Fred Smith war ein koboldhafter Mann mit kurzen weißen Haaren und gestutztem Vollbart, der in seinem Leben schon vielen Berufen nachgegangen war, doch keinen hatte er so genossen wie den des Briefträgers. Als echter Marlower Junge wusste er auch schon, bevor er die Stelle angetreten hatte, wo jeder wohnte, das Austragen der Briefe fühlte sich also nie wie eine mühselige Pflicht an. Nicht wenn man dabei an jeder Haustür ein kleines Schwätzchen halten konnte. Was Fred am liebsten mochte, wie sich zeigte, war der Klatsch. Nicht dass er jemals indiskret sein würde. Das wäre unprofessionell.
Als Suzie und Judith aus Suzies Haus und hinter ihm hergeschossen kamen, war er dennoch überrascht. Es war unüblich, dass Frauen ihm auf der Straße nachrannten.
»Suzie, alles in Ordnung?«, fragte er erschrocken.
»Können wir uns kurz unterhalten, Fred?«
»Ich habe immer Zeit für eine kurze Unterhaltung«, sagte Fred mit breitem Grinsen. »Und es ist sehr schön, Sie endlich kennenzulernen, Mrs Potts.«
Da Judith am Rand von Marlow lebte, hatte sie einen anderen Briefträger und kannte Fred nicht.
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Ich bin Postbote.« Er zwinkerte freundlich. »Ich kenne alle hier. Also, wie kann ich Ihnen helfen, meine Damen?«
»Es geht um Elliot Howard«, sagte Suzie.
»Ach ja?«
»Kennen Sie ihn?«, fragte Judith.
»Natürlich. Ich war mal sein Chef. Ist allerdings eine Weile her. Eine ganz schön lange Weile.«
»Und was gibt es da zu erzählen?«, fragte Suzie.
»Über Elliot?«, fragte Fred und lächelte verschwörerisch. »Wo soll ich anfangen?«
»Ist er vertrauenswürdig?«, fragte Judith erwartungsvoll.
»Was für eine eigenartige Frage. Er konnte schwierig sein, das will ich gern zugeben. Ein wenig herablassend in seiner ganzen Art. Aber er war absolut vertrauenswürdig.«
Das war ganz und gar nicht, was Judith hören wollte. Zuerst diese Kommentare im Netz, dass Elliot ein guter Mensch war, und jetzt sagte Fred im Grunde das Gleiche.
»War das zu der Zeit, als Sie das Auktionshaus leiteten?«, fragte Suzie.
»Ja, genau. Das wissen Sie?«
»Das haben wir auf der Webseite gesehen.«
»Ich stehe auf deren Webseite? Das ist doch mal was, oder?«
»Auf jeden Fall«, stimmte Suzie zu. Sie spürte, Fred wollte richtig ein bisschen plaudern. »Das ist sicher eine interessante Geschichte. Wie es kam, dass Sie in einem Auktionshaus gearbeitet haben.«
»Das können Sie laut sagen. Mit sechzehn habe ich dort angefangen. Ist jetzt ungefähr hundert Jahre her, aber das war noch unter Elliots Vater Dudley.«
»Ach ja, wie war der denn so?«, fragte Judith.
Fred wirkte misstrauisch.
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Wir haben bloß ein bisschen nachgeforscht und erfahren, dass er ein ziemlicher Gauner war. Stimmt das?«
»Da liegen Sie nicht ganz falsch. Er war eine schräge Type, das kann ich Ihnen sagen. Immer irgendwelche Geschäfte nebenbei gemacht oder Strohmänner angeheuert, um bei Auktionen die Preise zu treiben. Wenn sich irgendwelche unlauteren Geschäftsmethoden anboten, hat er sie immer genutzt. Und seinen Sohn hat er gar nicht leiden können, nicht ein bisschen.«
»Wirklich nicht?«
»Absolut nicht. Elliots großes Faible als Teenager war Rudern.«
Judith erinnerte sich an die Fotos in Elliots Arbeitszimmer, die ihn mit verschiedenen Rudermannschaften zeigten.
