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Montag, 16 . April, 8 : 45 Uhr,

Berlin-Charlottenburg, Keithstraße,

LKA , Kriminaltechnik

J örgensen und Yao waren vor wenigen Minuten fast zeitgleich im LKA eingetroffen. Jetzt saßen sie gemeinsam mit Monti in einem der Arbeitsräume der in der Keithstraße ebenfalls untergebrachten Abteilung für IT -Forensik und Cyberkriminalität des LKA auf baugleichen Bürostühlen, zwischen ihnen ein Schreibtisch mit einem überdimensionierten Computermonitor. Der etwa zwanzig Quadratmeter große Raum erinnerte Yao an Sara Wittstocks Homeoffice in deren Wohnung in Reinickendorf. Der Raum war genauso abgedunkelt wie Saras Reich, nur mit dem Unterschied, dass hier keine bodentiefen Vorhänge das Tageslicht fernhielten, sondern der IT -Raum im Keller des LKA völlig fensterlos war und nur von dem bläulich-weißlichen Licht zahlreicher Monitore und einer einzelnen Schreibtischlampe erhellt wurde. Auch hier liefen armdicke Kabelbündel zwischen abwechselnd grün und rot blinkenden Server-Türmen, riesigen Rechnereinheiten und anderen elektronischen Geräten, deren Zweck Yao nur erahnen konnte, auf dem Fußboden und an den Wänden wie endlose dunkle Riesenschlangen hin und her. Die stickige Luft war erfüllt von einem durchgehenden elektronischen Surren.

Direkt an dem Schreibtisch mit dem überdimensionierten Monitor saß ein IT -Forensiker, den Monica Monti den beiden Rechtsmedizinern vor wenigen Minuten als Kevin Schaller vorgestellt hatte. Schaller erfüllte alle Klischees eines Computer-Nerds: der schmuddelige, von Fusseln übersäte Wollpullover, die abgetragene, viel zu weite Jeans, die ausgelatschten Crocs, in denen Kevin Schallers nackten Füße steckten, und der ungepflegte Vollbart sowie die überdimensionierte Brille, die Yao vom Stil her irgendwo in den frühen Achtzigern verortete. Jörgensen schien Ähnliches durch den Kopf zu gehen, so, wie er Schaller musterte.

Doch Kevin Schaller sollte sich als äußerst hilfreich für die folgenden Ermittlungsschritte und polizeilichen Entscheidungen herausstellen, die in den nächsten Stunden getroffen werden würden.

Zunächst ließ sich Schaller von Monti die Fragestellung schildern, die die drei Besucher zu ihm geführt hatte. Die beiden Rechtsmediziner informierten ihn daraufhin über die Auffindesituation und Todesumstände sowie die von ihnen vor Ort festgestellten Messwerte zu Umgebungstemperatur und Körpertemperatur von Melanie Kracht. Diese Informationen gab er zusammen mit den von Jörgensen im Rahmen der Untersuchung im Landesinstitut dokumentierten Messwerten von Körpergröße und Gewicht der Toten in die Maske seines Computerprogramms ein. Anhand der Tatort-Fotos der Kriminaltechniker, die Monica Monti mit sämtlichen Ermittlungsunterlagen zum Mordfall Kracht aus ihrem Büro mitgebracht hatte, verschaffte er sich einen Eindruck vom Badezimmer und dem Körperbau der Toten und gab auch hierzu Daten in sein Computerprogramm ein. Schließlich nickte er, er schien zufrieden. »Wir haben eigentlich nur eine Möglichkeit, uns der Frage zu nähern, wann die Frau noch lebte beziehungsweise wann sie nicht mehr lebte«, sagte Schaller mit einer Kopfbewegung in Richtung Monitor, wobei er Buchstaben- und Zahlenfolgen über die nervös blinkende Tastatur eingab und zwischendurch Icons in der Maske des Programms mit der Maus anklickte. »Wir wissen, dass die Verzerrung Ihrer Todeszeitberechnung«, er sah zu Yao und Jörgensen, »Ausdruck eines systematischen Fehlers sein könnte. Was allerdings nicht der Fall ist, da ich zu demselben Ergebnis komme.« Mit diesen Worten wandte er sich vom Monitor weg und ihnen zu.

»Da wir es bei der Abkühlung eines Leichnams mit einem thermodynamischen Prozess zu tun haben, muss man die möglichen wahrscheinlichen Abweichungen extrapolieren und so quasi die Berechnung umkehren. Nicht die Abkühlung, sondern die Erwärmung beziehungsweise Wiedererwärmung des Körpers der Toten ist der Schlüssel.«

Yao nickte. Aber nicht, weil sie verstand, was Schaller sagte, sondern vielmehr, weil sie wollte, dass er endlich zum Punkt kam.

