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Dienstag, 17 . April, 9 : 07 Uhr,

Berlin-Charlottenburg, Keithstraße,

LKA , großer Lagebesprechungssaal

D er große Besprechungssaal im ersten Stock des LKA -Gebäudes in der Keithstraße war mehr als nur imposant.

An der Stirnseite des etwa hundertfünfzig Quadratmeter großen Raumes befand sich eine kleine Erhöhung von etwa zwölf Quadratmeter Fläche, ähnlich einer Bühne, aber viel niedriger. Darauf stand ein Rednerpult aus dunklem Edelholz, links und rechts dahinter waren jeweils über zwei Meter lange Fahnenstangen in den Ecken postiert, die Deutschlandfahne an der einen und eine Berlinfahne an der Stange auf der anderen Seite, deren Stoffflächen eine beachtliche Größe aufwiesen. An drei Wänden des Raumes waren Wandvertäfelungen aus dunklem Edelholz angebracht, mit aufwendigen Intarsienleisten innerhalb der Verkleidung und mit schmuckvollen Zierleisten zum Deckenabschluss hin. Die vierte Wand bestand aus einer Fensterfront, die von zahlreichen, mehrere Meter hohen antiken Sprossenfenstern gebildet wurde. Beim Blick nach oben sah man eine eindrucksvolle Kassettendecke aus beigem Stuck.

Monica Monti hatte für 9 :00 Uhr an diesem Morgen die gesamte Soko »Nikolassee« einberufen. Diese war am Vorabend noch um diverse Personen erweitert worden, da es nicht mehr nur um den Mord an Melanie Kracht, sondern um weitere mögliche Gewaltverbrechen ging, verübt von niemand Geringerem als dem weit über die Berliner Stadtgrenze hinaus bekannten und bis zum Morgen des Vortags noch über jeden Zweifel erhabenen Berliner Schönheitschirurgen Professor Doktor Roderich Kracht.

Und auch Yao war am Morgen vom LKA -Leiter offiziell in die Soko »Nikolassee« berufen worden. Das hatte ihrem Chef Paul Herzfeld einerseits geschmeichelt, weil seine Stellvertreterin maßgeblich an der Zerstörung von Krachts Alibi beteiligt gewesen war, andererseits wollte er aufgrund der Personalknappheit in seiner Abteilung nur ungern auf eine erfahrene Mitarbeiterin verzichten. Als Kompromiss hatten er und Yao sich darauf verständigt, dass die Soko »Nikolassee« für Yao in den nächsten Tagen oder womöglich auch Wochen Priorität habe, sie sich aber als Back-up für die Abteilung bereithalten werde und, falls notwendig, im Sektionssaal der »Extremdelikte« unterstützte.

Bei Yaos Eintreffen vor etwa zwanzig Minuten hatten vor dem Eingang des LKA -Gebäudes bereits mehrere Kamerateams darauf gelauert, Schnappschüsse und Filmmaterial zu ergattern im Zusammenhang mit dem Mordfall, der seit dem gestrigen Abend die Berliner Presse und Medienlandschaft beherrschte. Reporter mit Mikrofonen und Zeitungsjournalisten hatten jeden, der das weit über einhundert Jahre alte Gebäude betrat oder verließ, gespannt gemustert, in der Hoffnung, Informationen zum Mordfall Kracht abgreifen oder gar vertrauliche Neuigkeiten erfahren zu können.

Yao war erleichtert gewesen, dass sich die Pressemeute bei ihrer Ankunft auf eine Dreiergruppe stürzte, die das Gebäude gerade verließ. So konnte sie unbehelligt das von zwei hohen Steinsäulen gesäumte Eingangsportal passieren, das ebenso wie die hellgraue Backsteinfassade und die riesigen Rundbogenfenster an eine Kirche erinnerte.

Der dunkel getäfelte Besprechungssaal war mit drei Dutzend in acht Reihen hintereinander angeordneten Holztischen und um die sechzig bis achtzig Stühlen, so schätzte Yao, möbliert. Etwa die Hälfte war mittlerweile besetzt, aber auch jetzt, einige Minuten nach dem geplanten Beginn der Besprechung, trafen immer noch vereinzelt Personen ein.

Yao hatte bewusst einen Tisch in der hinteren Reihe gewählt, um das Geschehen in Ruhe und mit einem gewissen Abstand zu verfolgen.