»Und er war richtig gut. Aber sein Vater wollte nichts davon wissen. Nach Elliots Version hat Dudley mit seinem Rudertrainer gesprochen, ob er Chancen hätte, Profi zu werden, und sobald der verneinte, war die Sache für ihn gelaufen. Er würde für die Übungsstunden nicht mehr bezahlen. Würde seinen Sohn auch nicht mehr zum Training oder zu Regatten fahren. Mit dem Rudern war es vorbei.«
»Das ist aber hart«, sagte Suzie.
»Dudley war ein harter Mann.«
»Was hatte denn Elliots Mutter zu alldem zu sagen?«, fragte Judith.
»Ich glaube, die hat Dudley verlassen, als Elliot noch klein war. Ich kenne die Geschichte nicht, aber Elliot wurde von seinem Vater allein aufgezogen. Darum war es auch so schlimm für ihn, als Dudley ihm sagte, mit dem Rudern sei es vorbei. Er war sein einziges Elternteil, darum war sein Wort Gesetz.«
»Moment mal!«, warf Judith ein, denn ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. Aber was war es noch gleich? Ihr Hirn hatte irgendeine Verbindung ziehen wollen. Es hatte irgendwas mit Rudern zu tun. Aber was konnte es sein? Welcher Gedanke wäre ihr beinahe gekommen, den sie jetzt nicht greifen konnte?
»Rudern«, sagte sie laut, als wollte sie dem Wort nachschmecken, als könnte sein Klang ihr helfen, ihre Gedanken zu verfestigen.
»Was ist mit Rudern?«, fragte Suzie.
Judith versuchte, den Augenblick zurückzuholen, doch der spinnwebdünne Faden hatte sich schon aufgelöst.
»Nein, ist weg«, sagte sie frustriert, aber sie wusste auch, es ließ sich nicht ändern. Wenn ihr in ihrem Alter etwas entfiel, dann blieb es entfallen.
»Tut mir leid, meine Damen, aber ich muss weiter«, sagte Fred und wandte sich zum Gehen. »Ich kann nicht den ganzen Tag hier herumstehen und plaudern.«
»Aber wir sind noch nicht fertig«, sagte Suzie.
»Nein?«
»Es könnte wichtig sein.«
»Ich kriege Ärger, wenn ich meine Runde nicht pünktlich fertig zustelle.«
»Wie wäre es dann, wenn wir einfach mitkommen?«, fragte Judith.
»Wie bitte?«
»Wir werden Sie auf keinen Fall aufhalten, aber wir hätten noch ein paar Fragen an Sie.«
»Sie wollen mich auf meiner Runde begleiten?«, fragte Fred amüsiert. »Also, wenn Sie es so formulieren, kann ich mir kaum etwas Angenehmeres vorstellen als eine attraktive Dame an jedem Arm zu haben, während ich die Post zustelle. Kommen Sie.«
Die nächste Stunde gingen Judith und Suzie mit Fred durch die Straßen der Nachbarschaft, während er Briefe auslieferte. Es war ein bisschen mühsam, weil sie immer nur zwischen zwei Häusern mit Fred reden konnten und er ständig an Haustüren stehen blieb, um mit seinen »Stammkunden« zu plaudern. Einmal verschwand er sogar ein paar Minuten drinnen, und als er wieder herauskam, erklärte er entschuldigend, die alte Frau lebe allein, und der Schwimmer in ihrer Wasserspülung habe nicht mehr funktioniert, das hätte sich aber schnell reparieren lassen.
Doch zwischen den Gesprächen, den Klempnerarbeiten und dem eigentlichen Zustellen von Briefen und Päckchen aus seinem leuchtend roten Rollwagen konnten Judith und Suzie doch ein gutes Stück von Freds und Elliots gemeinsamer Geschichte zusammensetzen.
