Am nächsten Morgen in der Dienststelle war DS Malik zutiefst frustriert. Die lokale Presse berichtete ausführlich über Iqbals Ermordung, und sie befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Reporter herausfanden, dass auch Stefan Dunwoody ermordet worden war. Wie der Superintendent ihr eindringlich klargemacht hatte: Die Zeit lief ihnen davon.
DS Malik und ihr Team fanden niemanden, der auch nur ein vages Motiv hatte, Iqbal Kassam zu töten. Stattdessen bestätigte sich, was die Hundeausführerin Suzie Harris gesagt hatte: Iqbal hatte eine blütenweiße Weste, oder zumindest schien es so. Sie waren von Tür zu Tür gegangen und hatten die Nachbarn befragt, aber auch das hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Niemand in Iqbals Straße hatte an dem Morgen, als er getötet worden war, einen Schuss gehört oder jemanden gesehen, der Iqbals Grundstück betreten oder verlassen oder in der Nähe auf verdächtige Weise herumgelungert hatte. Und doch war irgendwer in seinen Bungalow eingedrungen und hatte ihn erschossen.
DS Malik hatte kurz das Herz geklopft, als sie festgestellt hatte, dass Iqbal alle Taxifahrten in einem elektronischen Fahrtenbuch protokolliert hatte. Es war eine vollständige Liste der Fahrgäste mitsamt Kontaktdaten sowie Zeit und Datum. Aber als ihr Team die Leute abklapperte, die seine Dienste in Anspruch genommen hatten, erfuhren sie bloß, was für ein toller Kerl Iqbal gewesen war – fröhlich, zuverlässig und ehrlich. Obendrein bekamen sie mehrfach zu hören, dass Iqbal sich besonders viel Mühe gab, um seine Kunden zufriedenzustellen. Manchmal, wenn sich sein Fahrgast in einer Zwangslage befand, hatte er eine Fahrt gar nicht berechnet.
Als sie seine Konten und Steuerunterlagen prüften, ergab sich ein ähnliches Bild: Iqbal war ein redlicher Mann, der hart arbeitete, alle seine Einkünfte versteuerte und nicht viel ausgab. Er hatte keine Zahlungen für Kreditkarten oder Kundenkarten ausstehen und spendete sogar zehn Prozent seines Einkommens für wohltätige Zwecke. Trotz seiner Großzügigkeit hatte er so bescheiden gelebt, dass er zum Zeitpunkt seines Todes fast 23000 Pfund auf dem Bankkonto gehabt hatte. Anscheinend hatte Iqbal auf ein Boot gespart, für das er in Marlow auf der Themse einen Liegeplatz hatte mieten wollen. Beinahe hätte er sich seinen Traum erfüllen können.
Die vorläufigen Ergebnisse der Autopsie hatten ergeben, dass er bei seinem Tod keinen Alkohol im Körper gehabt hatte, wohl aber Spuren von Diphenazin, dem Schlafmittel, das sie in Iqbals Schlafzimmer sichergestellt hatten. Die Dosis war jedoch nicht allzu hoch. Der forensische Toxikologe meinte, sie hätte gereicht, um Iqbal schläfrig zu machen, aber zu mehr auch nicht. Da es sich jedoch um ein verschreibungspflichtiges Medikament handelte, rief DS Malik Iqbals Hausarzt an, der ihr bestätigte, dass Mr Kassam ihn im Vorjahr um ein Mittel gebeten hatte, das ihm beim Einschlafen half. Er hatte regelmäßig nachts gearbeitet und deshalb Mühe gehabt, tagsüber einzuschlafen.
Diese Information ließ DS Malik aufhorchen. Es hatte weder Spuren eines Einbruchs unmittelbar vor dem Mord gegeben noch Anzeichen für einen Kampf. Dass Iqbal im Bett erschossen worden war, während er ein Schlafmittel im Blut hatte, machte es ziemlich unwahrscheinlich, dass er aufgestanden war, um den Mörder ins Haus zu lassen.
Diese Theorie wurde dadurch gestützt, dass Iqbal laut dem Rechtsmediziner zwischen fünf und sechs Uhr morgens gestorben war. Das passte zu Iqbals Fahrtenbuch, aus dem hervorging, dass er bis drei Uhr morgens im Einsatz gewesen war. Höchstwahrscheinlich hatte er um drei Uhr morgens seine Schicht beendet, war heimgekommen, zu Bett gegangen, hatte festgestellt, dass er nicht schlafen konnte, und Schlaftabletten genommen. Dann war der Mörder irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr morgens mit einem Ersatzschlüssel in Iqbals Haus gelangt und hatte ihn erschossen.
Wenn der Mörder aber einen Ersatzschlüssel hatte, musste Iqbal ihn für einen besonders engen, vertrauenswürdigen Freund gehalten haben. Schließlich hatte Iqbal nicht einmal der Frau, die seinen Hund ausführte, einen Ersatzschlüssel anvertraut.