Neben Monica Monti und Doktor Lars Jörgensen waren noch etwa dreißig Personen im Raum anwesend, von denen Yao kaum jemanden kannte.

Mit Jörgensen hatte Yao nach ihrer Ankunft ein paar Worte gewechselt, bis dieser von einer Gruppe gleichaltriger Männer, definitiv LKA -Beamte, lautstark begrüßt und sofort in Beschlag genommen worden war und zur vordersten Tischreihe geführt wurde. Unter den wenigen bekannten Gesichtern an diesem Morgen war außerdem Kriminaloberkommissar Akpinar, der Yao von seinem Platz vier Reihen vor ihr freundlich zugelächelt und mit der Hand zum Gruß gewinkt hatte. Auch den Kriminaltechniker Burkhard Henßge, dessen Bekanntschaft sie vor acht Tagen am Tatort in Nikolassee gemacht hatte, konnte sie ein paar Reihen vor sich ausmachen. Seitlich vor ihr saß IT -Forensiker Kevin Schaller, der gerade umständlich seine überdimensionierte Brille putzte und dabei mit seinen kurzsichtigen Augen zu Yao blickte, sie aber offensichtlich nicht erkannte, da er ihren stummen Gruß in keiner Form erwiderte.

Nun ging Monti nach vorne in Richtung der bühnenartigen Erhöhung, und der Großteil der Augenpaare der Anwesenden richtete sich auf sie. Das Stimmengewirr ließ schlagartig nach und ging in ein Raunen und Flüstern über. Als sich Monti vor der Erhöhung an der beflaggten Stirnseite des Raumes aufgestellt hatte, kehrte gänzlich Ruhe ein.

»Kolleginnen und Kollegen. Uns ist gestern ein großer Fahndungserfolg gelungen, der nicht ohne das Zutun aller hier Anwesenden möglich gewesen wäre …« Die Leiterin der vierten Mordkommission sah mit einem anerkennenden Kopfnicken in die Runde und klatschte ihren Zuhörerinnen und Zuhörern zu, woraufhin aus dem Auditorium ebenfalls Applaus aufbrandete. »Aber, Kolleginnen und Kollegen«, fuhr sie jetzt mit lauter Stimme fort, wobei sie mit beiden Handflächen eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung ihrer Zuhörerschaft machte und der Applaus sofort wieder abebbte, »das LKA 1 hätte das definitiv nicht ohne Unterstützung durch die Rechtsmedizin geschafft. Deshalb möchte ich den hier anwesenden Kollegen von der Rechtsmedizin, Frau Doktor Sabine Yao vom BKA und Doktor Lars Jörgensen vom Landesinstitut – Letzteren werden die meisten der hier Anwesenden kennen –, meinen tiefsten Dank und meine Anerkennung für ihr rechtsmedizinisches Gespür aussprechen!«

Wieder applaudierten die Anwesenden, und einige Köpfe drehten sich nach hinten in Yaos Richtung, manche steckten kurz die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln.

»Sabine, stehst du bitte kurz auf, damit die Kollegen dich mal sehen?«, wandte sich Monti jetzt direkt an Yao.

Oh, nein, bitte nicht, ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen …

Yao schob ihren Stuhl etwas zurück und erhob sich dann von ihrem Platz. Glücklicherweise trug sie heute eines ihrer Lieblingsoutfits, in dem sie sich besonders wohl und sicher fühlte: ein schwarzes, klassisch geschnittenes Baumwollkleid, das sie ein Vermögen gekostet hatte, trotz oder wegen seiner Schlichtheit, das galt es noch zu klären … Sie lächelte zurückhaltend in die große Runde und machte in verschiedene Richtungen die Andeutung einer leichten Verbeugung. Als sie sich wieder setzte, erschien ihr dieses Verhalten völlig albern, und sie ärgerte sich, dass in Stresssituationen die chinesische Erziehung ihres Vaters immer noch durchkam.