Fred hatte die Schule mit sechzehn beendet und im Auktionshaus zu arbeiten begonnen, zuerst als Träger, ein paar Jahre später war er dann in die Rezeption aufgestiegen und hatte die Auktionsgüter entgegengenommen. Da er nur wenige Jahre jünger war als Elliot, gingen sie ab und zu nach der Arbeit zusammen ein Bier trinken. Bei einer dieser Runden im Pub gestand Elliot Fred, wie sehr es ihn einengte, für seinen Vater arbeiten zu müssen. Und es wurde noch schlimmer dadurch, dass er sich allmählich in die Kunst verliebte, die sie verkauften.
»Er fing an zu malen«, erzählte Fred. »Anscheinend war einer seiner Großväter ein ganz guter Kunstmaler gewesen. So war die Familie überhaupt zu dem Auktionshaus gekommen. Aber Elliot stürzte sich jetzt richtig rein. Er las ganz viele Bücher und bildete sich weiter, um als Maler besser zu werden. Und er war wirklich gut. Das konnte sogar ich sehen. Also, Elliots Gemälde waren meistens abstrakt. Im Stil so Mitte 20. Jahrhundert. Man malt zwei Farbblöcke nebeneinander und nennt es Kunst.«
Judith warf Suzie einen Blick zu: »Zwei Farbblöcke nebeneinander« war eine sehr gute Beschreibung des Kunstwerks, von dem der Einbrecher in Stefans Haus den Rahmen gestohlen hatte. Aber Judith merkte, dass Suzie die Verbindung nicht herstellte. Natürlich nicht, fiel Judith ein, Suzie war ja gar nicht dabei gewesen, sondern Becks und Tanika. Aber war diese Verbindung wichtig? Dass Elliot gern die gleiche Art von Gemälde malte, dessentwegen eingebrochen worden war? Oder war das Zufall? Schließlich würde zweifellos jeder Mensch, der Ende des 20. Jahrhunderts malen lernte, wie ein Maler vom Ende des 20. Jahrhunderts malen.
»Jedenfalls«, sagte Fred, »merkte Elliot nach ein paar Jahren, dass er nicht weiter im Geschäft arbeiten, sondern die Kunst zum Beruf machen wollte. Er bewarb sich also an der Slade School of Art, und wissen Sie was? Er wurde angenommen. Das ist so ungefähr die beste Kunsthochschule des Landes, und Elliot hatte dort einen Studienplatz bekommen. Eine erstaunliche Leistung. Aber jetzt passen Sie auf: Sein Vater sagte Nein. Schon wieder. Elliots Malerei sei genau wie das Rudern, sagte er ihm. Bloß ein Hobby. Niemand verdiente Geld als Künstler, Geld machte man bloß mit dem Verkauf von dem Zeug. Darum gab er ihm das Geld für die Kunsthochschule nicht. Das warf Elliot echt um.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Judith.
»Und er nahm es übel. Sein Vater gelobte nämlich auch, dass er ihn nicht wieder aufnehmen würde, wenn er das Geschäft verließ. Entweder er blieb und leitete mit ihm das Auktionshaus, oder er ging ganz weg.«
»Wow«, sagte Judith.
»Unglaublich, oder?«, stimmte Fred zu. »Also ließ Elliot seinen Platz an der Kunsthochschule verfallen und blieb im Auktionshaus. Und als sein Vater krank wurde, übernahm er die Leitung. Ich war inzwischen Geschäftsführer. Aber ehrlich gesagt war Elliot nicht mit dem Herzen bei der Sache. Er wollte einfach nicht dort sein. Und dann starb sein Vater. Ein Herzinfarkt auf dem Golfplatz, ausgerechnet. Elliot konnte es kaum erwarten, aus dem Geschäft auszusteigen. Er bewarb sich wieder an Kunsthochschulen. Bei der Slade wurde er diesmal nicht genommen, aber er bekam einen Platz an einer ganz guten Schule in Reading. Und er verließ das Auktionshaus.«
»Das war 1988?«
»Stimmt.«
»Als Sie Chef wurden?«
»Richtig geraten. Elliot wollte das Haus in vertraute Hände geben, solange er studierte. Aber es lief nie richtig gut für ihn. Er sagte, er sei so viel älter gewesen als alle anderen in seinem Studiengang, und ich weiß auch, wie sehr er sich darüber ärgerte, dass die Schule nicht so renommiert war wie Slade. Als er seinen Abschluss machte, versuchte er sich als Künstler zu etablieren, aber er war zu alt für einen jungen Wilden, und in den Neunzigern war die Kunstwelt total verrückt nach in Formaldehyd eingelegten Haien. Niemand interessierte sich mehr für Abstraktionen aus den Sechzigern.
