40

Freitag, 13 . April, 16 : 33 Uhr,

Berlin,

Treptowers, BKA -Einheit »Extremdelikte«,

Büro Dr. Sabine Yao

D er zweite Todesfall, den Sara entdeckt hatte, war zwar im Hinblick auf den Inhalt der Ermittlungsunterlagen weitaus weniger spektakulär, hatte aber seine ganz eigene Brisanz und Dynamik. Es war nämlich Professor Doktor Roderich Kracht höchstpersönlich gewesen, der den Sterbenden gefunden hatte.

Collin Luckner war vor fünfzehn Jahren in Berlin im Alter von achtunddreißig Jahren in den Büroräumen seiner Immobilienfirma in Berlin-Charlottenburg tot aufgefunden worden. Ausweislich des Inhalts der gerade mal vierzehn Seiten – ein zweiseitiges Notarzteinsatzprotokoll und die die vorläufige Todesbescheinigung inkludierende Todesermittlungsakte – war Luckner mit Luxusimmobilien zum Multimillionär geworden. Sein Vater hatte nach dem Mauerfall Anfang der 1990 er-Jahre über ganz Berlin verteilt Grundstücke im großen Stil gekauft und mit Bürohäusern und Appartementhäusern des Luxuspreissegments bebaut. Anfang der 2000 er-Jahre hatte Luckner die Firma von seinem verstorbenen Vater geerbt und, statt die Büroflächen und den Wohnraum wie sein Vater zu vermieten, damit begonnen, die Objekte nach und nach zu verkaufen. Vermutlich, um seinen ausschweifenden und in jeder Hinsicht aufwendigen Lebensstil mit Privatjet, Villen in Südeuropa und anderen luxuriösen Vergnügungen zu finanzieren. Allerdings war die Verschriftlichung der polizeilichen Erkenntnisse in der Ermittlungsakte dazu auffällig kurz und vage gehalten. Am Abend seines Todes war er von Professor Roderich Kracht in seinen Büroräumen aufgesucht worden. Kracht hatte wenige Wochen zuvor von Luckner einen Bürokomplex in Lichterfelde gekauft, in dem ein knappes Jahr später – nach den entsprechenden Umbauarbeiten – das Haupthaus und somit der erste Standort der Corpore Sano Schönheitsklinik eröffnet worden war.

Kracht hatte in seiner polizeilichen Zeugenvernehmung angegeben, an jenem Abend mit Luckner verabredet gewesen zu sein, um noch einige Details des zu diesem Zeitpunkt bereits fast vollständig ausverhandelten Immobiliendeals zu besprechen. Luckner habe ihm zwar noch eigenhändig die Tür geöffnet, sei aber bei Krachts Eintreffen in einem gesundheitlich schwer angeschlagenen Zustand und nur noch für eine kurze Zeit ansprechbar gewesen. Als moribund, im Sterben liegend, hatte Kracht Luckner ausweislich der Niederschrift in der Ermittlungsakte bezeichnet, was Yao seltsam fand. Da er sofort den lebensbedrohlichen Zustand von Luckner erkannt habe, habe er über die 112 die Notfallrettung alarmiert und bis zu deren Eintreffen Reanimationsmaßnahmen durchgeführt.

Der neun Minuten nach Eingang des Notrufs eingetroffene Notarzt hatte in seinem Einsatzprotokoll vermerkt: Anamnese:

Patient in schlechtem Gesundheits- und Allgemeinzustand von Bekanntem aufgefunden worden. Reanimation durch diesen (selbst Arzt). Befunde bei Ankunft: Patient in Seitenlage auf Boden liegend vorgefunden. Bei Eintreffen Asystolie. Sechs Milligramm Adrenalin und einmalige Defibrillation bei Kammerflimmern. Patient nicht transportfähig. Abbruch weiterer Maßnahmen wegen einsetzender sicherer Todeszeichen (Starre, Leichenflecken). Keine weiteren Veränderungen vorgenommen. Nach Angaben des Bekannten soll der Patient Diabetiker gewesen sein.

Die vom Notarzt ausgestellte Vorläufige Todesbescheinigung lautete auf ungewisse Todesart .

Collin Luckners Leichnam war noch am selben Abend von der Polizei beschlagnahmt und ins Leichenschauhaus in Moabit gebracht worden, wo vier Tage später die Obduktion im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin erfolgt war.

Wenigstens wurde er obduziert und das Todesermittlungsverfahren nicht einfach wie bei der Reichenbach ohne Obduktion eingestellt, als ob nichts passiert sei, ging es Yao durch den Kopf.

Sie öffnete in der Zipdatei »Zum Nachteil Collin Luckner« das mit »Sektionsprotokoll und Ergebnis weiterführender Untersuchungen« betitelte zweite PDF .

Sie scrollte bis zum Ende des Protokolls und las im »Sektionsgutachten«:

Die Obduktion führte nicht zur Klärung der Todesursache. Zwar litt der achtundvierzig Jahre alt gewordene, stark übergewichtige (Körpergewicht 110 Kilogramm bei einer Körperlänge von 175 Zentimetern, BMI = 36) LUCKNER, Collin unter einer Herzvergrößerung (Herzgewicht 510 Gramm), jedoch zeigten sich die Herzkranzgefäße vom dilatativen (Normalversorgungs-)Typ. Bei zusätzlich bestehender chronischer Bronchitis und einer Fettleber kann das Herz als jederzeit versagensbereit angesehen werden, allerdings nicht zwingend zum gegebenen Zeitpunkt. Es fanden sich unspezifische Befunde wie ein Hirnödem, ein Lungenödem und eine Erweiterung der Hohlorgane, die auf eine todesursächliche oder mit-todesursächliche Vergiftung hinweisen könnten.