Schaller nahm sich wieder der Tastatur und seines Programms an. »Die Datenbank mit Referenzwerten, auf die ich gerade zugreife, beruht auf dem Berechnungsansatz der Likelihood Ratio und benötigt ebenso wie andere binäre Modelle Vergleichswerte. Und die haben wir! Das Programm macht sich für die Modellberechnungen, die uns bei Ihrer Fragestellung weiterhelfen werden, aus den USA stammende postmortale Abkühlungskurven zunutze, die unter kontrollierten Bedingungen von einigen Hundert Verstorbenen mit bekannten Todeszeiten aufgezeichnet wurden. Diese Abkühlungskurven kann ich mit einem relativ einfachen binären Algorithmus quasi umkehren, was genau unseren Zweck erfüllt. Das habe ich gerade getan und von mir auf diese Weise modellierte Werte jetzt als Parameter definiert …«

»Verstehen Sie irgendetwas von dem, was der Typ da gerade sagt?«, raunte Jörgensen Yao zu.

Sie zuckte als Antwort nur mit den Schultern, während der IT -Forensiker, untermalt von dem fortgesetzten Klackern seiner Finger auf der Tastatur, fortfuhr: »… und der Parameterraum wird zunächst im Rahmen eines Optimierungsprozesses durchlaufen, bis mir die bestmögliche Übereinstimmung zwischen modelliertem Profil vom Zustand der Totenstarre und der Totenflecken sowie die dazugehörige Todeszeit angezeigt wird. Das alles natürlich vor dem Hintergrund der Körpermaße der Toten und angenommenen Ausgangstemperaturen des Untergrunds, der mit verschiedenen Modellrechnungen aufgewärmt wird, in diesem Fall der Fliesenboden des Badezimmers. Natürlich nicht wirklich aufgewärmt, sondern nur in meiner Computersimulation hier.« Schaller deutete mit der linken Hand auf den Monitor, auf dem jetzt Zahlenfolgen schnell von oben nach unten liefen und anscheinend jeweils in einem errechneten Wert mündeten, der dann wie von Geisterhand in einer Tabelle am rechten Bildschirmrand eingefügt wurde. Sogleich begann das Zahlenwirrwarr auf dem Monitor von Neuem.

Jörgensen massierte sich mit beiden Händen das Gesicht, als versuchte er, ihm eine neue Form zu verleihen, was wahrscheinlich Ausdruck davon war, dass er lieber etwas Konstruktives beigesteuert hätte, anstatt nur dazusitzen und Beobachter zu sein. Monti schien es ähnlich zu gehen, denn sie rollte unverhohlen mit den Augen und blies sich zum wiederholten Mal energisch eine ihrer widerspenstigen Korkenzieherlocken aus der Stirn.

Unbeeindruckt fuhr Schaller fort: »Das ist der erste Schritt. Aber noch lange nicht alles! Mit meinem Berechnungsalgorithmus können während des Optimierungsprozesses die einzelnen Parameter gemäß den wahrscheinlichen Abweichungen gewichtet werden. Ach … und wussten Sie, dass die zugrunde liegenden Daten der verstorbenen Vergleichspersonen mit bekanntem Todeszeitpunkt und bekannten Umweltbedingungen in einer Klimakammer erhoben wurden? Das wäre bei uns unmöglich. Juristisch undenkbar. Das würde niemals erlaubt werden. Und die Amis machen das einfach!« Er war wirklich ganz und gar in seinem Element.

»Wie lange dauert das noch in etwa?«, unterbrach Monti ihn ungeduldig und zeigte auf den Monitor.

»Nicht mehr lange.« Unbeirrt setzte Schaller seinen Monolog fort. »Die Umgebungstemperatur wurde von den Amis auf die Temperatur des Ortes beziehungsweise der Örtlichkeit ihres Todes programmiert und während des gesamten Prozesses der Körperabkühlung konstant gehalten. Rektal- und Umgebungstemperaturen wurden minütlich gemessen. Aber weil das, wie ich schon sagte, ein thermodynamischer Prozess ist, muss man eben eine mögliche Verzerrung in Form eines systematischen Fehlers berücksichtigen, der dem Modell zugrunde liegen würde, wenn ich den Konfidenzintervallradius zu eng fasse. Doch das umgehe ich, indem ich die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass der wahre Todeszeitwert im Fünfundneunzig-Prozent-Konfidenzintervall liegt, nur zugrunde legen werde, wenn … Ach, da haben wir ja das Ergebnis: Der Todeszeitpunkt liegt bei der Frau, um die es hier gerade geht, wenn wir verschiedene Modellrechnungen zur Temperatur des Untergrunds berücksichtigen, die der Realität sehr nahe kommen dürften, zwischen 4 :03 und 5 :27 Uhr, der Median bei 4 :45 Uhr.«

Die Rechtsmediziner und die Erste Kriminalhauptkommissarin waren sprachlos. Lediglich das Surren der Server und Computer erfüllte den Raum.

Monti durchbrach schließlich das Schweigen: »Frau Kracht ist zwischen 4 :03 und 5 :27 Uhr verstorben. Das wollen Sie mir damit sagen?«

Schaller nickte.