Und wissen Sie, was den Ausschlag gab? Wie sich herausstellte, war ich nicht sonderlich begabt darin, alleine ein Auktionshaus zu leiten«, gab Fred offenbar ohne Bitterkeit zu. »Ich konnte ganz gut die Verwaltungsaufgaben und das Geschäftliche erledigen, aber die künstlerische Seite habe ich nie durchdrungen. Und mit dem Auktionshaus ging es bergab. Um ehrlich zu sein, hätte Elliot mir niemals die Leitung übertragen sollen. Nach ein paar Jahren wurde ihm klar, dass er sich als Künstler nicht durchsetzen würde. Der Zug war längst abgefahren, wenn er überhaupt je auf ihn gewartet hatte. Und wenn er nicht wieder das Auktionshaus übernehmen würde, dürfte er das auch verlieren. Also entband er mich von meinen Aufgaben. Und entbinden ist aus meiner Sicht genau das richtige Wort: Ich fühlte mich wie befreit. Das Leiten eines Unternehmens hatte mich einzig und allein gelehrt, dass ich kein Unternehmen leiten wollte. Ständig dieser Druck. So viele Menschen, die für einen arbeiten. Das hier liegt mir viel mehr«, sagte Fred und zeigte auf seine Briefträgeruniform. »Ich bin an der frischen Luft, und wenn meine tägliche Schicht vorbei ist, habe ich Feierabend und nehme keine Arbeit mit nach Hause. Ich schlafe nachts gut, und zwar jede Nacht. Das ist unbezahlbar.«
Fred lächelte.
»Aber wie war Elliot denn, als er wieder ins Geschäft zurückkehrte?«, fragte Judith.
»Wie vorher. Ein bisschen überheblich, ein bisschen sehr von sich eingenommen, aber ein guter Mensch. Ehrlich. Verlässlich. Ein guter Chef.«
»Sie haben wirklich kein böses Wort über den Mann zu sagen, der Sie entlassen hat?«
»Warum sollte ich? Ich hatte das Geschäft nicht gut geführt, und er hat mich nicht entlassen. Wir sind übereingekommen, dass es besser wäre, wenn ich ausscheide, und das habe ich getan.«
Suzie konnte nicht recht glauben, dass Fred die Sache so entspannt sah, aber Judith lächelte, denn ihr gefiel, dass Fred sich nicht wegen einmal getroffener Entscheidungen grämte.
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, meine Damen, ich muss zurück zum Postlager«, sagte Fred lächelnd, »sonst denken sie, ich habe mich abgesetzt.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Suzie.
»Obwohl, eins würde ich gern wissen: Warum interessieren Sie sich so für Elliot?«
»Ach, nur so, ohne Grund«, sagte Judith mit aufgesetztem Lächeln.
Fred bedachte Judiths Antwort und beschloss, nicht weiter nachzuhaken.
»Na gut. Geht mich auch nichts an. Einen schönen Tag noch, die Damen.«
Fred tippte sich zum Abschied an die Stirn, wandte sich um und ging.
»Ach, eine letzte Frage noch!«, rief Judith und eilte ihm nach.
»Na, was denn?«, fragte Fred.
»Können Sie uns etwas über Stefan Dunwoody erzählen?«
»Sie wollen etwas über Stefan wissen?«, fragte Fred überrascht.
Dann schaute er sich nach allen Seiten um, konnte keine Menschenseele entdecken und trat hinter einen Schmetterlingsflieder in einem Vorgarten.
Die beiden Frauen folgten ihm.
»Und warum wollen Sie etwas über Stefan wissen?«, flüsterte er.