Insofern wurden chemisch-toxikologische Untersuchungen zum Nachweis oder Ausschluss einer Intoxikation zum Todeszeitpunkt eingeleitet, über deren Ergebnis zu einem späteren Zeitpunkt nachberichtet wird. Aus diesem Grund wurde während der Obduktion entsprechendes Material zurückbehalten. Zur Frage einer todesursächlichen Zuckerstoffwechselentgleisung wurden Hirnkammerwasser und Glaskörperflüssigkeit zurückbehalten. Auch über dieses Ergebnis wird zu einem späteren Zeitpunkt gesondert nachberichtet werden.

Der Blutzuckerspiegel … Insulin, jede Wette, Luckners Glukose-Spiegel war zum Todeszeitpunkt im Keller. Bei Gabe von Insulin in hoher Dosierung wird der Betroffene durch die sofort einsetzende Unterzuckerung innerhalb weniger Minuten bewusstlos. Der Glukose-Mangel im Gehirn ist dann innerhalb kürzester Zeit tödlich. Das würde alles zum hier geschilderten zeitlichen Verlauf passen, kombinierte Yao.

Aber … sehe ich vielleicht Gespenster? Bin ich in Bezug auf Kracht überhaupt noch objektiv? Nein!, lautete die Antwort, wie sie zugeben musste.

Doch sogleich kamen wieder Zweifel in der Rechtsmedizinerin hoch.

Warum sonst sollte Kracht den Notarzt so explizit darauf hinweisen, dass Luckner Diabetiker war? Ausweislich des Leichenfundortberichts hatte Luckner weder einen Insulin-Pen noch orale Antidiabetika bei sich, und es wurde auch nichts Derartiges in seinen Büroräumen gefunden. Wie kommt Kracht darauf?

Yao massierte sich mit den Fingerspitzen von Zeigefinger und Mittelfinger die Schläfen, als würde sich die Antwort dort irgendwo verbergen.

Wollte Kracht mit dieser beiläufigen Feststellung eine falsche Fährte legen, weil er Luckner womöglich Insulin gespritzt hat? Weil er ihn … Weil er ihn getötet hat?

Yao musste sich eingestehen, dass sie weder das eine noch das andere wusste und es müßig war, weiter darüber zu spekulieren, denn die Ermittlungsunterlagen hielten darauf keine Antwort für sie parat. Umso gespannter war sie auf das Ergebnis des toxikologischen Befunds im Todesfall Collin Luckner.

Wenige Minuten später lehnte sich Yao enttäuscht in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Das vom toxikologischen Labor des Landesinstituts mehrere Monate nach Collin Luckners Obduktion der Staatsanwaltschaft übersandte toxikologische Gutachten hatte nichts vorzuweisen. Abgesehen von der Tatsache, dass zum Zeitpunkt seines Todes eine geringe Menge Alkohol im Venenblut vorhanden gewesen war. Yao las erneut den letzten Absatz des Gutachtens:

Im Herzblut wurde das in der Notfallmedizin oder vor operativen Eingriffen für Kurzzeitnarkosen eingesetzte Beruhigungsmittel Midazolam nachgewiesen. Eine Wirkstoffaufnahme in zeitlicher Nähe zum Todeseintritt ist sehr wahrscheinlich. Die im Herzblut des Betroffenen gemessene Konzentration an Midazolam liegt verglichen mit üblicherweise hier untersuchten Blutkonzentrationen und nach Vergleich mit Literaturdaten und früher von uns analysierten Fällen deutlich über dem therapeutischen Bereich. Hierdurch ist die Einnahme von Midazolam kurz vor dem Tode in hoher Dosierung belegt.

Das Midazolam wurde Luckner im Rahmen des Notarzteinsatzes gegeben, als er intubiert wurde, um ihn ruhigzustellen, schlussfolgerte Yao. »Mikroskopische Spuren von Silikon im Gesicht«, las Yao weiter. Hm, möglicherweise stammen die Spuren von Silikon von einer Larynxmaske? Aber warum wurde Luckner intubiert und zusätzlich mit einer Larynxmaske beatmet?

Yao schenkte der Frage keinerlei weitere Beachtung, denn Luckner war nicht an einer Vergiftung gestorben, so viel stand fest. Die Untersuchung seines Blutzuckerwerts über die beiden Parameter, die in Glaskörperflüssigkeit und Hirnkammerwasser auch noch viele Tage postmortal eine sichere Aussage darüber zuließen, ob eine Zuckerstoffwechselentgleisung für einen Todesfall verantwortlich war oder nicht, nämlich der Glukose-Wert und der Laktat-Wert, hatte Yaos Theorie einer tödlichen Insulin-Gabe innerhalb kürzester Zeit in Schall und Rauch aufgelöst.

Trotzdem … Drei Todesfälle, die bei kritischer Betrachtung aus der rechtsmedizinischen Perspektive mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben, und bei allen scheint Kracht die Finger im Spiel gehabt zu haben. Eine Koinzidenz der Ereignisse halte ich für ausgeschlossen.

An einen Zufall, dass Kracht einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, als Collin Luckner starb, konnte Yao nicht glauben.

Ob er Vorteile aus Luckners Ableben gezogen hat, ergibt sich aus der Akte nicht. Dem wurde auch nie nachgegangen, denn Kracht war als Arzt, der den Notruf absetzte und auch noch versucht hatte, Luckner zu reanimieren, bis Hilfe eintraf, über jeden Zweifel erhaben.

Es arbeitete in Yaos Kopf, und ihre Gedanken kehrten immer wieder zu der einen Frage zurück: Wie hast du Luckner getötet?