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Mittwoch, 11 . April, 11 : 17 Uhr,

Berlin-Steglitz,

Psychiatrische Fachklinik Sana Mente

B lutrote Wolken waren aufgezogen. Mailin lag schweißgebadet rücklings ausgestreckt auf dem ungemachten Bett in ihrem Klinikzimmer, die Hände rechts und links von ihrem Körper in Bettlaken und Matratze gekrallt. Ihr Körper zuckte. Ihr Puls raste, in ihren Schläfen hämmerte es.

Ein Neurobiologe hätte ihr rational erklären können, dass es die Hormone Serotonin und Dopamin waren, die gerade ungehemmt in ihrem Gehirn ihre jeweiligen Rezeptoren befeuerten. Ein gnadenloses Neurotransmitter-Dauerfeuer. Reine Biochemie, das vegetative Einmaleins der menschlichen Physiologie.

Für Mailin fühlte es sich jedoch an, als müsste sie gleich in ihrem eigenen Schweiß ertrinken, der ihr mittlerweile aus jeder Pore rann und ihr graues Sweatshirt im Brustbereich in einer Schmetterlingsform bereits vollständig dunkel gefärbt hatte. In der Magengrube schien sich eine unsichtbare Faust zu befinden, die ihr gesamtes Gedärm gepackt hatte und immer wieder unerbittlich zusammenzog. Sie zitterte so stark am ganzen Körper, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch Kontakt mit der Matratze unter sich zu haben.

Sie wusste, dass jetzt nur eines half. Allein Blut konnte die blutroten Wolken vertreiben. Blut, das sie beruhigte. Ihr eigenes Blut. Es war erstaunlich, wie sie durch den dunkelroten, klebrigen Film immer wieder klarer sehen konnte. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte schaffte sie es, mit der rechten Hand in der noch immer offen stehenden Nachttischschublade nach dem Nagelnecessaire zu tasten.

Die Nagelschere .

Nach einer gefühlten Ewigkeit lag das dunkelblaue Lederfutteral auf ihrer Brust, und sie nestelte umständlich die kleine Schere heraus.

Sie freute sich auf den Schmerz und spürte augenblicklich die Erlösung, als sie die Spitzen tief in das Fleisch an der Innenseite ihres Oberschenkels rammte. Immer und immer wieder. Dorthin, wo sich schon zahlreiche, teils fein gezogene, teils strahlige, teils sternförmige hellgräuliche und rosige Narben nebeneinander in einem obszönen Muster in der blassen Haut befanden, die zunehmend von dem sprudelnden Rot ihres Blutes verdeckt wurden.