchen, bestehend aus abgestorbenen, verhornten Hautzellen – durch starke Reibung oder heftigen Druck verletzt und gewaltsam abgelöst wurde. Zudem zeigte die Gesichtshaut im Bereich beider Unterlider und auf der Stirn zahlreiche kleinste punktförmige Blutungen, wie Yao feststellte, als sie sich dem Gesicht der Toten auf etwa zwanzig Zentimeter näherte. Kleinste punktförmige Blutungen, Petechien, vom Durchmesser her meist nicht größer als die Spitze einer Stecknadel, die der unbedarfte Betrachter beziehungsweise Leichenschauer bei nur oberflächlicher Betrachtung allzu leicht übersehen oder schlichtweg für Hautunreinheiten halten konnte. Yao klappte mit der behandschuhten rechten Hand Melanie Krachts rechte Ohrmuschel nach vorne und fand auch hier, in der zwischen Nacken und Hinterhaupt gelegenen Hautregion, massenhaft kleinste punktförmige, dunkelrote Einblutungen.
»Auf der anderen Seite das gleiche Bild«, hörte sie Jörgensens Bassstimme hinter sich. »Ich bin hier übrigens durch«, ergänzte er. »Ich schlage vor, Sie erheben Ihre Befunde und führen Ihrerseits auch noch mal eine Eingrenzung der Todeszeit durch, und wir vergleichen später unsere Ergebnisse. Ich gehe erst mal eine rauchen, wenn’s recht ist.«
»Einverstanden, danke«, erwiderte Yao. Und dann an den Fotografen gewandt: »Sie haben das schon alles?«
Der nickte zustimmend und ergänzte, als Jörgensen den Raum verlassen hatte: »Ich halte mich im Hintergrund bereit, vielleicht haben Sie ja doch noch den einen oder anderen Befund, der uns bisher entgangen ist.«
»Danke.«
Yao zog ihr Handy aus einer der Seitentaschen ihres Schutzanzugs und schoss ein paar Übersichtsaufnahmen der Örtlichkeit des Badezimmers und dann aus verschiedenen Blickwinkeln Fotos der toten Melanie Kracht auf dem Fußboden vor ihr. Aus Erfahrung wusste sie, dass eigene Aufnahmen im Nachhinein manchmal hilfreich waren bei der Erstellung des Leichenfundortberichts, um sich Gegebenheiten wieder ins Gedächtnis rufen zu können, da die Lichtbilder der KT -Fotografen den Rechtsmedizinern immer erst einige Tage später zugingen.
Mit einem surrenden Geräusch zog Yao den Reißverschluss ihrer braunen Ledertasche auf und entnahm eine Pinzette aus Edelstahl.
»Darf ich?«, wandte sich Yao fragend an Kriminaltechniker Henßge, der gerade das Wattestäbchen mit dem Abrieb von der Halshaut in ein längliches Plastikröhrchen steckte und dieses dann auf dem dafür vorgesehenen Etikett beschriftete.
»Nur zu …«, lautete die Antwort des Mannes im weißen Ganzkörperschutzanzug, als er sich zu einem aufgeklappten Alukoffer beugte, um das Plastikröhrchen zu anderen dort bereits fein säuberlich aufgereihten Röhrchen mit darin enthaltenen Wattestäbchen zu legen. »Ich muss eh auf die Kollegen warten, die noch an der Terrasse und im Wintergarten zugange sind, bevor wir uns an die Faserspuren hier im Raum machen.«
Yao wusste, was das bedeutete. Die Kriminaltechniker würden in den nächsten Stunden in dem gesamten Raum mit einer sogenannten forensischen Lichtquelle agieren. Dieses Streiflicht wurde seitlich auf plane oder auch unebene Oberflächen projiziert, und durch ihren Schattenwurf wurden kleinste Faserspuren sichtbar gemacht. Die Kollegen von der KT würden zusätzlich den Tatortbereich, mit dem der oder die Täter wahrscheinlich in Berührung gekommen waren – wie etwa die Badezimmertür oder der Whirlpool, in deren unmittelbarer Nähe sich das Tatgeschehen sehr wahrscheinlich abgespielt hatte –, mittels Tape Lifting bearbeiten. Dabei handelte es sich um eine Klebebandmethode, bei der mit einem mehrere Zentimeter breiten und transparenten speziellen Spurensicherungsklebeband die betreffenden Gegenstände Zentimeter für Zentimeter systematisch »abgeklebt« wurden, um etwaige mit dem bloßen Auge auch unter Zuhilfenahme von Streiflicht und einer Lupe nicht sichtbare Mikrofaserspuren sicherzustellen.
