Montag, 30 . April, 18 : 17 Uhr,
Berlin-Steglitz,
Psychiatrische Fachklinik Sana Mente
O h, Gott! … Was ist denn … was ist denn mit dir passiert?«, fragte Mailin mit brüchiger Stimme.
Es war ihr anzumerken, wie schwer ihr das Sprechen fiel, wie sie matt und erschöpft, ein Häufchen Elend, in ihrem Krankenbett lag.
Aber immerhin spricht sie .
An Yaos linker Schläfe befand sich immer noch ein großes Pflaster, das eine chirurgisch versorgte Wunde abdeckte. Am nächsten Tag sollten die Fäden gezogen werden. Ihre linke Wange hatte eine dunkelgrünlich-bräunliche, nach unten zum Unterkiefer hin gelblich auslaufende Färbung, und ihre beiden Augenoberlider und -unterlider waren in einem ähnlich bunten Farbton unterblutet.
Obwohl Mailins Gesicht mit den versteinert wirkenden Gesichtszügen nach wie vor einer Maske glich, hatte Yao so etwas wie Besorgnis im Gesicht ihrer kleinen Schwester wahrgenommen, als sie vor wenigen Augenblicken ins Zimmer gekommen war und sich zu Mailin ans Bett gesetzt hatte.
»Es ist alles in Ordnung. Ein Unfall … Ich bin gestürzt … kein Grund, dir Sorgen zu machen«, beruhigte Yao ihre Schwester. »Erinnerst du dich? Als wir klein waren? Wir sind überall raufgeklettert. Hochsitze, Mauern, Zäune, Türme«, fuhr Yao fort und hoffte inständig, dass Mailin ihr glauben würde, während sie sich darauf konzentrierte, nicht an der juckenden Verletzung an ihrer Schläfe zu reiben.
Mailin schien sich mit dieser Erklärung zufriedenzugeben, denn sie fragte nicht nach. Nur ihre Augen schweiften unruhig durch den Raum, dann schloss sie die Augen.
»Die Zeit, in der wir gemeinsam auf Türme geklettert sind, um die Welt zu erkunden, ist noch nicht vorbei, Mailin«, sagte Yao und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
Sie griff nach der Hand ihrer Schwester und drückte sie leicht, was diese schwach erwiderte. Dann saß Yao eine Zeit lang schweigend an ihrem Bett und musterte sie.
Sie sieht etwas besser aus, ihre Gesichtshaut ist nicht mehr aschfahl und das Gesicht nicht mehr ganz so stark aufgedunsen wie noch bei meinem letzten Besuch hier in der Klinik vor knapp zwei Wochen.
Da bemerkte sie, dass Mailin eingeschlafen war. Yao strich ihrer kleinen Schwester zum Abschied zärtlich über die Wange und verließ leise das Krankenzimmer.
Sabine Yao ging durch den langen Klinikflur und schaute durch die schmalen Fenster nach draußen, dort blühten die ersten Bäume in voller Pracht. Sie würde notgedrungen die nächsten Tage krankgeschrieben zu Hause verbringen müssen und sich auskurieren. Aber sie wusste, ihr würde es bald wieder gut gehen. Nämlich dann, wenn sie in gewohnter Routine nach der Frühbesprechung im Sektionssaal ihrer Arbeit nachgehen konnte. Wenn sie das tun konnte, was ihr eine tiefe professionelle Befriedigung verschaffte. Wenn sie zwar dem Tod so nah war, aber doch erst richtig lebte.