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Freitag, 13 . April, 18 : 42 Uhr,

Pkw Dr. Sabine Yao

M it einem Klacken öffnete sich die automatische Türverriegelung des Mini Cooper, und Yao beförderte die Sporttasche mit ihrer Alltagskleidung in den Kofferraum des Wagens. Von den Treptowers aus war sie direkt in ihr Fitnessstudio gefahren und hatte sich dort nach einer zwanzigminütigen Aufwärmphase auf dem Laufband in einem Bodyattack-Kurs, einem fünfundvierzigminütigen Ganzkörper-Work-out, völlig ausgepowert.

Sie wusste jetzt schon, dass sich ihr Körper am nächsten Morgen nach dem Aufstehen dafür nicht etwa dankbar zeigen, sondern mit einem mörderischen Muskelkater revanchieren würde, aber genau dieses Auspowern hatte sie jetzt dringend gebraucht. Es war erstaunlich, wie auch der Kopf abschaltete, wenn man körperlich erschöpft war. Wie Gedanken für eine kurze Zeit nicht mehr an die Oberfläche drängten, sondern Ruhe gaben.

Yao hatte sich nach Beendigung ihres Work-outs nicht die Mühe gemacht, ihre Sportkleidung wieder gegen ihre Straßenkleidung zu tauschen. Sie lehnte auch den Vorschlag einer Bekannten ab, im studioeigenen Restaurant noch eine Kleinigkeit gemeinsam zu essen. Sie wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich nach Hause, um heiß und ausgiebig zu duschen.

In Leggins, Laufschuhen und einer dünnen Fleecejacke über dem Top ließ sie sich erschöpft auf dem Fahrersitz nieder und startete den Wagen. Nachdem sich ihr Handy automatisch mit der Freisprechanlage verbunden hatte, zeigte das Display einen Anruf in Abwesenheit von Kriminaloberkommissar Akpinar und eine neue Nachricht auf ihrer Mailbox. Während sie ausparkte, hörte sie die Nachricht ab: »Hallo, Frau Doktor, kurze Störung Ihres Feierabends. Sie sollten über einen Berufswechsel nachdenken und zu uns ins LKA kommen. Sie lagen richtig. Es gab einen Schlüssel zur Schlafzimmertür im Penthouse von Daria Diakovska! Beziehungsweise, es gibt ihn immer noch. Die Nachmieterin hat mir das heute bestätigt. Ob er innen oder außen im Schloss der Schlafzimmertür steckte, als sie vor etwas weniger als vier Jahren die Wohnung übernommen hat, konnte sie nicht sagen. Aber sie schwört Stein und Bein, dass der Schlüssel schon bei der Übernahme der Wohnung vorhanden gewesen sein muss, denn er ist jetzt auch noch da, und sie weiß genau, dass sie im Nachhinein keinerlei Schlösser austauschen oder Nachschlüssel anfertigen ließ.« Akpinar hielt kurz inne, weil im Hintergrund ein Martinshorn sehr laut ertönte. »Entschuldigung … Jetzt müsste es wieder gehen. Umso brennender jetzt die Frage … Wenn Frau Diakovska einen Schlüssel hatte, warum hat sie nicht einfach von innen abgeschlossen, bevor sie sich erhängte? Wozu diese umständliche Konstruktion? Fast schon zu demonstrativ, oder? Mal sehen, was unsere Psychologen dazu sagen …«

Nach einer weiteren kurzen Pause ertönte seine Stimme erneut aus Yaos Freisprechanlage: »So viel für heute. Ich halte Sie auf dem Laufenden, Frau Doktor! Und nochmals vielen Dank.«

Als Yao gerade den Anruf von der Mailbox über das Bedienfeld auf dem Display gelöscht hatte, signalisierte der Klingelton der Freisprechanlage endlich den Anruf, auf den sie bereits den ganzen Tag über gewartet hatte:

Doktor Schweiger.

»Guten Abend, Frau Kollegin, Schweiger am Apparat. Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen?«

»Nein, keinesfalls. Ich hatte gehofft, dass Sie sich heute noch melden«, erwiderte Yao, während sie den Blinker setzte, einen Blick über die linke Schulter warf und dann die Fahrspur wechselte.

