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Donnerstag, 12 . April, 3 : 00 Uhr,

Berlin-Reinickendorf,

Weiße Stadt, Wohnung von Sara Wittstock

D u willst also meiner Taskforce Teleforensik beitreten. Willkommen im Team!« Mit diesen Worten nahm Wittstock den eingehenden Anruf von Sabine Yao entgegen.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?«

»Nein, ich habe auf deinen Anruf gewartet, Sabine.«

Die Angesprochene erwiderte nichts. Aus Wittstocks Handylautsprecher kam nur Schweigen. Die IT -Expertin hasste es, wenn sie am Telefon einen Scherz machte und die Rechtsmedizinerin ihn nicht verstand, was durchaus öfter vorkam.

»Ich kann nicht schlafen. Ich …«, war jetzt Yaos Stimme zu hören.

»Kenne ich zur Genüge«, unterbrach Wittstock sie. »Kleiner Tipp vom Profi: Versuche es gar nicht erst. Schlafen wird heutzutage maßlos überschätzt. Genauso wie Work-Life-Balance. Alles Schwachsinn, wenn du mich fragst. Meine Balance hole ich mir an meinen Rechnern. Brute-Force-Algorithmen sind perfekt, um die Zeit zu nutzen, die man sonst mit Schlafen vertrödelt. Aber schieß los, warum rufst du um diese Uhrzeit an? Wo brennt’s? Du meldest dich wohl kaum, um mir zu sagen, dass du nicht schlafen kannst.«

»Das wollte ich dir gerade erklären, aber du hast mich unterbrochen«, erklang es schroffer, als es Yaos Art war. Offenkundig war ihre Gesprächspartnerin gerade nicht zum Scherzen aufgelegt, weil ihr etwas unter den Nägeln brannte.

»Schieß los!«, sagte Wittstock.

»Es geht noch mal um Professor Roderich Kracht«, begann Yao. Der Mann mit der Lücke in seinem Lebenslauf in den Jahren 1993 bis 1995 , schoss es Wittstock durch den Kopf.

»Der ärztliche Kollege, der in den frühen Neunzigern selbst mal in der Rechtsmedizin gearbeitet hat und dessen Frau am Montagvormittag in der gemeinsamen Villa ermordet wurde. Er steht zwar nach wie vor nicht unter Verdacht, auch weil er ein wasserdichtes Alibi für den Tatzeitraum hat, aber …«

Sabine schien über die richtigen Worte nachzudenken, denn sie machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach.

»Sein Name ist mir heute … vielmehr gestern … in einem anderen Todesermittlungsverfahren schon wieder begegnet. Kein aktueller Fall. Liegt vier Jahre zurück. Auch damals wurde er nie als Verdächtiger geführt, nicht einmal als Zeuge vernommen. Sein Name taucht nicht einmal in den Ermittlungsunterlagen auf, doch er war, wie es scheint, der Arbeitgeber der Toten. Mein Punkt ist: Ich finde es höchst seltsam, dass ich innerhalb so kurzer Zeit zweimal auf Kracht stoße, und das jeweils im Zusammenhang mit ungeklärten, gewaltsamen Todesfällen. Wobei noch nicht einmal abschließend geklärt ist, ob im zweiten Fall überhaupt Fremdeinwirkung vorliegt. Ich kann mich täuschen, doch zweimal …«

»Nichts ist unmöglich, nur weil es unwahrscheinlich ist, Schätzchen«, unterbrach Wittstock ihre Freundin. »Du meinst, ich soll mal etwas tiefer in seinem Lebenslauf graben?«

»Ich dachte, vielleicht taucht der Name Roderich Kracht in deinen Datenbanken noch im Zusammenhang mit anderen früheren Todesermittlungsverfahren auf?«

»Du weißt, dass die Datenbanken der LKA s der einzelnen Bundesländer nicht miteinander vernetzt sind«, erwiderte Wittstock und nahm sich fest vor, sich bei dem, was sie Sabine jetzt erklären musste, nicht zu sehr aufzuregen oder gar zu tief ins Detail zu gehen. »Virtuelle Wüste Deutschland. Nicht mal in der Verbrechensbekämpfung ist genügend Geld, geschweige denn genügend Frauen- oder meinetwegen auch Manpower für die dringend notwendige Digitalisierung vorhanden. In Rheinland-Pfalz weiß ein Todesermittler nicht, ob es vielleicht schon einmal eine ähnliche Tat mit demselben Muster in Schleswig-Holstein oder sonst wo gegeben hat. Oder ob ein Tatverdächtiger oder Zeuge vielleicht schon einmal in einem anderen Ermittlungsverfahren namentlich aufgetaucht ist. Erst wenn Tatverdächtige rechtskräftig verurteilt sind, tauchen sie im Bundeszentralregister und damit auch in den polizeilichen Datenbanken auf.«

»Hm …«, murmelte Yao.

»Deshalb haben wir ja auch schon vor über zwanzig Jahren Vi CLAS eingeführt, damit die Jungs und Mädels von den Landeskriminalämtern an vorderster Front ein Back-up durchs BKA bekommen.«

Das Datenbanksystem Violent Crime Linkage Analysis System – kurz Vi CLAS war im Jahr 2000 vom BKA eingeführt worden. Darin wurden Straftaten im Bereich der schweren sexuell assoziierten Gewaltkriminalität aus allen Bundesländern unter fallanalytischen Gesichtspunkten erfasst und wurden somit überhaupt erst länderübergreifend auswertbar. Wenn mit Vi CLAS arbeitende Cold-Case-Fallanalytiker des BKA zu dem Schluss kamen, dass mehrere Fälle ein und demselben Täter zuzuordnen waren, konnten sie diesen Tatzusammenhangsverdacht als Ermittlungshinweis an die jeweils ermittelnden Polizeidienststellen weitergeben.

»Das Problem ist, dass in der Vi CLAS -Datenbank nur Fälle sexuell assoziierter Gewaltkriminalität inklusive Tötungsdelikten mit sexueller Komponente erfasst werden, und das auch nur außerhalb von Paarbeziehungen. Aber …«, Wittstock griff nach der Kaffeetasse vor ihr auf dem Schreibtisch, nahm einen Schluck und verzog angewidert den Mund, doch sprach unbeirrt weiter, »… ich habe eine Idee. Ich könnte den Vi CLAS -Algorithmus, den ich übrigens selbst geschrieben habe, etwas modifizieren, ein paar Parameter verändern. Die Rohdatensätze habe ich noch. Dann könnte ich schauen, was ich finde. Aber ohne Gewähr, Sabine!«