»Brauchen Sie mehr Licht?«, fragte Henßge.
Yao verneinte, da das Tageslicht, das durch das riesige Panoramafenster hereinfiel, das Badezimmer ausreichend ausleuchtete und Yao ohnehin schon mehrfach die Erfahrung gemacht hatte, dass wesentliche rechtsmedizinische Befunde auf der Leichenhaut – wie oberflächliche Hautabschürfungen, kleinste Einblutungen in den Lidhäuten oder Sekretspuren – unter Zuhilfenahme von Kunstlichtquellen manchmal nicht in ihrer eigentlichen Ausprägung zur Darstellung kamen.
Die Rechtsmedizinerin kniete sich neben den Kopf der Toten und fasste mit ihrer Pinzette zunächst das rechte, dann das linke Augenoberlid und zog es jeweils vorsichtig in Richtung der Stirn nach oben, um die Lidhäute inspizieren zu können. Dann drehte sie die längliche, im Spitzenbereich abgerundete Edelstahlpinzette, die sie jetzt wie ein Sushi-Stäbchen zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, langsam um etwa hundertachtzig Grad in der eigenen Achse und wickelte so erst das rechte und danach das linke Augenoberlid um die Pinzette. So konnte sie auch die Augenbindehäute in dem Bereich des Übergangs vom Augapfel zur Innenseite der Augenlider beurteilen. Alles andere hätte mich auch verwundert, dachte Yao, denn überall bot sich ihr das gleiche Bild: massenhaft teils punktförmige, teils kleinfleckförmige und teils auch zu wenigen Millimetern großen Blutungen konfluierende Punktblutungen, Petechien, in den Lidhäuten und Bindehäuten beider Augen. Herzfeld hatte deren Aussehen in einer Vorlesung in Kiel, die sie vor fast zwei Jahrzehnten als junge Studentin besucht hatte, mit den Sprenkeln auf Wachteleiern verglichen. Damals hatte er das Foto eines Wachteleis neben die Petechien in den weit hochgezogenen Oberlidern eines Erdrosselten gehalten – sehr drastisch, aber auch sehr einprägsam. Yao machte mehrere Fotos von den Hautabschürfungen am Hals und von den Petechien und begann dann mit den Untersuchungen zur Eingrenzung der Todeszeit. Dafür musste zunächst der Ausprägungsgrad der Totenstarre festgestellt werden, danach galt es, Intensität und Wegdrückbarkeit der Totenflecke zu beurteilen sowie etwaige noch vorhandene Erregbarkeit der mimischen Muskulatur mittels Reizstrom zu prüfen. Schließlich mussten Umgebungstemperatur und Körperkerntemperatur gemessen werden, letztere über eine durch den Anus in den Enddarm eingeführte Sonde.
Die Leichenstarre der Toten war in allen von Yao überprüften großen und kleinen Gelenken bereits stark ausgeprägt. Yao warf einen Blick auf ihre geliebte Armbanduhr. Ein Geschenk ihres viel zu früh verstorbenen Vaters zu ihrem bestandenen dritten Staatsexamen in Medizin. 17 :23 Uhr. Sie notierte sich die Uhrzeit in einem kleinen abgegriffenen Notizbuch, in dem sie ihre sämtlichen Beobachtungen und Untersuchungsergebnisse an Tatorten festhielt.
Dann brach sie die Leichenstarre im rechten Ellbogengelenk der toten Melanie Kracht, indem sie mit der linken Hand den Oberarm der Toten fixierte und mit der rechten den Unterarm der Toten mehrfach mit großer Kraft im gesamten Bewegungsumfang des Ellbogengelenks hin- und herbewegte. Zunächst noch gegen den Widerstand der das Ellbogengelenk versteifenden Totenstarre von Oberarm- und Unterarmmuskulatur, der aber schließlich nachgab. Mit dieser Technik überprüften Rechtsmediziner, ob die Totenstarre nach ihrer gewaltsamen Lösung, dem »Brechen«, nach einiger Zeit wieder eintrat. Daraus ließen sich wertvolle Hinweise auf das postmortale Intervall erlangen, also die Zeit, die seit dem Tod bereits vergangen war.
