Dienstag, 17 . April, 20 : 47 Uhr,
Berlin,
Treptowers, BKA -Einheit »Extremdelikte«,
Kriminaltechnisches Labor
Y ao entdeckte Doktor Henry Fuchs im hintersten der insgesamt sechs baugleichen, jeweils etwa zwölf Meter langen, schlauchförmigen Laborräume im achten Stock der Treptowers. Auf dieser Etage waren die kriminaltechnischen Labore untergebracht, deren ebenso hochpreisige wie hochmoderne apparative und technische Ausstattungen den unterschiedlichsten Untersuchungen dienten.
Der Leiter des kriminaltechnischen Labors der rechtsmedizinischen Spezialeinheit »Extremdelikte« des BKA saß an einem Labortisch vor einer Reihe von Computermonitoren, die mit Geräten zur toxikologischen Untersuchung verbunden und auf hüfthohen Unterschränken montiert waren. An deren Vorderseite flimmerten gelbe, rote und grüne Leuchtdioden.
Yao passierte die schier endlose Reihe von vollautomatischen Apparaturen, die wie überdimensionale Kühltruhen aussahen. In den Schubladen, die teils aus den hellgrau verkleideten Geräten herausragten, standen immer mal wieder kleine Glasgefäße mit den verschiedensten Körperflüssigkeiten und Gewebeproben, die in den Analysegeräten vollautomatisch toxikologisch untersucht wurden.
Als Fuchs, der mit seinem jungenhaften Erscheinungsbild eher wie Anfang dreißig als wie Mitte vierzig aussah, Yao bemerkte, erhob er sich von seinem Stuhl.
»Guten Tag …«, sagte Fuchs mit lauter Stimme, um das Brummen der Analysegeräte zu übertönen. Doch plötzlich hielt er inne und sah, offensichtlich verdutzt, auf die Armbanduhr an seinem linken Handgelenk. »Oder vielmehr … guten Abend, Frau Yao. Was verschafft mir die Ehre?«
Yao wusste, dass Fuchs eine Frau und drei kleine Kinder hatte, aber trotzdem meist bis spät in die Nacht arbeitete. Er konnte sich so in seine Untersuchungen, Analysen und Berechnungen von Konzentrationen, Dosen und Wirkstoffspiegeln vertiefen, dass er darüber die Zeit vergaß. Es war schon vorgekommen, dass er in aller Herrgottsfrühe von den Reinigungskräften in einem der vielen Laborräume schlafend auf dem Boden gefunden worden war.
Yao erinnerte sich, dass Fred Abel Fuchs’ Akribie und Beharrlichkeit, aber auch seine Ausdauer und Geduld mehrfach scherzhaft als »Jugend forscht« bezeichnet hatte, was keineswegs despektierlich gegenüber dem promovierten Biochemiker gemeint gewesen war. Ganz im Gegenteil. Abel hatte damit auf die ihm eigene Art und Weise seine Bewunderung für Fuchs’ Arbeitsfreude und für seine Bereitschaft ausgedrückt, manches Mal auch unkonventionelle Wege zu beschreiten, wenn es um schnelle Resultate ging.
Mit großen braunen Augen schaute Fuchs seinem unerwarteten Gast neugierig entgegen.
»Guten Abend, Herr Fuchs. Es tut mir leid, wenn ich Sie hier so überfalle«, entschuldigte sich Yao, die den Mann im weißen Laborkittel am Ende des schlauchartigen Laborraumes just in diesem Moment erreicht hatte.
»Bitte glauben Sie mir, ich wäre um diese Uhrzeit nicht hier, ohne mich vorher bei Ihnen anzumelden, wenn es nicht dringend wäre. Ich bin zurzeit Mitglied einer Soko, die sich mit dem Mord an der Frau eines renommierten Arztes beschäftigt, der sich Anfang vergangener Woche ereignet hat«, fuhr Yao fort.
Fuchs schien im Bilde zu sein, denn er nickte und sagte mit seiner tiefen, sonoren Stimme: »Ich habe davon gehört. Aber soweit ich weiß, sind die Kollegen vom Landesinstitut da involviert, oder nicht?«
»Korrekt«, pflichtete Yao ihm bei. »Tatsächlich geht es nicht nur um den Mord an Melanie Kracht, der besagten Toten, sondern vielmehr um ihren Ehemann. Professor Roderich Kracht. Ein Schönheitschirurg, der allerdings seine ersten Schritte im medizinischen Berufsleben in der Rechtsmedizin in Greifswald gemacht hat und deshalb kein unbeschriebenes Blatt ist, was rechtsmedizinische Expertise anbelangt. Was ihn im Übrigen sehr wahrscheinlich dazu befähigte, die Todeszeit seiner Frau mittels einer Fußbodenheizung so zu manipulieren, dass sein Alibi zunächst wasserdicht und er über jeden Verdacht einer Tatbeteiligung erhaben schien. Bis …«
»Wow!«, entfuhr es Fuchs.
Er klang ernsthaft beeindruckt. Yao setzte ihre Handtasche auf dem Labortisch ab, vor dem sie beide jetzt standen. »Im Rahmen der Betrachtung weiterer Todesfälle aus der jüngeren und der etwas länger zurückliegenden Vergangenheit, bei denen Roderich Kracht seine Finger im Spiel gehabt haben könnte, sind wir auf drei Fälle gestoßen, bei denen die amtliche Todesursache vor dem Hintergrund der Todesumstände möglicherweise einer Neubewertung bedarf. In einem Fall«, mit diesen Worten zog sie aus ihrer Handtasche den Schnellhefter, der das Obduktionsprotokoll enthielt, und eine durchsichtige Spurensicherungstüte, in der sich Plastikröhrchen und kleinere durchsichtige Plastikbehälter befanden, »haben wir Probenmaterial.«
Fuchs’ Augen schienen jetzt noch größer als zuvor und sein Blick noch eine Spur neugieriger und interessierter, als Yao ihm die Tüte mit den Asservaten übergab.
»Wenn man diese Todesfälle einer genaueren Analyse unterzieht, was leider im Ersten Angriff unterblieben ist, wird man möglicherweise einiges zutage fördern. Doch dafür muss man tief genug graben. Und da kommen Sie ins Spiel, Herr Fuchs!«
Fuchs bewegte beide Mundwinkel leicht nach oben und zeigte die Andeutung eines Lächelns, als er die Tüte mit den Asservaten von der vor fünfzehn Jahren im Landesinstitut durchgeführten Obduktion von Collin Luckner vor seinem Gesicht hochhielt und die darin enthaltenen Plastikröhrchen von allen Seiten interessiert betrachtete.