Mittwoch, 11 . April, 20 : 22 Uhr,
Berlin,
Treptowers, BKA -Einheit »Extremdelikte«,
Büro Dr. Sabine Yao
E s war wieder einmal spät geworden. Yao rieb sich den schmerzenden Nacken und entfernte ihr Haargummi. Für einen kurzen Augenblick fühlte sie, wie sich ihre Kopfhaut entspannte, dann fasste sie die schwarzen Haare erneut zu einem Zopf zusammen und umwickelte diesen mehrfach mit dem schwarzen Haargummi. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
Zu spät … Zu spät fürs Fitnessstudio. Und viel zu spät, um Siara in ihrer Rehabilitationseinrichtung einen Besuch abzustatten. Obwohl das überfällig wäre. Auch wenn ich nichts für sie tun kann, ich ja nicht einmal weiß, ob sie meine Anwesenheit überhaupt registriert, geschweige denn, ob sie weiß, wer ich überhaupt bin. Würde Siara ihre eigene Mutter wiedererkennen?
Yaos kleine Nichte Siara war nach einem brutalen Fausthieb durch den berüchtigten Berliner Drogendealer Abdelkarim Saad im Wohnzimmer der elterlichen Wohnung halbseitig gelähmt und befand sich nach einem mehrmonatigen Aufenthalt auf der Kinderintensivstation der Charité mittlerweile in einer Rehabilitationseinrichtung für schwer behinderte Kinder. Sie reagierte zwar auf äußere Reize, aber weder eine verbale Kommunikation noch eine über Gebärden oder Zeichen war mit ihr möglich. Ob sich die Dreijährige noch auf dem geistigen und kognitiven Stand befand, den sie im Alter von zweiundzwanzig Monaten erreicht hatte, bevor sie die schweren Kopfverletzungen davontrug, konnte vonseiten der sie behandelnden Ärzte immer noch nicht eingeschätzt werden.
Siaras Zwillingsschwester Sina, die bei dem Angriff auf ihre Schwester zugegen gewesen war, diesen aber unbeschadet überstanden hatte, war in einer Pflegefamilie untergebracht. Kurz nach dem tragischen Vorfall war Mailin in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eingewiesen worden und hatte zu allem Unglück auch noch das Sorgerecht für ihre Töchter verloren.
In der Pflegefamilie kümmerte man sich liebevoll um Sina, doch die Trennung von ihrer Zwillingsschwester setzte dem Mädchen nach wie vor zu. In Absprache mit der zuständigen Therapeutin der Jugendhilfe hatte Yao vor einiger Zeit schweren Herzens davon Abstand genommen, ihre zweite Nichte zu besuchen, da ihr die Eingewöhnungsphase bei ihrer Pflegefamilie sehr zusetzte. Alles, was das kleine Mädchen durch Erinnerungen an ihre frühere Familie verunsichern oder gar verstören konnte, sollte bis auf Weiteres von ihr ferngehalten werden.
Die Rechtsmedizinerin seufzte und versuchte die Verzweiflung und den Schmerz, der sie allein bei den Gedanken an die Mädchen überkam, hinunterzuschlucken und tief in ihrem Inneren zu verschließen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Sie war die Einzige in der Familie, die sich überhaupt noch in irgendeiner Form um die beiden Mädchen und ihre Schwester kümmern konnte. Yao lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück, streckte den Rücken durch und zog langsam beide Arme seitlich nach hinten, hinter die Lehne des Schreibtischstuhls. Es knackte laut und vernehmlich in ihrer oberen Brustwirbelsäule. Für einen Moment spürte sie so etwas wie eine körperliche Erleichterung, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden, aber leider hielt das Gefühl nur wenige Sekunden an.
Yao sortierte noch einige Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, wobei sie diese zu kleinen, sauber nebeneinander aufgereihten Stapeln schichtete und mit kleinen Post-it-Zetteln versah, auf denen sie wiederum römische Ziffern notierte, die jeweils die Priorität wiedergaben. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Wenig hasste sie mehr, als frühmorgens in ihrem Büro einen unaufgeräumten Schreibtisch vorzufinden.
Äußere Ordnung führt zu innerer Ordnung, hatte ihre Großmutter Luise immer gesagt. Struktur hatte ihr von jeher geholfen, die Kontrolle zu bewahren.
Als die Rechtsmedizinerin ihren PC herunterfuhr, erklang ein leises Pling!, und ihr wurde am rechten oberen Bildrand des Monitors der Eingang einer neuen E-Mail angezeigt:
KOK Cem Akpinar, LKA 1 – Delikte am Menschen
Todesermittlungsverfahren zum Nachteil Daria Diakovska, 11 Anhänge .
Kurz war Yao versucht, die Mail zu öffnen und zumindest einmal durch die Anhänge zu scrollen, aber da klingelte ihr Handy in ihrer Handtasche auf dem Boden neben dem Schreibtisch. Yao beugte sich zur Seite, zog das Gerät hervor und warf einen Blick auf das Display. Unbekannte Nummer .
»Hallo?«
»Spreche ich mit Frau Sabine Yao? Verzeihung, Frau Doktor Yao?«
Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung sprach mit einem harten, sehr wahrscheinlich osteuropäischen Akzent und rollte das R.
»Wer spricht denn da?«, fragte Yao zurückhaltend.
»Mein Name ist Doktor Dragana Jovanovic. Ich rufe aus der Psychiatrischen Fachklinik Sana Mente in Lichtenberg an. Spreche ich mit Frau Doktor Sabine Yao?«
»Ja, das ist richtig. Ich bin am Apparat«, erwiderte Yao und konnte sich entfernt erinnern, den Namen der Frau schon einmal von Mailin gehört zu haben. In welchem Zusammenhang, fiel ihr allerdings nicht ein. »Ihre Schwester, Frau Mailin Zhou, hat heute versucht, sich das Leben zu nehmen. Es tut mir leid …«
Die Worte der Medizinerin verschwanden in einem dichten Nebel, der sich in Yaos Kopf gebildet hatte, ihr wurde schwindelig.