Yao schaltete ihr Diktafon ein und sprach: »Die Totenstarre in allen großen und kleinen Gelenken kräftig ausgebildet. Brechen der Totenstarre im rechten Ellbogengelenk um 17 :23 Uhr. Ziffer. Die Totenflecken entsprechend der Auffindeposition in rückwärtigen und linksseitigen Körperpartien ausgebildet, korrespondierende Aussparung der Aufliegeflächen. Die Totenflecken von blauvioletter Farbe, mäßig kräftig ausgebildet, auf kräftigen Fingerdruck vollständig zur Abblassung zu bringen. Ziffer.« Die »Wegdrückbarkeit« von Totenflecken, die relativ simpel mit Druck einer oder mehrerer Fingerkuppen auf die Haut innerhalb eines Totenfleckareals überprüft wurde, war ein weiteres Kriterium zur Eingrenzung der Todeszeit. Totenflecken waren nur innerhalb der ersten zwanzig Stunden postmortal durch kräftigen Druck noch wegdrückbar, um, falls dies der Fall war, kurze Zeit später wieder aufzutauchen. Das zugrunde liegende Phänomen war nichts anderes, als dass die roten Blutkörperchen, die sich entsprechend der Schwerkraft nach dem unwiederbringlichen Herz-Kreislauf-Stillstand in den Blutgefäßen der Haut ansammelten und so die Totenflecken bildeten, noch in den Blutgefäßen verschiebbar waren. Was nach etwa zwanzig Stunden postmortal nicht mehr der Fall war, da die Zellmembranen der roten Blutkörperchen zerfielen.
Yao sah erneut auf ihre Armbanduhr und notierte unter Umgebungstemperatur die von ihr mit ihrem digitalen Thermometer um 17 :34 Uhr direkt neben der Toten auf gleicher Höhe über Bodenniveau gemessene Raumtemperatur von dreiundzwanzig Grad Celsius. Dann wechselte sie über den kleinen Steckanschluss am Thermometergehäuse die Temperatursonde und führte den schmalen, etwa zwanzig Zentimeter langen Metallstab über den Anus der Toten, wobei sie den Slip zur Seite schob, vorsichtig etwa zehn Zentimeter weit in den Enddarm hinein, bis sie an der Spitze der Sonde einen Widerstand spürte. Sie beließ die Temperatursonde im Körper von Melanie Kracht.
Als Nächstes zog sie das Reizstromgerät aus ihrer Ledertasche und wandte sich erneut dem Gesicht der Toten zu. Wieder ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr. 17 :38 Uhr. Auch bei dem Reizstromgerät, das zur Eingrenzung der Todeszeit in der Rechtsmedizin seit vielen Jahrzehnten Anwendung fand, befand sich am Gerätegehäuse ein kleiner Steckanschluss, über den aber keine Temperatursonde, sondern Einstichelektroden angeschlossen wurden. Die blanken, spitzen Metallenden dieser zwei Kabel wurden nebeneinander etwa einen halben Zentimeter tief durch die Haut des Oberlidrandes gestochen und dort in der Augenringmuskulatur platziert. Dann wurde über einen Schalter am Gerät ein elektrischer Reizimpuls von definierter Stromstärke und Impulsfrequenz gesetzt. So konnte überprüft werden, ob die mimische Muskulatur des Gesichts des Toten diesen elektrischen Reiz noch mit einer Kontraktion, also einer Zuckung der Gesichtsmuskeln, beantwortete, was innerhalb der ersten sechs bis acht Stunden nach dem Tod noch die Regel war. In einem zweiten Untersuchungsgang wurden die Nadeln der Elektroden über die Haut neben dem rechten und linken Mundwinkel eingestochen, so im Mundringmuskel platziert und das Prozedere durch Auslösen des elektrischen Reizimpulses wiederholt. Auch hier wurde getestet, ob es zu einer postmortalen Kontraktion der mimischen Muskulatur in diesem Bereich kam.
Es hatte durchaus etwas Gespenstisches, wenn nach Betätigen des Schalters am Reizstromgerät sich die Mimik des Toten veränderte, wenn das vorher regungslose, maskenhafte Gesicht mit einem Mal ein Auge heftig zusammenkniff oder die Lippen aufeinanderpresste, als würde der Tote Grimassen schneiden.