»Wir haben gehört, dass er ein ganz schöner Gauner war. Und mit Dudley unter einer Decke steckte. Anscheinend hatten die beiden einige Betrügereien laufen.«
»Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber Stefan ist letzte Woche gestorben. Ich will einem Toten nichts Schlechtes nachsagen.«
»Aber es könnte wichtig sein. Wir glauben, dass ihn jemand umgebracht hat.«
»Was?«
»Doch, wirklich. Also wäre alles, was Sie uns erzählen können, Gold wert.«
Fred rang mit seinem Gewissen, aber nicht sehr lange.
»Okay, also: Stefan war stets charmant. Immer gut gekleidet. Immer interessiert an seinem Gegenüber. Ausgesucht höflich. Der perfekte Gentleman. Aber das war alles Fassade. Denn Sie haben ganz recht: Er war ein Gauner. Genauso schlimm wie Dudley.«
»Hat er für das Auktionshaus gearbeitet?«
»Als unser Kunstsachverständiger damals. Sein Trick war, Kunst falsch zu beurteilen.«
»Und wie hat er das angestellt?«
»Also, irgendjemand ohne Kunstverstand kam mit einem Gemälde zu Dudleys Auktionshaus, der holte dann Stefan als Sachverständigen hinzu, und Stefan urteilte, dass es sich um eine zweitklassige Kopie eines bekannteren Werkes handele oder so was in der Art. So überzeugte Dudley die Besitzer, ihm das Bild für einen Spottpreis privat zu verkaufen. Und dann, o Wunder, tauchte das Kunstwerk ein paar Monate später im Auktionshaus Marlow wieder auf, diesmal korrekt als Arbeit eines wohlbekannten Künstlers identifiziert. Übrigens reden wir hier nicht von Bildern, die Zehntausende wert waren, bloß so ein paar Tausend Pfund hier und da. Aber illegal war es trotzdem, und ich weiß sicher, dass die beiden so jedes Jahr ein hübsches Sümmchen beiseiteschafften. Es war abscheulich.«
»Ist im Jahr 1988 irgendwas passiert?«, fragte Judith.
»Inwiefern?«
»Wir glauben, dass Stefan im selben Jahr, als Elliot ausstieg, um Kunst zu studieren, ein Gemälde vom Auktionshaus Marlow gekauft hat.«
Fred dachte einen Augenblick nach, ehe es ihm wieder einfiel.
»Das stimmt! Sie haben recht. Es war damals ein Riesenskandal. Oder jedenfalls im Kunsthandel. Als Dudley starb, hat Elliot seine sämtlichen Kunstwerke geerbt. Und er ließ sie von Stefan begutachten, um sie dann versteigern zu lassen. Damals wusste er noch nicht, was für ein Betrüger Stefan war. Wusste niemand von uns. Und die Sammlung war ein paar Hunderttausend wert, das war ein richtig warmer Regen für Elliot. Aber unter den guten Sachen war auch ziemlich viel Ramsch.«
»Darunter auch«, sagte Judith, »ein abstraktes Gemälde, das aus drei schlichten Farbstreifen besteht: der obere gelb, der mittlere grau, der untere so ein dunkles Rot.«
»Das kennen Sie?«, fragte Fred.
»So wie Sie es erklärt haben, hat Stefan dann also behauptet, es sei nicht viel wert.«
»Genau. Wissen Sie, es war nicht signiert und befand sich in einer Kiste mit zwei anderen unsignierten Gemälden. Und die beiden waren richtig dilettantisch, keinen Penny wert. Darum hat Elliot die Kiste gern für ein paar Pfund an Stefan verkauft. Aber das war auch wieder eine seiner Gaunereien! Denn kaum gehörte ihm das Bild, war er plötzlich nicht mehr ganz so sicher, was er da vor sich hatte. Also brachte er es nach London, um eine zweite Meinung einzuholen. Und dann stellte sich doch glatt heraus, dass es von Mark Rothko war, so ungefähr der berühmteste amerikanische Maler des 20. Jahrhunderts!«
»Wie viel war es denn wert?«, fragte Suzie.