Auch wenn ihr diese Aufmerksamkeit unangenehm war, konnte sie nachvollziehen, dass es durchaus sinnvoll war, wenn die Anwesenden ihren Namen und ihre Funktion mit einem Gesicht verbinden konnten. Im Lauf der nächsten Tage würde sie mit den verschiedensten Mitgliedern der hier versammelten Soko zu tun haben, wenn es um die rechtsmedizinische Beurteilung des Todes von Daria Diakovska und der beiden deutlich länger zurückliegenden Todesfälle Reichenbach und Luckner ging. Und schließlich war es Fakt, dass bis auf die drei oder vier Personen im Raum, die sie persönlich kannten, niemand hier vorher schon mal ihren Namen gehört hatte. Dies war dem Umstand geschuldet, dass es nur selten Berührungspunkte zwischen den BKA -Rechtsmedizinern der »Extremdelikte« und den Beamten des LKA 1 gab, da die Mordkommissionen des LKA 1 bei Tötungsdelikten in der Regel auf die Rechtsmediziner der beiden Berliner rechtsmedizinischen Institute, des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin und des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, zurückgriffen und nicht auf die Rechtsmediziner des BKA . Deren originäres Aufgabenfeld war die Untersuchung der Opfer von Extremdelikten wie terroristischen Anschlägen, Serienmorden, Ritualmorden oder auch Verbrechen im Zusammenhang mit Organisierter Kriminalität oder Kapitaldelikten, die das Potenzial hatten, internationale Verwicklungen nach sich zu ziehen.

Jörgensen bedurfte hingegen keinerlei Vorstellung, da er als einer der Rechtsmediziner des Landesinstituts mit den meisten Berufsjahren so ziemlich jedem im LKA 1 bekannt war.

Monti begrüßte nun den Vertreter der Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Bodo von Lürssen, und bat ihn zu sich nach vorne.

Von Lürssen, ein hagerer Mann Mitte oder Ende fünfzig mit stahlgrauem, vollem Haar, in einem perfekt sitzenden dunkelgrauen Maßanzug und mit fliederfarbener Krawatte zum weißen Hemd, trat nach vorne und beglückwünschte zunächst ebenfalls alle Anwesenden zu ihrem Ermittlungserfolg. Dann aber mahnte er eindringlich, dass sie noch lange nicht am Ziel seien, auch wenn die Indizienlast gegen Kracht erdrückend, aber für eine Anklageerhebung wegen Mordes zum jetzigen Zeitpunkt eben noch nicht ausreichend sei. Zudem habe Krachts Anwalt bereits Haftprüfung beantragt, und er rechne mit einer zusätzlichen Schwadron von Konfliktverteidigern, die sich höchstwahrscheinlich bereits in Position brächten und ihm und allen anderen in der Ermittlungsbehörde das Leben schwer machen würden. Er betonte, dass er Wert auf eine totale Nachrichtensperre lege. Sämtliche Kommunikation mit Pressevertretern habe ausschließlich über die Pressestelle der Staatsanwaltschaft, nicht über die des LKA zu erfolgen. Wobei er zu gegebener Zeit die Pressevertreter zu einer Pressekonferenz einladen werde, ergänzte von Lürssen und setzte sich wieder auf seinen Platz in der ersten Reihe.

Nun kam der Chef der Abteilung für IT -Forensik und Cyberkriminalität des LKA nach vorne. Der direkte Vorgesetzte von Kevin Schaller, dessen Name Yao akustisch aber nicht verstand. Der Mann zeigte mit grimmiger Miene anhand einer PowerPoint-Präsentation, wie letztlich die Auswertung der App auf Krachts Handy den dringenden Tatverdacht gegen den Schönheitschirurgen begründen konnte und warum das Ergebnis dieser Untersuchung als gerichtsfest zu erachten sei. Bei letzterem Punkt blickte der IT -Spezialist zu Oberstaatsanwalt von Lürssen und erntete ein anerkennendes Kopfnicken. Angesichts der nun folgenden Erläuterungen, was aus IT -Sicht noch weiter in Angriff zu nehmen sei, schien er um einiges besser gelaunt als noch gerade zuvor. Allerdings konnte Yao den Ausführungen des Mannes, dessen ungepflegter und nachlässiger Kleidungsstil dem seines Mitarbeiters Schaller Konkurrenz machte, nur wenige Sätze lang folgen, da er mit technologischen Fachbegriffen und Anglizismen nur so um sich warf. Es ging offensichtlich um ein Bewegungsprofil Krachts, das erstellt werden sollte. Außerdem sollten, an diesem Punkt kam Yao dann wieder mit, ebenfalls die weiteren drei Todesfälle, mit denen Kracht möglicherweise in Verbindung stand, mittels elektronischer Datenverarbeitung und IT hinsichtlich möglicher Spuren ausgewertet werden.