Doch im Fall der toten Melanie Kracht blieb jegliche Reaktion im Gesicht aus. Yao zog die kleinen Nadelelektroden vorsichtig heraus, wischte die Elektrodenspitzen mit einem alkoholischen Tupfer sauber, verstaute das Gerät wieder in der Ledertasche und machte sich ein paar Notizen. Sie sah ein weiteres Mal auf ihre Armbanduhr und las die gemessene Rektaltemperatur auf der digitalen Anzeige des elektronischen Thermometers ab: 32 Grad Celsius . Sie notierte diesen Wert und die Uhrzeit 17 :45 Uhr daneben in ihrem Notizbüchlein. Vorsichtig zog sie die Rektalsonde aus dem Anus der Toten und wischte die schmierigen, bräunlichen Kotanhaftungen zunächst mit einem Papiertuch, dann mit einem Alkoholtupfer von dem länglichen Metallstab ab, ehe sie die Elektrode aus der Steckverbindung des Thermometergehäuses löste und Thermometer und Sonde wieder in ihrer Ledertasche verstaute.
Zuletzt überprüfte sie, ob die von ihr vor fünfundzwanzig Minuten im rechten Ellbogengelenk der toten Frau gewaltsam gelöste Totenstarre Zeichen eines Wiedereintritts der Totenstarre, also eines erneuten Erstarrens der Muskulatur von Ober- und Unterarm und einer dadurch bedingten Versteifung des Ellbogengelenks aufwies.
Fehlanzeige …
Yao setzte sich jetzt auf den Wannenrand des Whirlpools, machte sich eine weitere kurze Notiz und nahm wieder ihr Diktafon an sich.
»Um 17 :48 Uhr noch keinerlei Zeichen eines Wiedereintritts der Totenstarre im rechten Ellbogengelenk«, diktierte sie und warf einen Blick in ihr Notizbuch. »Die um 17 :34 Uhr gemessene Raumtemperatur beträgt dreiundzwanzig Grad, die um 17 :45 Uhr gemessene Rektaltemperatur zweiunddreißig Grad. Geschätztes Körpergewicht der Toten fünfzig Kilogramm. Der Leichnam war nur mit einer dünnen Lage bekleidet, nämlich mit Slip, schulter- und dekolletéfreiem Negligé, deshalb wird ein Korrekturfaktor von 1 ,1 zugrunde gelegt. Keinerlei elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur um 17 :38 Uhr bei definiertem Reizimpuls von dreißig Milliampere und Impulsdauer von zehn Millisekunden, weder an Musculus orbicularis oculi noch an Musculus orbicularis oris.«
Yao überlegte kurz, legte das Diktafon wieder neben sich auf dem Wannenrand ab und öffnete in ihrem Handy die App zur Berechnung der Todeszeit. Dann gab sie, immer mal wieder einen rückversichernden Blick in ihr Notizbuch werfend, die soeben erhobenen Befunde in die jetzt auf dem Handydisplay erschienenen Felder ein. Nachdem sie noch einmal alle Eingaben überprüft hatte, drückte sie die Returntaste, und es erschien die wahrscheinliche Todeszeit der strangulierten Arztehefrau mit dem zugehörigen Konfidenzintervall, also dem Bereich, in dem die tatsächliche Todeszeit mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit lag.
Melanie Kracht starb am heutigen Vormittag zwischen 10 : 00 und 12 : 00 Uhr.
Yao verließ das Badezimmer und bog in dem langen Flur nach links ab, da sie aus dieser Richtung Stimmen vernahm und immer wieder für Sekundenbruchteile aufblitzende Blitzlichtfragmente wahrnahm
Der Flur führte in einen riesigen, salonartigen Raum, der eine Deckenhöhe von etwa vier Metern aufwies, über getäfelte Wandverkleidungen und eine weiß-gelbe Kassettendecke verfügte und mit einem riesigen Billardtisch, diversen hellbraunen Chesterfield-Sofas und gewaltigen Chesterfield-Sesseln möbliert war. Die ledernen Sofas und Sessel bildeten einladende Sitzgruppen um antike Couchtische und kleinere Beistelltische.
In einem der Sessel entdeckte sie Lars Jörgensen, immer noch in seinem weißen Ganzkörperoverall mit Maske und Handschuhen.