»Die Sache ist die: Es war bloß eine Skizze, kein fertiges Gemälde. Darum hat Rothko es auch nicht signiert. Aber es gibt ein Foto von ihm, wie er das Bild malt, also ist die Herkunft erwiesen, und deshalb ist es einige Hunderttausend Pfund wert.«
»Sie machen Witze!«, sagte Judith verblüfft.
»Und Stefan weigerte sich, es Elliot zurückzugeben oder ihm den korrekten Marktwert zu bezahlen. Er sagte zu Elliot, es täte ihm leid, dass er es falsch beurteilt hätte, aber es sei ehrlich ein Irrtum gewesen. Und Sie haben recht«, sagte Fred in nachträglicher Erkenntnis, »bloß ein paar Monate später hat Elliot sich für das Kunststudium beworben. Diese Verbindung hatte ich bisher nicht gezogen. Stefan hat ihn betrogen, und bis zum Jahresende war Elliot aus dem Geschäft ausgestiegen.«
»Also, das ist wirklich sehr interessant«, sagte Judith. »Ich danke Ihnen sehr, Fred, dass Sie uns so viel Zeit geschenkt haben.«
»Kein Problem«, sagte Fred. »Aber wenn Sie nichts dagegen haben, muss ich jetzt wirklich zurück.«
»Aber natürlich, und noch einmal vielen Dank!«
Fred schob seinen Wagen davon, und Judith und Suzie sahen ihm hinterher.
»Aber warum«, fragte Judith, »sollte Elliot in Stefans Haus einbrechen, endlich den Rothko in die Finger kriegen, der Hunderttausende wert ist und den er eigentlich von seinem Vater geerbt hat, und ihn dann an der Wand hängen lassen und bloß den Rahmen klauen, in dem er steckte?«
»Das ergibt doch keinen Sinn!«, sagte Suzie, als sie und Judith ein paar Minuten später wieder oben in Suzies Wohnzimmer saßen.
»Da muss ich dir zustimmen. Aber es erklärt, wieso Elliot Stefan hasste, oder? Und noch was: Fred hat uns doch erzählt, dass Elliot abstrakt im Stil Mitte des Jahrhunderts gemalt hat, richtig?«
»Was auch immer das bedeutet.«
»Das bedeutet, dass er sich bestens mit Rothko ausgekannt haben muss. Ein Maler aus der Mitte des Jahrhunderts. Also hat er seine Technik gekannt. Seine Farbpalette und die Art, wie er seine Bilder gemalt hat.«
»Was willst du damit sagen?«
»Stell dir vor, du bist Elliot und willst den Rothko zurück, den Stefan dir geklaut hat. Was kannst du tun? Du kannst ja schlecht reinstiefeln und ihn dir zurückholen. Stefan würde die Lücke sofort bemerken und wissen, wer ihn gestohlen hat. Aber Elliot ist Maler und versiert in Rothkos Technik, richtig?«
»Ach! Du glaubst, er hat eine Kopie gemalt?« Suzies Augen leuchteten auf, als sie begriff.
»Ist doch möglich, oder? Und wie ich Elliot einschätze, würde er sich auf jeden Fall zutrauen, Stefans Rothko zu fälschen. Er hat eine Kopie gemalt, dann wollte er bei Stefan einbrechen, die Fälschung an die Wand hängen und das echte Gemälde mitgehen lassen.«
»Meinst du, das hat er getan?«
»Es ist Hunderttausende wert. Und aus Elliots Sicht hat Stefan es ihm 1988 gestohlen. Das würde doch in jedem Menschen gären. Aber weißt du was? Das würde auch erklären, wieso der Rothko in Stefans Haus keinen Rahmen mehr hat.«
»Wie das?«
»Gehen wir die Sache mal durch. Elliot malt seine Fälschung, aber was er nicht fälschen kann, ist der Rahmen. Also bricht er mit seiner Kopie bei Stefan ein, aber als er gerade den Rahmen von Stefans echtem Rothko entfernen will, störe ich ihn. Und das ist jetzt schon das dritte Mal, dass er entweder eingebrochen oder es versucht hat, um den Rothko zu bekommen. Diesmal will Elliot sich nicht aufhalten lassen. Also schnappt er sich den echten Rothko von der Wand, mit Rahmen und allem, und hängt seine Fälschung an seine Stelle – in der Hoffnung, dass niemand den fehlenden Rahmen bemerken wird.«
»Ich kann dir immer noch nicht folgen«, sagte Suzie.