Doch wie gründlich DS Malik und ihr Team auch nachforschten: In Iqbals Fahrtenbuch, seinen E-Mails, Telefonverbindungen, Finanzunterlagen und seiner allgemeineren Korrespondenz gab es nichts, das darauf hindeutete, dass er einen festen Freundeskreis gehabt hatte. Tatsächlich hatten DS Malik und ihr Team Mühe, überhaupt jemanden zu finden, der ihn gekannt hatte. Wie Suzie ihnen mitgeteilt hatte, war Iqbal ein Einzelkind gewesen, und seine Eltern waren vor vielen Jahren gestorben.
Es gab nur zwei brauchbare Fährten.
Da war zunächst einmal das Bronzemedaillon mit dem Wort »Hoffnung«, das sie in Iqbals Mund gefunden hatten. Fingerabdrücke waren nicht darauf. Auch auf dem Medaillon, das an Stefans Jackett befestigt gewesen war, hatten sie keine Fingerabdrücke gefunden. Aber die Medaillons gehörten eindeutig zusammen: Die Bronze wies die gleiche altersbedingte Patina auf, am Rand waren die gleichen Blattranken eingeprägt, und die Schrift der eingravierten Wörter »Glaube« und »Hoffnung« war identisch.
Der ballistische Bericht beseitigte die letzten Zweifel, dass die beiden Todesfälle zusammenhingen. Die Kugel, die Iqbal getötet hatte, war mit derselben Pistole abgefeuert worden, mit der auch Stefan erschossen worden war.
Einer deutschen Luger aus dem Zweiten Weltkrieg.
Für DS Malik ergab das alles keinen Sinn. Warum sollte jemand einen Kunsthändler und danach einen Taxifahrer töten wollen? Und woher hatte der Mörder eine uralte deutsche Luger? Als sie sich diese Frage stellte, musste DS Malik wieder an eine ganz bestimmte Person denken, die in diesen Fall verwickelt war und die möglicherweise die Antwort darauf wusste.
»Sie möchten wissen, wie man an eine alte Pistole kommt?«, fragte Elliot Howard, nachdem DS Malik ihm den Grund für ihren Anruf mitgeteilt hatte. »Was für eine eigenartige Frage.«
»Kommt man da leicht ran?«
»Das kommt ganz darauf an. Es gibt natürlich antike Waffen auf dem Markt, von Hellebarden, Streitkolben und so weiter bis hin zu neueren Stücken. Aber darf ich fragen, ob Sie von einer deaktivierten Pistole reden? Einer, bei der man den Zündmechanismus entfernt hat? Schließlich darf man alte Waffen nur verkaufen, wenn sie deaktiviert worden sind.«
Elliot klang schon wieder so jovial, dass DS Malik sich fragte, ob Judith recht gehabt hatte: Machte ihm das hier etwa Spaß?
»Verkaufen Sie denn solche Waffen?«, fragte sie.
»Wir haben zweimal im Jahr eine Auktion mit militärischen Memorabilien.«
»Und alle Ihre Waffen sind deaktiviert und unbrauchbar.«
»Natürlich. Sonst wären sie nicht legal.«
»Ist es denn möglich, dass Sie jemals eine alte Pistole verkauft haben, die nicht unbrauchbar war? Aus Versehen?«
»Unmöglich. Wir haben einen Militärexperten, der alle Lose gründlich prüft, bevor wir sie versteigern. Falls uns jemand eine funktionierende Pistole anbietet, weigern wir uns, etwas damit zu tun zu haben, und melden den Vorgang der Polizei. Aber warum fragen Sie mich nach deaktivierten Pistolen?«
»Weil wir Hinweise auf eine haben, die nicht deaktiviert worden ist.«
»Dann kann ich Ihnen versichern, dass sie keinesfalls in meinem Auktionshaus versteigert wurde.«
»Aber woher könnte derjenige sie dann haben?«
»Aus dem Internet, könnte ich mir vorstellen. Da gibt es einen Schwarzmarkt für historische Waffen. Meiner Meinung nach tummeln sich da hauptsächlich Leute, die historische Schlachten nachstellen, und Fantasy-Fans. Aber man kann funktionierende alte Pistolen kaufen, und wenn man nur lange genug sucht, findet man auch jemanden, der einem erklärt, wie man deaktivierte historische Waffen wieder in Betrieb nimmt. Insofern glaube ich schon, dass es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, sich eine funktionierende historische Pistole zu beschaffen, wenn man es darauf anlegt.«
»Ich verstehe. Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Aber ja doch«, sagte Elliot. »Der Polizei helfe ich immer gerne.«
»Wenn ich zu Ihnen ›Glaube‹ und ›Hoffnung‹ sagen würde, was würden Sie dann sagen?«
»Nun, ›Liebe‹, wie wahrscheinlich jeder.«
»Und hat diese Phrase für Sie irgendeine besondere Bedeutung?«
