Wir verlegten sie bei Nacht. Pamela fuhr mit Deputy Treat im Streifenwagen und Duncan mit mir in meinem Pick-up. Duncan machte mir ein bisschen Sorgen. Einen Tag und eine Nacht hatten er und Pamela im Sheriff Department verbracht, und nun wirkte er, als hätte er mächtig Muskelschmalz zugelegt — jedenfalls nahm er den Mund dementsprechend voll. Nicht gut. Seine große Klappe machte mir keine Sorgen, um so mehr aber das Muskelschmalz. Ich wollte mit Duncan reden, und zwar so, dass Pamela es nicht mitbekam, damit er nicht auf die Idee kam, er müsse vor ihr den starken Mann spielen.
»Wohin fahren wir?«, fragte Duncan.
»Zum Hideaway«, sagte ich.
»Zu dem alten Motel? Warum?«
»Damit ihr ein Dach über dem Kopf habt und eine Tür, die ihr abschließen könnt. Damit ihr in der Stadt seid, wo viele Leute sind, und nicht draußen im Wald. Damit wir was tun können, wenn die Leute, die hinter euch her sind, in Aktion treten wollen.«
»Sollen sie doch in Aktion treten«, sagte Duncan. »Scheiß drauf. Sollen sie doch kommen. Ist mir scheißegal.«
Er hörte sich an wie der arme alte Rhumba, oder? Heutzutage ist alles scheißdies und scheißdas, besonders bei den Jugendlichen. Wann hat das angefangen? Wenn Miss Maitland in der Schule, auf die ich gegangen bin, einen ihrer Schüler so hätte reden hören, hätte sie ihn zum Sportplatz geschleift und an der Reckstange aufgehängt. Aber die Schule der armen Miss Maitland hatte ja auch nur zwei Klassen und lag irgendwo im Hinterwald. Wenn man auf eine teure Schule in Massachusetts oder Connecticut geht, wo man Latein und so lernt, kann man reden wie man will. Ich meine: jeden Scheiß von sich geben.
»Immer mit der Ruhe, junger Mann«, sagte ich. »Für die sind der Deputy und ich zuständig. Das ist unser Job. Und euer Job ist, auf Tauchstation zu bleiben.«
»Scheiß drauf«, sagte Duncan. »Und auf die scheiße ich auch. Wie gesagt: Sollen sie doch kommen — ich werde sie empfangen.«
O-oh. »Und was heißt das?«, fragte ich ihn.
»Das heißt, dass ich bereit sein werde. Mein Dad hat Waffen. Die hat er zwar eingeschlossen, aber ich weiß, wo der Schlüssel ist. Er weiß nicht, dass ich es weiß, aber ich weiß es. Und wenn diese Scheißer auftauchen, werde ich sie empfangen. Ganz einfach.«
Ich hielt an, nahm den Gang raus, wandte mich zu Duncan March und sah ihn an.
»Duncan«, sagte ich, »hör mir zu. Denk nicht mal an das, was du gerade denkst. Du wirst hier nichts in die eigene Hand nehmen. Denen bist du nicht gewachsen. Diese Kerle sind keine Gastmannschaft bei irgendeinem Lacrosse-Turnier. Die machen dich platt. Die drehen dich durch die Mangel und lassen dich liegen. Hast du das verstanden? Duncan?«
Er schwieg.
»Wenn dir egal ist, was mit dir passiert«, fuhr ich fort, »dann denk an Pamela. Sie wollen Pamela. Du interessierst sie nur, wenn du dich ihnen in den Weg stellst. Tu das also nicht. Je schwerer du es ihnen machst, desto schwerer machst du es auch für Pamela und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie verletzt wird. Das willst du nicht, oder? Das will keiner.«
»Nein, das will keiner«, sagte Duncan.
»Also Finger weg von den Waffen deines Vaters. Steck die Hände in die Taschen und halt die Füße still. Und hör auf, große Töne zu spucken. Klar so weit?«
Duncan nickte.
