Mittwoch, 11 . April, 10 : 15 Uhr,
Berlin-Steglitz,
Psychiatrische Fachklinik Sana Mente
M ailin fühlte sich einfach nur schrecklich. Die vergangene Nacht war die Hölle gewesen. Schlaflos hatte sie sich von einer Seite der Matratze auf dem schweißnassen Bezug zur anderen Seite gewälzt. Sie kannte diese Phasen. Das unbändige Verlangen, nur einen Schluck Alkohol zu trinken.
Nur einen einzigen Schluck, mehr nicht. Um meinen Körper in den Griff zu bekommen. Um etwas runterzufahren, um weitermachen zu können, um endlich wieder zu funktionieren.
Es waren jetzt gute neun Monate her, dass sie das letzte Mal ein Glas getrunken hatte. An den genauen Tag konnte sie sich nicht erinnern, zu grausam waren damals die Ereignisse gewesen. Erst der Tod ihres geliebten Thanh, dann der brutale Angriff auf ihre kleine Siara. Die Tage danach hatte sie in einem dicken Nebel aus Betäubung und Wut verbracht.
Seit sie im Sana Mente war, zählte sie die Tage, die sie ohne Alkohol hinter sich gebracht hatte. Jeder Tag ein kleiner Erfolg. Ein Erfolg nach dem nächsten.
Morgen schaffe ich das auch wieder …
Das hatte man ihr in der Therapie beigebracht. Was man ihr nicht beigebracht hatte, war, wie sie sich dem Dämon entzog, wenn er ihr nachts auflauerte. Wenn sie allein war. Allein mit ihren Gedanken, mit ihren Schuldgefühlen, aber auch mit dem Drang, dem unbändigen Drang, etwas zu trinken. Sie hatte eine Zeit lang zu hoffen gewagt, sie wäre über diesen Punkt hinweg, an dem alle Gedanken nur um Alkohol, um den nächsten Schluck kreisten.
Es wird nie aufhören. Der Geist aus der Flasche wird Ihnen immer ins Ohr flüstern. Er wird Sie für den Rest Ihres Lebens begleiten. Das wird niemals aufhören, Frau Zhou, hatte Doktor Schweiger gesagt. Sie werden aber lernen, es in den Griff zu bekommen, den Geist in der Flasche zu halten. Deshalb sind Sie hier.
Die letzten Tage waren gut gewesen, die meisten Nächte auch. Sie war ihrer Schwester Sabine unendlich dankbar dafür, dass sie für sie da war, für sie einstand, ihr die Entscheidungen abnahm, die sie selbst nicht treffen konnte. Oder wollte. Wie sie sich selbst dafür hasste. Dieser verdammte Kontrollverlust, das Verheimlichen, die Lügen.
Dieser Selbstbetrug.
Aber auch jetzt, zwei Stunden nach dem Frühstück, das für Mailin lediglich aus zwei Tassen schwarzem Kaffee bestanden hatte, weil sie das Gefühl gehabt hatte, sie müsse sich definitiv übergeben, wenn sie feste Nahrung zu sich nahm, war er immer noch da.
Der Drang. Der Dämon.
Ihr Mund war trocken, die Zunge fühlte sich pelzig an. Nicht mal zum Zähneputzen hatte sie die Kraft. Am Nachmittag stand Kunsttherapie auf dem Plan. Lächerliche Töpferarbeiten und Leinwände mit Pinselstrichen bekritzeln. Gott, wie ich das hasse. Ich bin vielleicht alkoholkrank, aber ich bin doch nicht behindert!
Der Elf-Uhr-Termin bei Doktor Schweiger würde heute und morgen ausfallen, da er sich auf einem Kongress irgendwo im Brandenburger Umland befand. Sie könnte zu der Jovanovic gehen. Das hatte Schweiger ihr gesagt. Nein, eher ans Herz gelegt. Aber wie sie diese Frau hasste. Dieser harte serbische Akzent, dieses rollende R, diese stakkatoartig klingenden Worte. Sätze, die wie ausgespuckt erschienen.
Fast, als ob sie sich bei jedem Wort übergeben müsste …
Diese Frau hatte etwas gegen sie. Das hatte sie sofort gespürt, bei der ersten Sitzung mit ihr, als Doktor Schweiger ein paar Tage im Urlaub gewesen war.
Nur einen Schluck. Nur einen verdammten Schluck …