»›Glaube, Hoffnung, Liebe‹? Das ist aus der Bibel, oder? Aber für mich persönlich hat das eigentlich keine besondere Bedeutung.«
»Es ist aus dem ›Hohelied der Liebe‹ im ersten Korintherbrief, Kapitel dreizehn, Vers dreizehn. Eigentlich ist dort aber nicht von Liebe die Rede, sondern von caritas, also Barmherzigkeit. Oder Nächstenliebe.«
»Ach was? Man lernt nie aus. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Eine letzte Frage. Könnten Sie mir sagen, wo Sie gestern zwischen fünf und sechs Uhr morgens waren?«
»Wo ich gestern zwischen fünf und sechs Uhr morgens war?«
»Genau.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Bitte beantworten Sie einfach nur die Frage.«
»Da war ich dort, wo ich immer um die Zeit bin. Ich lag im Bett und habe tief und fest geschlafen.«
»Können Sie das irgendwie belegen?«
»Dass ich geschlafen habe? Sie können ja meine Frau Daisy fragen, aber ich nehme an, die hat ebenfalls geschlafen.«
»Sie können also nicht belegen, dass Sie im Bett waren?«
»Natürlich nicht, ebenso wenig, wie Sie das könnten. Ich war gestern Morgen zwischen fünf und sechs in meinem Bett und habe geschlafen, genau wie Sie und so ziemlich jeder andere Mensch in diesem Land. Sind wir jetzt fertig?«
Das waren sie, und endlich einmal vernahm DS Malik in Elliots Stimme einen Anflug von Verärgerung. Sie bedankte sich, legte auf und nahm sich einen Moment Zeit, das Gespräch im Geiste noch einmal durchzugehen. Wie gewohnt schien Elliot von ihren Fragen weitgehend unbeeindruckt gewesen zu sein, aber ein Detail empfand sie dennoch als bedeutsam. Als sie ihn gefragt hatte, wo er sich an dem Morgen, an dem Iqbal ermordet worden war, zwischen fünf und sechs Uhr aufgehalten hatte, da hatte er ihr geantwortet, ohne sie zu fragen, warum sie das überhaupt wissen wollte. DS Maliks Erfahrung nach fragte fast jeder, wenn man sich erkundigte, wo er zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen war, warum die Polizei das wissen wollte. So waren die Menschen nun einmal. Sie waren neugierig.
Elliot war nicht neugierig gewesen.
Und dennoch wusste DS Malik, Elliots Verhalten für verdächtig zu halten war schön und gut, aber sie und ihr Team waren nirgendwo in Iqbals Leben auf einen Hinweis auf Elliot Howard gestoßen. Es gab keine Telefonate. Keine E-Mails. Keine SMS. Keine Taxifahrten. Und ohne eine konkrete Verbindung konnte sie unmöglich Kräfte erübrigen, ihn weiter im Auge zu behalten. DS Malik sah auf die Uhr. Jetzt saß ihr Mann daheim bestimmt auf dem Sofa, kuschelte mit ihrer wunderbaren Tochter, und die beiden sahen sich einen Film an. Der Abwasch vom Abendbrot lag noch immer in der Spüle, die Wäsche, die sie in einen weißen, einen dunklen und einen bunten Haufen aufgeteilt hatte, lag noch immer auf dem oberen Treppenabsatz, weder waren Hausaufgaben gemacht noch Lunchpakete für morgen gepackt worden. Das würde sie alles noch tun müssen, wenn sie nach Hause kam. Obendrein hatte sie versprochen, auf dem Heimweg bei ihrem Vater vorbeizuschauen. Er hatte vorhin angerufen, um sie daran zu erinnern, dass sein Boiler kaputt war, und welche Tochter konnte den Gedanken ertragen, dass ihr alter Vater kein warmes Wasser hatte, um sich zu waschen?
DS Malik schreckte hoch. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass ein Constable ihr Büro betreten hatte.
»Sorry«, sagte sie. »War kurz woanders. Was gibt’s?«
»Ich habe einen Anruf vom Daily Mirror bekommen. Die sagen, sie wissen, dass Iqbal das zweite Opfer des Mörders ist und dass Stefan Dunwoody das erste war.«
DS Malik seufzte. Sie hatte gehofft, noch ein paar Tage Zeit zu haben, bevor sich die überregionale Presse einmischen würde.
»Haben die irgendetwas von deutschen Pistolen oder Bronzemedaillons erwähnt?«
»Mir gegenüber nicht.«
»Immerhin dafür können wir dankbar sein. Was haben Sie ihnen erzählt?«
»Das Übliche. Dass ich über eine laufende Ermittlung mit niemandem sprechen darf, und wenn sie Fragen hätten, könnte ich sie an die Pressestelle weiterleiten.«
Tanikas Telefon klingelte. Es war der Pressesprecher der Thames Valley Police. Sie atmete tief durch, dann nahm sie den Anruf entgegen.
Es würde ein langer Abend werden.