»Ich glaube, dass der Rothko, der jetzt bei Stefan an der Wand hängt, eine von Elliot angefertigte Kopie ist. Und dass Elliot mit dem echten Rothko im Rahmen abgehauen ist.«
»Ach so! Dann müssen wir das der Polizei mitteilen.«
»Ich rufe Tanika an, sobald ich zu Hause bin. Und sage ihr, sie sollen den Rothko in Stefans Haus von einem Kunstexperten begutachten lassen. Aber jetzt haben wir auch ein richtiges Motiv dafür, dass Elliot Stefan umbringen wollte. Stefan hat herausgefunden, dass Elliot hinter dem ersten Einbruch steckte. Und wir wissen von seiner Sekretärin Antonia, dass Stefan Elliot bedroht hat. Er ›könne sofort zur Polizei gehen‹, hat er gesagt. Elliot muss befürchtet haben, ins Gefängnis zu kommen. Also hat er Stefan umgebracht, um ihn zum Schweigen zu bringen.«
»Brillant! Elliot ist also der Mörder, er muss es einfach sein! Obwohl er es nicht sein kann«, fügte Suzie hinzu.
»Ich weiß, es ist zum Verzweifeln! Wie hat er es angestellt, das ist die Frage. Wir sollten ihn beschatten, wenn er aus dem Haus geht, sein Geschäft überwachen, Kameras in seinem Haus installieren – aber das dürfen wir alles nicht, oder? Wir sind ja bloß Zivilpersonen.«
»Vielleicht kann ich da behilflich sein.«
»Ehrlich?«
»Ich werde mich umhören. Ich bin sicher, dass ich direkt oder über ein, zwei Ecken jemanden kenne, der in der Gypsy Lane wohnt, wo Elliots Haus liegt. Vielleicht kann ich ihn ein wenig überwachen lassen.«
»Das klingt nach einer hervorragenden Idee«, sagte Judith.
Bei diesem Satz schaute sie zufällig wieder auf das Poster an der Wand, dass die Lady of Shalott zeigte. Während sie noch sinnierte, warum es ihren Blick so anzog, traf sie plötzlich die Erkenntnis.
»Liz Curtis!«, platzte sie unwillkürlich heraus.
Das war ganz und gar nicht, was Suzie von Judith als Nächstes zu hören erwartet hatte.
»Was?«
»Das ist die Frau!«
»Wie bitte?«
»Die rothaarige Frau, von der ich dir erzählt habe. Die nach Stefans Tod bei ihm im Garten stand und die auf der Weide vor mir weggelaufen ist, als ich das erste Mal mit dir gesprochen habe. Ich wusste doch, dass ich sie irgendwoher kenne. Sie heißt Liz Curtis.«
»Und wie um alles in der Welt hast du das jetzt herausgefunden?«
»Also, sie hat rotes Haar wie deine Lady of Shalott auf dem Poster, und als ich sie das letzte Mal gesehen habe, saß sie in einem Ruderboot. Denn Liz Curtis betreibt das Ruderzentrum von Marlow.«
Jetzt wurde Suzie ganz aufgeregt.
»Und du bist sicher, dass die Frau, die du zweimal gesehen hast, Liz Curtis war?«
»Bin ich. Kennst du sie?«
»Und ob! Und wenn du jemanden suchst, der des Mordes fähig ist, dann würde ich Liz Curtis ganz oben auf die Liste setzen.«
»Meinst du wirklich?«
»Das meine ich nicht, das weiß ich«, sagte Suzie finster. »Sie hat nämlich schon einmal getötet.«