»Da sind Sie sich sicher, Herr Schaller?«

»Wenn die Tote so hieß? Ja!«, war Schallers Antwort.

»Sie sind sich da ganz sicher?«, fragte Monti erneut.

»Ja. Warum? Bezweifeln Sie das?« Der IT -Forensiker klang so, als fühle er sich in seiner Berufsehre verletzt.

»Herr Schaller … Das, was wir hier gerade … Pardon, das, was Sie hier gerade herausgefunden haben mittels Ihres Programms … Ihrer ganzen Berechnungen … Das hat enorme Sprengkraft. Verstehen Sie das?«

Schaller nickte.

»Es tut mir leid«, insistierte Monti weiter. »Und wie sicher ist das mit Ihrer Todeszeitberechnung? Mit Ihrer … Simulation?«

»Todsicher, äh, Entschuldigung!« Schaller lächelte verlegen. »Es ist hundertprozentig, die Frau ist am 9 . April vor 5 :27 Uhr verstorben, Frau Monti.«

Jetzt schaltete sich Jörgensen ein: »Sie haben gesagt, der Median liegt bei 4 :45 Uhr. Heißt das, das ist der Wert, der der wahren Todeszeit von Frau Kracht am nächsten kommt? Ich bin etwas verwirrt, weil wir mit unseren Nomogrammen zur Todeszeitberechnung immer den Mittelwert, nicht den Median berechnen.«

»Der Median ist nicht so anfällig für Ausreißer wie der Mittelwert. Deshalb bevorzugen wir den Median, wenn wir bei unseren Berechnungen nicht ausschließen können, dass sich irgendwo in unseren Modellrechnungen ein systematischer Fehler eingeschlichen haben könnte«, erwiderte Schaller. »Aber ganz genau wissen wir es, wenn Sie mir das Handy besorgen, auf dem sich Ihrer Theorie nach die App befindet, mit der die Fußbodenheizung gesteuert wurde. Das habe ich doch richtig verstanden, oder?«

Monti nickte wie in Trance, während ihre Augen immer größer zu werden schienen.

»Ich lese das aus«, fuhr Kevin Schaller fort, »gebe die Parameter hier in mein Programm ein und kann Ihnen ganz genau sagen, zu exakt welchem Zeitpunkt Frau Kracht zwischen 4 :03 und 5 :27 Uhr gestorben ist.«

Jetzt hielt Monti nichts mehr auf ihrem Stuhl. Sie sprang auf, stellte sich vor den etwas verschreckt wirkenden Schaller und legte ihm beide Handflächen auf die Schultern. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte sie ihn schütteln, was Schaller offenbar auch befürchtete, denn sein ganzer Oberkörper verkrampfte sich, und er drehte ausweichend das Gesicht zur Seite.

»Schaller, Sie sind entweder ein Genie, oder die Aktion hier kostet mich meinen Kopf und ich lande auch in so einem Kellerloch hier unten. Aber Sie haben mir eben die nächsten Ermittlungsschritte verraten. Wahrscheinlich, ohne es zu wissen. Mit Ihrer Hilfe bekomme ich auf jeden Fall einen Durchsuchungsbeschluss für Krachts Haus. Wir werden uns dort noch einmal ganz genau umsehen, mit besonderem Augenmerk auf die Fußbodenheizung im Badezimmer …« Mit diesen Worten trat Monti einen Schritt von dem immer noch erschrocken dreinblickenden IT -Forensiker zurück und sah zu Yao und Jörgensen. »Und gebe Gott, dass sich dort auch eine Fußbodenheizung findet. Außerdem werden wir Krachts Handy und alle anderen im Haus, in seinen Fahrzeugen und in seinen Praxisräumen befindlichen technischen Geräte beschlagnahmen – ob Tablets, PC s und womit man sonst noch eine App zur Steuerung einer Fußbodenheizung bedienen kann.« Monti schnappte sich ihre auf der Schreibtischplatte vor Schaller verstreuten Ermittlungsunterlagen und stürmte zur Tür. Es schien fast so, als habe sie ihre beiden Besucher aus der Rechtsmedizin völlig vergessen, aber dann machte sie plötzlich halt und drehte sich zu den beiden um: »Sabine, danke! Herr Doktor Jörgensen, ebenfalls danke! Schaller, Sie sind ein Genie. Oder auch nicht. Das gilt es herauszufinden. Ich setze jetzt alles auf diese eine Karte. Entweder ich bekomme Kracht wegen Mordes an seiner Frau dran, oder es kracht gewaltig, und ich schiebe demnächst wie vor dreißig Jahren wieder Nachtschichten auf einem Revier. In ein paar Stunden wissen wir mehr. Ich melde mich.« Mit diesen Worten war die Ermittlerin auch schon verschwunden.

»Schönes Wortspiel mit Kracht und krachen lassen«, stellte Jörgensen trocken fest.