»Meine Kollegin, Frau Doktor Jovanovic sagte mir, dass sie Ihnen berichtet hat, was Mittwoch passiert ist. Ich selbst war zwei Tage nicht in Berlin, bin erst seit heute wieder in der Klinik. Es tut mir sehr leid, was passiert ist … was Ihre Schwester sich angetan hat. Ich weiß, wie nah Sie beide sich stehen. Seien Sie bitte versichert, dass das nicht absehbar war … Das konnte keiner hier voraussehen. Sie war auf einem guten Weg. Dachten wir zumindest …«

»Ich mache niemandem Vorwürfe«, erwiderte Yao mit belegter Stimme. »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht unterbrechen, Herr Schweiger.«

»Gar kein Problem … Es tut mir auch leid, dass ich mich jetzt erst melde. Ich wollte mir erst in Ruhe ein Bild von Frau Zhou machen. Und die Abendvisite zog sich heute leider unvorhergesehen in die Länge …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Herr Schweiger. Wie geht es meiner Schwester?«

»Körperlich brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen. Sie hat großes Glück gehabt, dass sie so schnell gefunden und frühzeitig operiert werden konnte. Nicht auszudenken …«

Der Psychiater am anderen Ende der Leitung klang aufrichtig betroffen. Was ihn in Yaos Augen für seinen Beruf empfahl, denn Empathie war ein wesentlicher Baustein in der Arzt-Patienten-Beziehung psychisch Kranker. Und Abhängigkeitskranker …

»Ihre Schwester ist zwar aufgrund der frischen OP -Wunde noch ans Bett gebunden, aber sie bekommt Heparin und Physiotherapie am Bett. Ab Montag werden wir beginnen, sie zu mobilisieren.«

Yao wusste aus ihrer beruflichen Erfahrung nur zu gut, dass nicht Wundheilungsstörungen oder gar die Gefahr einer Blutvergiftung nach so schweren Verletzungen die lebenslimitierenden Faktoren darstellten, sondern die Gefahr einer Lungenembolie, die wie ein Damoklesschwert über ihrer Schwester hing. Insofern war sie beruhigt, dass Mailin von der somatischen Seite her – mit Gabe von Blutverdünnern und Bewegungstherapie – gut und adäquat betreut wurde.

»Aber«, erklang erneut Doktor Schweigers Stimme, als die Rechtsmedizinerin ein weiteres Mal die Fahrspur wechselte und sich auf der Linksabbiegerfahrbahn einordnete, »sie ist sehr rückzügig, nimmt keinen Kontakt, nicht mal Augenkontakt mit ihrem Umfeld auf. Ich bin bisher nicht an sie rangekommen …«

»Ist sie wieder auf ihrer Station, in ihrem Zimmer?«

»Nein, sie ist momentan auf der geschlossenen Abteilung im Kriseninterventions- und Notfallbereich. Und wenn Ihre Frage darauf abzielt, ob Sie Ihre Schwester besuchen können …«

»Ja?«, fragte Yao.

»Ich halte das zurzeit für keine gute Idee. Sie ist stuporös …«

Yao wusste aus ihrer Weiterbildungszeit in der Psychiatrie – eine Voraussetzung zur Erlangung des Facharzttitels für Rechtsmedizin –, was das als Stupor bezeichnete psychomotorisch entgegengesetzte Syndrom der Erregung und pathologisch gesteigerten motorischen Aktivität bedeutete, nämlich, dass Mailin mit ihrer Umwelt nicht mehr in Kontakt trat, völlig teilnahmslos und regungslos war. Und Yao wusste auch: Stupor konnte ein erstes Symptom einer Schizophrenie sein.

»Ihre Schwester lässt niemanden an sich ran. Keiner kann im Moment sagen, wie es in ihr drin aussieht. Ich würde gerne in der kommenden Woche ein paar psychologische Tests mit ihr durchführen. Und wir werden sehen, wie sie auf die Gabe von Neuroleptika reagiert. Aber derzeit können wir nichts anderes tun, als abzuwarten.«

Noch während er weiter berichtete, fuhr Yao in eine Parkbucht am Straßenrand und stellte den Motor aus. Irgendwann war das Telefonat beendet. Yao hätte allerdings nicht sagen können, wie lange sie mit Doktor Schweiger telefoniert hatte. Sie spürte nur, dass sie das Steuer fest umklammerte, einfach, um sich irgendwo festzuhalten. Die Knöchel traten weiß hervor, und Tränen liefen ihr lautlos über die Wangen.