44

Samstag, 14 . April, 20 : 24 Uhr,

Berlin-Grünau,

Wohnhaus von Dr. Fred Abel und Dr. Lisa Suttner

K nappe zwei Stunden später hatte sich der Eindruck vollauf bestätigt, den Yao schon bei Abels Anblick im Türrahmen gehabt hatte.

Er ist angekommen. Er hat für sich, Lisa und den kleinen Albert die richtige Entscheidung getroffen. Es geht ihm gut.

Lisa hatte köstliche Spaghetti carbonara und zum Nachtisch selbst gemachtes Tiramisu aufgetischt. Mit den schulterlangen fuchsroten Haaren, die sie an diesem Abend offen trug, und in dem grünen Wollkleid, das den gleichen Grünton wie ihre Augen hatte, sah sie hinreißend aus.

Die Flasche Barolo war ungeöffnet geblieben, die drei hatten es bei Mineralwasser belassen.

Abel hatte während des Essens immer mal wieder die Sprache auf die Arbeit bei den »Extremdelikten« gebracht, aber es war nicht zu übersehen gewesen, dass er dieses Kapitel seines Lebens tatsächlich abgeschlossen hatte. Keinerlei Wehmut hinsichtlich der Arbeit von Yao und ihren Kollegen in der rechtsmedizinischen Sondereinheit des BKA hatte in Abels Fragen mitgeschwungen. Vermutlich hatte er das Gefühl gehabt, die Höflichkeit und der Anstand nach so vielen gemeinsamen Jahren in der Abteilung geböten es, das Arbeitsthema anzusprechen. Schließlich hatte Abel gesagt: »Wenn du das Gefühl hast, dass die Toten über dein Leben bestimmen, dann bist du an dem Punkt, an dem es Zeit ist, einen Schlussstrich zu ziehen. Oder die Lebenden um dich herum werden dafür irgendwann bezahlen.«

Das hörte sich wie ein unabänderliches Fazit an, das Abel für sich gezogen hatte.

Yao hatte nichts erwidert, sondern die Worte in der dann eingekehrten Stille des jetzt fast in Dunkelheit liegenden Wohnzimmers stehen lassen.

Im Hintergrund hörte sie, wie in der Küche Geschirr klapperte. Lisa hatte Yaos Angebot, ihr zu helfen, ausdrücklich abgelehnt und war in der Küche verschwunden.

Yao und Abel saßen jetzt allein am großen Glastisch im Wohnzimmer im Erdgeschoss, beide eine geleerte Espressotasse und die geöffnete Pralinenschachtel vor sich, die Yao eigentlich für Lisa gekauft hatte. Yaos Blick fiel auf mehrere Fotos von Lisa, Abel und Albert in silbernen Rahmen verschiedener Größen, geschmackvoll arrangiert neben einer Vase mit roten Rosen auf einem mit weißem Klavierlack lackierten Sideboard. Yao war früher schon einmal zu einem Abendessen hier gewesen, konnte sich aber weder an den riesigen Esstisch aus Glas noch an das imposante Sideboard daneben erinnern.

Zwischen Hauptgang und Nachtisch hatte Fred Abel sie ins Obergeschoss geführt, wo der vier Monate alte Albert tief und fest in seinem Kinderbettchen schlief, neben sich den Sender eines Babyphones auf dem Fußboden, in einem Zimmer voller flauschiger Teppiche und Kuscheltiere, mit Sternen an der Decke und Illustrationen von Janosch in kleinen Bilderrahmen an der Wand. Leise und behutsam hatte Abel die Tür zum Kinderzimmer geöffnet und voller Stolz auf seinen schlafenden Sohn gezeigt. Ja, Fred Abel ruhte in sich und ging in seiner Vaterrolle auf, da war sich Yao sicher.

Yao sah Abel fragend an, der seit einiger Zeit schweigend gegenüber am großen Esstisch saß und versonnen in Richtung der großen Panoramascheibe des Wohnzimmers blickte. »Und jetzt Fred? Was kommt jetzt?«

Vielleicht betrachtete er das Spiegelbild der beiden ehemaligen Kollegen am Tisch, denn draußen war es mittlerweile stockfinster, vielleicht war er in Gedanken aber auch ganz woanders. Yao befürchtete schon, Abel hätte ihre Frage überhört oder wollte nicht antworten, weil er die Antwort selbst noch nicht kannte.