Er winkte Yao zu sich heran: »Ich glaube, Sie sind hier falsch, Frau Kollegin, das hier ist das Herrenzimmer.« Er lächelte. »Aber ich freue mich über Gesellschaft. Und keine Sorge, die Spurensicherung ist schon durch, das ist also clean area .«
Dankbar ließ sich Sabine neben Jörgensen in einen der riesigen Sessel fallen, in dem sie regelrecht versank.
Die beiden Rechtsmediziner tauschten ihre jeweiligen Untersuchungsergebnisse aus, und Yao war beruhigt, dass Jörgensen auch zu dem Schluss gekommen war, dass Melanie Kracht irgendwann zwischen 10 :00 und 12 :00 Uhr an diesem Vormittag gestorben war. Dieser Zeitraum musste auch der Tatzeit entsprechen, in der sich der oder die Angreifer im Haus befunden hatten, denn die Zeichen eines Angriffs gegen den Hals der zierlichen Frau waren so massiv, dass Melanie Kracht diesen nicht längere Zeit überlebt haben konnte.
Nachdem Jörgensen und Yao sich über ihr weiteres Vorgehen abgestimmt hatten, suchten sie die leitende Ermittlerin Monica Monti, die sie in einem neben dem Salon gelegenen, lichtdurchfluteten Wintergarten antrafen. Monti telefonierte gerade mit ihren Kollegen in der Keithstraße, die anscheinend die Vernehmung von Roderich Kracht beendet hatten.
Aufgrund der zahlreichen prachtvollen exotischen Pflanzen wirkte der Wintergarten auf Yao eher wie ein Gewächshaus in einem botanischen Garten als ein privater Wohnraum. Auf seinem Boden standen zwei sperrige, silberfarbene Schrankkoffer der Spurensicherung, die wie eine Kreuzung aus überdimensioniertem Werkzeugkasten und altmodischem Kühlschrank aussahen. In ihrem Inneren befanden sich alle möglichen Utensilien wie Kontrastpulver, DNA -Abstrichröhrchen, Spezialklebefolie zur Sicherung von Faserspuren, diverse Asservatenbehälter, streichholzschachtel- bis schuhkartongroß, dicke, dunkelbraune Papiertüten in allen Größen, verschiedene Wasserwaagen, Schraubenschlüssel, Akkuschrauber, Bohrmaschinen und Scheinwerfer.
Kriminaltechniker in weißen Ganzkörperanzügen waren mit der Sicherung möglicher tatrelevanter Spuren beschäftigt. Einige streuten schwärzliches Kontrastpulver aus, das zum Auffinden von Fingerabdrücken diente, und brachten über den bestreuten Flächen eine spezielle Folie an. Zur Sicherung von Faserspuren klebten sie das Interieur des Wintergartens Zentimeter für Zentimeter systematisch mit transparentem Spurensicherungsklebeband ab.
Als Monti ihr Telefonat beendet hatte, berichteten Jörgensen und Yao von ihrer übereinstimmenden Eingrenzung der Todeszeit auf 10 :00 bis 12 :00 Uhr vormittags.
»Damit fällt ihr Mann schon mal aus dem Kreis der Verdächtigen, wenn sich seine Angaben bestätigen«, kommentierte die Ermittlerin. »Ich danke Ihnen, ich gebe das gleich an die Zentrale weiter, damit die Kollegen bei ihren Zeugenbefragungen den relevanten Zeitraum entsprechend eingrenzen können.«
»Ein letzter Punkt noch. Naturgemäß basieren unsere Todeszeitberechnungen vor Ort auf einem geschätzten Körpergewicht der Toten, da wir hier keine Möglichkeit haben, den Leichnam zu wiegen. Wenn sich im Landesinstitut – denn ich denke, dorthin wird Frau Krachts Leiche gebracht?« Fragend sah Yao Jörgensen an, der zustimmend nickte. »Wenn sich beim Wiegen im Institut herausstellt, dass das tatsächliche Körpergewicht der Toten von dem von uns geschätzten Körpergewicht um zwei Kilo mehr oder weniger abweicht, müssen wir die Todeszeit noch einmal neu berechnen.«
»In zwei bis drei Stunden wissen wir Genaueres«, schaltete sich Jörgensen nach einem Blick auf seine Uhr ein.
Yao nickte zustimmend und verabschiedete sich. Im Gehen hörte sie, wie Jörgensen mit der Leiterin der vierten Mordkommission vereinbarte, mit der Obduktion gegen 20 :30 Uhr an diesem Abend zu beginnen.