Wingate sagte immer, zu seiner Zeit sei das Sheriffgehalt leicht verdientes Geld gewesen. Das stimmte, denn die Leute, für die man Sheriff war, waren hauptsächlich Farmer, Holzfäller und Sägewerksarbeiter, und das hieß, sie arbeiteten so schwer und waren am Feierabend so erledigt, dass sie keine Energie mehr hatten, um größeren Ärger zu machen.
In gewissem Maß stimmt das noch immer. Die Farmer und die Sägewerksarbeiter sind weg, aber wir sind noch immer ziemlich gesetzestreu. Der letzte Mord im Tal ist fast zehn Jahre her. Diebstahl? Na ja, wir haben Einbrüche, aber nur selten wird etwas wirklich Wertvolles gestohlen. Es gibt Vandalismus, hauptsächlich in Schulen und auf Friedhöfen. Es gibt häusliche Gewalt, aber eigentlich nicht besonders oft, und auch da hat sich etwas verändert: Heutzutage gibt es auch Frauen, die ihre Männer verprügeln. Wahrscheinlich ist das gut — ein weiterer Schritt in Richtung Gleichberechtigung, oder?
Ich will damit nicht sagen, dass der Sheriff den ganzen Tag herumsitzt und ein gutes Buch liest. Ganz und gar nicht. Wir sind ziemlich beschäftigt. Ich habe das große Aufgabenfeld Straßenverkehr noch nicht erwähnt: Unfälle, Raser, Betrunkene oder sonst wie Bedröhnte und so weiter. Wir sind beschäftigt. Aber meist haben wir es nicht mit finsteren, geplanten, eindeutigen Verbrechen zu tun, sondern mit dem, was Wingate immer als »Dämlichkeit« bezeichnete, mit jener Form von Fehlverhalten, die, wenn man der Sache auf den Grund geht, in neun von zehn Fällen auf das Wirken zweier Wohltäter der Menschheit zurückzuführen ist: auf Mr Jim Beam und Mr Bud Weiser.
Also hat Wingate recht, wenn er sagt: leicht verdientes Geld. Obwohl … in den letzten Jahren? Ich weiß nicht. Es hat sich was verändert, und zwar nicht nur, was die Bösen, die Verbrecher und die lediglich Dämlichen betrifft. Auch auf unserer Seite hat sich was verändert. Früher gab’s hier den Sheriff und die Wildhüter, und es gab die State Police zur Verstärkung, wenn es nötig war. Das war’s — darüber hinaus gab’s dann nur noch die Nationalgarde. Heutzutage treiben sich alle möglichen Polizisten in unserem Tal herum, und wir wissen noch nicht mal, wer sie sind. Manchmal haben wir keine Ahnung, dass sie überhaupt da sind.
Vor ein paar Jahren zum Beispiel schlug ich eines Morgens die Zeitung auf und las einen langen Artikel über die Festnahme eines Mannes, der hier im Tal wohnte und in irgendeinen internationalen Betrug verwickelt war. Er hieß Aaron Nachtigal und hatte sein Homeoffice in einem Ferienhaus in Gilead. Später erfuhr ich, dass man jahrelang gegen Nachtigal ermittelt hatte. An seiner Festnahme waren Beamte des FBI, der Steuerfahndung, des Finanzministeriums, der Börsenaufsicht, des Außenministeriums, der Post und einiger anderer Behörden beteiligt, deren Namen mir entfallen sind. Von Aaron Nachtigal hatte ich noch nie gehört. Ebenso wenig wie von einigen der Behörden, die ihn zur Strecke gebracht hatten. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, mich davon in Kenntnis zu setzen, dass in meinem Bezirk ein Großeinsatz mit Dutzenden Beteiligten bevorstand.
Ich rief Captain Dwight Farrabaugh in der Kaserne der State Police in White River an.
»Was weißt du über diese Nachtigal-Geschichte?«, fragte ich ihn.
»Dies und das«, sagte er.
»Dies und das? Was soll das heißen?«
»Ich wusste, dass was im Busch ist, aber Z-Z hab ich erst gestern erfahren.«
»Z-Z?«
»Zeitpunkt und Zielperson«, sagte Dwight.