Aber schließlich blickte er sie nachdenklich an. »Ich habe keine konkreten Pläne. Zumindest nicht für meine berufliche Zukunft. Ich lasse mich erst einmal treiben. Als meine Mutter vor ein paar Jahren starb, hat sie mir und meiner Schwester nicht nur ihr Haus in der Nähe von Hannover, sondern auch einige Bankkonten und die Uhrensammlung unseres Vaters hinterlassen. Wir haben die Immobilie schon vor einiger Zeit verkauft, da weder Marlene noch ich zurück in unser Elternhaus ziehen wollten. Marlene nicht, weil sie zu sehr an unserer Mutter hing und Angst davor hatte, alles am Haus würde Erinnerungen an unsere Mutter wecken, die ihr nicht guttun würden. Und für mich war es damals keine Option, aus Berlin wegzugehen. Wenn du mir zu diesem Zeitpunkt gesagt hättest, dass ich ein paar Jahre später meinen Job gegen die Familie eintausche und …« Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern sah Yao mit einem fast erstaunten Gesichtsausdruck an, als könne er selbst es immer noch nicht so recht glauben. Dann fuhr er fort: »Insofern besteht derzeit keine Notwendigkeit zu handeln, was das Finanzielle betrifft. Wir …«, er drehte den Kopf mit einer Bewegung in Richtung Küche, ehe er wieder Augenkontakt mit Yao suchte, »… haben nichts Konkretes vor. Lisa ist noch mindestens ein Jahr in Elternzeit. Vielleicht auch länger.« Abel schwieg und starrte wieder durch die riesige Panoramascheibe in die Dunkelheit.

Yaos Gedanken wanderten zu Lisa, die mindestens zehn Jahre, vielleicht auch länger, als Staatsanwältin bei der Generalbundesanwaltschaft tätig gewesen war, zuletzt in einer Gruppe von Bundesanwälten, die sich mit islamistischer Gefährdung in Deutschland beschäftigte. Auch sie schien ihren Beruf nicht zu vermissen.

Noch während Yao überlegte, ob sie selbst einmal an den Punkt kommen könnte, an dem sie sich zwischen ihrem Beruf und ihrer Familie – vielleicht Mailin, vielleicht aber auch eine eigene Familie mit einem Partner – entscheiden musste, betrat Lisa das Wohnzimmer, ein Smartphone in der Hand.

»Fred, Sabine, entschuldigt bitte … Fred, diese verdammte Fußbodenheizung spinnt mal wieder. Hier …« Mit diesen Worten entledigte sie sich eines Seidenslippers und befühlte mit nacktem Fußballen und Zehenspitzen den Eichenparkettboden im Wohnzimmer. »Hier ist der Fußboden warm. Im Flur ist es eiskalt, weil der Boden kalt ist. Die verdammte App«, sie hielt Abel das Display des Smartphones entgegen, »sagt aber, dass überall 22 ,5 Grad eingestellt sind. Keine Fehlermeldung.«

»Ich hasse diesen Smart-Home-Mist«, murmelte Abel, erhob sich und nahm das Smartphone von Lisa entgegen. »Entschuldige, Sabine.« Er setzte sich wieder an den Glastisch und studierte das Handydisplay, wobei er mehrfach darauf hin und her wischte und ab und zu mit dem Zeigefinger verschiedene Icons antippte. An Yao gewandt erklärte Abel: »Vor etwa vier Wochen haben wir uns auf Anraten unserer Heizungsfirma von den Thermostaten im ganzen Haus getrennt. Wir haben in jeder Etage Fußbodenheizung. Weil es mit Apps ja einfacher ist …« Er warf Lisa einen zweifelnden Blick zu. »Keine Ahnung. Nach dem, was die App anzeigt, laufen alle vier Heizkreise der Fußbodenheizung einwandfrei.«

»Vielleicht die App löschen und neu installieren?«, schlug Yao vor. Das war das Einzige, was ihr einfiel, wenn sie sich selbst mit ähnlichen Problemen konfrontiert sah.

»Ich gehe hoch und schaue, ob sie bei Albert läuft«, sagte Lisa, zog sich ihren Slipper wieder an und verließ das Wohnzimmer.

»Ich bin froh, dass wir in vielerlei Hinsicht noch old fashioned sind. Konventionelles Babyphone …«

Abel zeigte auf einen kleinen Empfänger, der zu dem Sender des Babyphones zu gehören schien. »Diese neumodische Technik. Man kommt sich zwar vor wie ein Dinosaurier, wenn man diese technischen Errungenschaften nicht in sein Leben lässt – oder nur, wenn es nicht anders geht –, aber mit den Thermostaten hat die Fußbodenheizung jahrelang einwandfrei funktioniert. Sie können alles vorprogrammieren, Raumtemperatur für jeden der Heizkreise. Damit es warm ist, wenn Sie nach Hause kommen. Oder, wenn Sie es sich anders überlegen und früher oder vielleicht erst später nach Hause kommen, können Sie mittels der App Ihre Heizung von überall steuern. Egal, wo Sie gerade sind. Das spart Energie und bringt Wohlbehagen.« Abel verzog verärgert das Gesicht. »So was in der Art hat der Typ von unserer Heizungsfirma zu mir gesagt. Hätte ich mich doch bloß niemals auf diesen Unfug eingelassen.«

Genervt knallte Abel das Smartphone vor sich auf die gläserne Tischplatte.