Freitag, 27 . April, 11 : 17 Uhr,
Pkw Prof. Paul Herzfeld
H erzfeld hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Stellvertreterin an ihrem Entlassungstag höchstpersönlich aus der Klinik abzuholen. Yaos Krankenzimmer, wo sie ihn mit gepackten Sachen schon ungeduldig erwartet hatte, war ihm wie eine Blumenhandlung vorgekommen.
Nachdem er von Monica Monti erfahren hatte, was passiert war, hatte er Yao in der Chirurgischen Klinik noch in der Nacht, nur wenige Stunden nach ihrer Einlieferung, besucht. Seitdem waren zahlreiche Blumengrüße für seine Stellvertreterin auf der Station abgegeben oder persönlich vorbeigebracht worden. Die gesamte Fensterbank, der eigentlich zur Einnahme der Mahlzeiten vorgesehene Tisch und der Nachttisch waren mit Sträußen unterschiedlichster Größe vollgestellt. Offensichtlich hatten nicht nur Yaos Kollegen aus den Treptowers und die Mitglieder der Soko »Nikolassee«, sondern auch alle möglichen anderen Vertreter der Berliner Ermittlungsbehörden ihre Genesungswünsche mit Sträußen ausgedrückt, wie Herzfeld mit Blick auf die Grußkarten klar geworden war.
Yao selbst sah dagegen furchtbar aus. An der linken Schläfe prangte ein großes, blutverkrustetes Pflaster, die linke Wange war blau verfärbt und beide Augenoberlider und -unterlider in einem fliederfarbenen Farbton unterblutet, sodass Yao prächtig in jedem Medizinstudentenunterricht im Fach Traumatologie als Anschauungsobjekt für den Begriff »Brillenhämatom« hätte herhalten können.
Herzfeld hatte sich auf der Autofahrt nach Charlottenburg bisher bewusst wortkarg gegeben, da er das eigenmächtige Handeln seiner Stellvertreterin – sowohl was ihren Besuch in der JVA Heidering bei Kracht als auch das abendliche Zusammentreffen von Yao und Kracht am Klein Köriser See anging – offiziell natürlich überhaupt nicht gutheißen durfte. Auch wenn es in ihm drin ganz anders aussah …
Ich war früher genauso. Immer mit dem Kopf durch die Wand …
»Wenn Frau Wittstock nicht gewesen wäre … Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können. Dieser Wahnsinnige hätte Sie glatt totgeprügelt«, bemerkte Herzfeld am Steuer.
Yao starrte schweigend aus dem Seitenfenster auf die vorbeiziehenden Gebäude des Kaiserdamms.
»Vielleicht hätte er Sie aber auch totgespritzt, da Polizeitaucher zwei Tage nach seinem Angriff auf Sie im See, direkt am Steg, in etwa zwei Meter Tiefe eine Spritze gefunden haben«, fügte der Chef der »Extremdelikte« hinzu. Er sah aus den Augenwinkeln, dass er jetzt die volle Aufmerksamkeit seiner Beifahrerin hatte.
»Allerdings kommen wir da ins Spekulieren. Was sich in der Spritze befunden hat, ließ sich nicht mehr nachweisen. Und ob die Spritze überhaupt in Zusammenhang mit Kracht und Ihnen steht oder ob ein Junkie sie da verloren hat … Wer weiß … Wir werden es vermutlich nie erfahren, denn Kracht verweigert, seitdem er sich wieder in Heidering in Einzelhaft mit speziellen Sicherheitsvorkehrungen befindet, auf Anraten seines Anwalts von Gundlach jegliche Aussage«, ergänzte er, auch wenn er wusste, dass Monti seine Stellvertreterin bei ihren Besuchen in der Klinik auf den neuesten Stand gebracht hatte. Dass Kracht mittlerweile nämlich für vier weitere Todesfälle aus seinem direkten privaten und beruflichen Umfeld in den letzten sechzehn Jahren in Betracht kam und jetzt auch deswegen gegen ihn ermittelt wurde.
Doch eine weitere Info hatte er exklusiv in petto für seine Stellvertreterin. »Wenn es da draußen am See anders gelaufen wäre, säße Kracht jetzt auf den Cayman Islands. Und zwar in weiblicher Begleitung. Zumindest war das der Plan«, verkündete Herzfeld und registrierte, dass Yao ihn jetzt direkt ansah.
Herzfeld fuhr fort: »Kracht sollte noch in der Nacht nach Ihrem Treffen in Klein Köris mit einem Privatjet vom General Aviation Terminal des BER zunächst nach Nassau auf den Bahamas und von dort weiter zu den Caymans fliegen. Unter falschem Namen, inkognito, versteht sich.«
»In weiblicher Begleitung von wem?«, unterbrach Yao ihn. Wusste ich doch, dass sie fragt.
»In Begleitung von Uta Schünke, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern und für Heimat. Uta Schünke hat mehrere Jahre …«
»Ich weiß, wer das ist«, unterbrach Yao ihn. »Wahnsinn. Nicht auszudenken, wenn er so davongekommen wäre. Wussten Sie eigentlich, dass er Phosphin benutzt hat, um sein mutmaßlich zweites Opfer, Collin Luckner, zu töten? Obwohl … zweites Opfer ist mittlerweile ja ziemlich spekulativ, nachdem es wohl vier mutmaßliche weitere Opfer gibt.«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte Herzfeld. »Ich habe die Niederschrift Ihrer Vernehmung gelesen, die Frau Monti und Herr Seibel vor vier Tagen bei Ihnen in der Klinik durchgeführt haben. Ich kenne mittlerweile den gesamten Inhalt der Ermittlungsakte Kracht«, erklärte Herzfeld und sah zu Yao hinüber, wobei er ihr vielsagend zuzwinkerte.
Eine kurze Zeit herrschte Schweigen im Fahrzeug.
Dann fragte Yao: »Was für Folgen … ich meine …«
»Natürlich bin ich nicht darüber erfreut, was passiert ist. Aber Sie wissen, Frau Yao, dass ich große Stücke auf Sie als Rechtsmedizinerin halte, wenn Sie nicht gerade irgendwelche riskanten Alleingänge – gegen meine ausdrückliche Anweisung – unternehmen. Insofern … Schwamm drüber.«
»Danke. Keine Alleingänge mehr … Mein Bedarf an Alleingängen ist gedeckt. Ich verspreche Ihnen, dass ich …«, setzte Yao an, aber Herzfeld unterbrach sie: »Genau das wollte ich hören. Wenn wir uns darauf einigen können, ist die Angelegenheit für mich erledigt!«
Herzfeld entging nicht, dass Yao erleichtert aufatmete.