»Zeitpunkt und Zielperson? Du hörst dich an wie eine Fernsehserie. Du hättest mich mal anrufen können, oder?«
»Wie gesagt: Die Operation war sehr geheim.«
»Das ist mein Bezirk, Captain«, sagte ich. »Und wenn die Operation noch so geheim war: Ich hätte darüber informiert werden müssen.«
»Ach, Lucian«, sagte Dwight. »Komm raus aus deinem Schneckenhaus — willkommen in der Gegenwart. Du bist nicht mehr der Sheriff von Cochise. Du bist nicht der Lone Ranger. Du bist nicht mal Rip Wingate. Heutzutage gibt’s Teams. Teamarbeit ist alles.«
»Nur blöd, wenn man in einem Team ist, aber gar nicht weiß, dass es ein Team gibt und was es eigentlich tun soll«, sagte ich.
»Dafür kann ich nichts«, sagte Dwight.
»Na gut«, sagte ich, »es ist eben, wie es ist, oder?«
»Sieht so aus«, sagte Dwight. »Ich hab jetzt zu tun, Lucian.«
»Nur so aus Neugier: Was hat dieser Typ noch mal ausgefressen? Dieser Nachtigal?«
»Bankbetrug oder Postbetrug oder so.«
»Aber was genau?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Dwight. »Der Typ vom Finanzministerium hat versucht, es mir zu erklären, aber ich hab nichts davon kapiert.«
Aber so laut ich damals auch protestiert hatte, als in meinem Tal unsichtbare Mächte ohne mein Wissen in Aktion getreten waren, wäre es mir jetzt doch ganz recht gewesen, so viele Leute zur Verfügung zu haben, um gegen Carl Armentrout, seinen dunklen Boss und seine Schwergewichte vorzugehen. Nur: warum eigentlich? Mit welcher Begründung? Bis jetzt hatte ich, abgesehen von der Verwüstung des Lagers im Wald, keine Gesetzesübertretung gesehen. So etwas — und Schlimmeres — passiert schließlich an jedem Labor-Day-Wochenende. Und Rex Lord? Der wollte nur seine Stieftochter. Was hatte ich also gegen ihn? Dass er reich genug war, um es sich leisten zu können, Leute zu bezahlen, damit sie Pamela suchten? Reichtum ist kein Verbrechen (außer in der Bibel, soviel ich weiß). Nein, ich war derjenige, der ein Problem hatte, und es war dasselbe wie damals, als unsichtbare Mächte sich Aaron Nachtigal vorgenommen hatten. Nur diesmal waren sie nicht auf meiner Seite. Das machte mich ein bisschen nervös. Mehr als ein bisschen. Es war wie mit Hunden. Jeder mag Hunde. Ich mag sie auch, aber ich weiß gern, wo sie sind. Besonders, wenn sie groß sind. Besonders, wenn sie beißen.
Clemmie sagt, mein Problem ist, dass ich mich nicht entscheiden kann, ob ich der Sheriff des Tals bin oder seine liebe alte Tante.
Deputy Treat und Pamela erwarteten uns in einer der Hütten des Hideaway. Sie hatten unterwegs Pizzas gekauft, und als Duncan und ich eintrafen, setzten wir uns auf den Boden und machten uns darüber her.
»Wie in der Schule«, sagte Duncan, »im Wohnheim.«
»Nur dass wir kein Gras haben«, sagte Pamela gutgelaunt.
»Vielleicht bringt Hector uns was vorbei«, sagte Duncan.
»Das wäre schön«, sagte sie. »Das wäre so ziemlich der einzige Grund, warum ich mich freuen würde, ihn zu sehen.«
»Wie bitte?«, sagte Deputy Treat. »Moment mal — bin ich hier etwa in einer Drogenhöhle gelandet?«
»Könnte sein«, sagte ich.
»Denn wenn das so ist«, fuhr der Deputy fort, »muss ich möglicherweise eine Festnahme vornehmen.«
»Sie wollen mich festnehmen?«, sagte Duncan.
»Nicht dich«, sagte Treat. Er sah Pamela an. »Aber dich vielleicht.«