Die direkt neben ihr sitzende Beamtin, eine jüngere, nach Yaos Geschmack viel zu stark geschminkte und viel zu hell blondierte Frau in einer Latex-Leggins, flüsterte Yao in verschwörerischem Tonfall »Techsprech« zu, gefolgt von einem demonstrativen Achselzucken.

Nach dem Abgang des IT lers ließ Monica Monti durch zwei Beamte jedem der Anwesenden ein ungefähr sechzig Seiten starkes Dossier aushändigen, das auf dem Deckblatt unter anderem mit »VS – Nur für den Dienstgebrauch« als Verschlusssache deklariert war. Am Anfang waren die wesentlichen Ermittlungsergebnisse und die noch offenen Fragen im Mordfall Melanie Kracht aufgelistet, es folgte eine Skizzierung des beruflichen Werdegangs und der privaten Biografie Roderich Krachts, wobei letztere auffällig knapp und einige Jahre darin mit Fragezeichen versehen waren. Darüber hinaus enthielt das Dossier eine Zusammenstellung der wichtigsten Fakten und bisherigen Erkenntnisse im Todesfall der ehemaligen kaufmännischen Geschäftsführerin Krachts, Daria Diakovska, verfasst von Kriminaloberkommissar Akpinar, sowie Yaos Aufzeichnungen zu Nadine Reichenbach und Collin Luckner, die sie Monti bereits am Sonntag per Mail geschickt hatte.

Offensichtlich hatte Jörgensen soeben Yaos Stellungnahme zu den beiden Todesfällen in dem Dossier entdeckt, denn er machte eine anerkennende Daumen-hoch-Geste mit der einen Hand, während er mit dem Zeigefinger der anderen auf die aufgeschlagene Mappe vor ihm deutete.

Schließlich bat Monti zum Abschluss der Veranstaltung darum, dass sich alle Mitglieder der Soko »Nikolassee« mittels des gerade ausgegebenen Dossiers kurzfristig auf denselben und neuesten Stand bringen sollten, und skizzierte das weitere organisatorische Vorgehen. Sie teilte die Anwesenden in einzelne Teams ein und wies ihnen jeweils feste Aufgaben zu. Diese waren wiederum nach Priorität durchnummeriert, die allerdings ausdrücklich nur eine Empfehlung der Soko-Leiterin und keinesfalls verpflichtend war. Neben vier Ermittlungsteams gab es zwei Teams zur Qualitätskontrolle, denen »parallele Aktenkontrolle« und »Supervision« zukam, und weitere Teams, denen die Auswertung der Tatortspuren, die Erstellung von Bewegungsprofilen von Kracht und seiner Frau, die Ausweitung der Zeugenvernehmung und gegebenenfalls Wiedervorladung bereits vernommener Zeugen sowie die DNA -Spuren-Auswertung zugewiesen wurde.

Yao wurde gemeinsam mit Jörgensen der Gruppe zugeteilt, die sich mit den Todesfällen Reichenbach und Luckner befassen sollte.

Als sich alle Teams zusammengefunden hatten und nunmehr in kleineren oder größeren Grüppchen zusammenstanden, erklärte Monti die Versammlung offiziell für beendet.

Yao verspürte einen gewissen Stolz, als sie, Jörgensen und die sechs Kollegen, die zu ihrer Arbeitsgruppe gehörten, sich einander gegenseitig vorstellt hatten und jetzt gemeinsam – als Team – den imposanten Konferenzsaal verließen. Auch wenn sie derartige Emotionen normalerweise in ihrem Berufsalltag nicht zuließ, musste sie sich eingestehen, dass es befriedigend war, nach so vielen Tagen des Grübelns und Kopfzerbrechens zu wissen, wie die Diskrepanz zwischen nicht stattgefundenem Wiedereintritt der Totenstarre und der Todeszeit bei Melanie Kracht zu erklären war. Und nicht nur das: Yao hatte das vage Gefühl, dass der Fall Kracht noch einige spannende Details, wenn nicht sogar unerwartete Wendungen für sie bereithalten würde.

Was die Rechtsmedizinerin nicht wusste, war, dass der Tag, an dem sie sich wünschte, mit dem Fall Kracht niemals in Berührung gekommen zu sein, kurz bevorstand.