Im Lauf der nächsten Tage kehrte Judiths Leben zumindest einigermaßen in seine normalen Bahnen zurück. Es gelang ihr, ein Kreuzworträtsel zu erstellen und an ihren Redakteur beim Observer zu schicken, sie bekam ihr Puzzle eines West Highland Terriers fertig und brachte es dann in den Wohltätigkeitsladen zurück, in dem sie es gebraucht gekauft hatte, und sie schwamm jeden Abend in der Themse. Sie hatte das Gefühl, gar keine andere Wahl zu haben – es blieb nämlich glühend heiß, jeden Tag von morgens bis abends.
Was ihre neuen Freundinnen anging, so konnte sich Suzie zwar wieder in die Arbeit stürzen, aber auch das nagende Gefühl nicht abschütteln, dass sie etwas verpasste. Es ging ihr gar nicht so sehr darum, den Mord an Iqbal aufzuklären – sie hatte vielmehr großen Gefallen an dem Gemeinschaftsgefühl gefunden, das bei den gemeinsamen Nachforschungen mit Judith und Becks entstanden war. Die traurige Wahrheit war doch: Obwohl sie von Hunden umgeben war und jeden Tag lange Spaziergänge unternahm, obwohl sogar ständig Leute in ihrem Haus aus und ein gingen, war Suzie einsam. Natürlich, sie hatte Emma. Ihre neue Dobermannhündin war ihr sehr ans Herz gewachsen. Aber sie hatte so viele Jahre lang als alleinerziehende Mutter zwei Kinder großgezogen, so gut sie konnte, und gleichzeitig ihren Lebensunterhalt verdient, dass sie den Kontakt mit ihrem früheren Freundeskreis völlig verloren hatte. Und nachdem ihre Kinder jetzt aus dem Haus waren, fühlte sie sich irgendwie zurückgelassen. Wie ein altes Boot, das auf dem Trocknen festsitzt, wenn die Ebbe kommt.
Was Becks anging, so wurde sie mit der Zeit immer angespannter und gereizter. Das lag aus ihrer Sicht daran, dass sie gerade ein erstaunliches Abenteuer erlebt hatte, aber niemand bei ihr zu Hause auch nur das geringste Interesse daran zeigte. Colin hatte aufmerksam zugehört, als sie von ihrem Treffen mit Imam Latif erzählte, von seiner Schilderung, dass Iqbal Kassam womöglich um das Erbe betrogen wurde, das ihm ein Nachbar hinterlassen wollte. Als sie fertig war, sagte Colin ihr bloß, sie solle nicht tratschen, wenn sie außer Haus sei, und das in einem Tonfall, der Becks verriet, dass er eigentlich überhaupt nicht zugehört hatte. Ihr Sohn Sam war so mit seinem eigenen 14-Jährigen-Leben beschäftigt, dass Becks gar nicht erst versuchte, ihm etwas zu erzählen. Und ihre Tochter Chloe hätte zwar liebend gern von ihren Eskapaden gehört, doch derzeit herrschte zwischen ihnen Funkstille. Am Abend vor der Beerdigung hatte Becks Chloe erwischt, wie sie sich aus dem Haus und zu ihrem Freund schleichen wollte, einem netten Jungen namens Jack; doch richtig in die Luft gegangen war Becks erst, als sie in der Handtasche ihrer Tochter eine Flasche Gin entdeckte. Was für eine 16-Jährige, hatte Becks Chloe angeschrien, geht spätabends mit einer Flasche Gin zu ihrem Freund?
Die Antwort lautete natürlich: Becks. Schließlich musste Chloe ihre rebellische Ader von irgendwem haben, und ganz bestimmt nicht von Colin. Tatsächlich konnte Becks sich erinnern, ihrer Mutter mit elf einmal eine alte Flasche Cointreau geklaut und mit ihrer besten Freundin auf einer Wiese ausgetrunken zu haben, wozu sie die Zigaretten ihrer Mutter rauchten. Aber das war die Kinderversion von Becks. Die Wagemutige, die sich einen Dreck um Regeln scherte.
Am meisten ärgerte Becks sich wahrscheinlich darüber, dass sie selbst genauso viel Schuld an ihrem Statusverlust in der Familie trug wie alle anderen Mitglieder. Als sie heiratete, konnte sie es kaum erwarten, den Ring auf den Finger zu schieben und den Namen ihres Mannes anzunehmen. Aber jetzt, da sie sich nach so vielen Jahren nicht mal mehr an einen eigenen Namen klammern konnte, fühlte sie sich orientierungslos und verloren.
Als Becks’ Handy klingelte, schlug sie gerade mit einem Schneebesen Mayonnaise. Sie hatte einen hervorragenden Mixer, der die Aufgabe in Sekundenschnelle erledigt hätte. Und in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gab es eine ganze Reihe von Geschäften, die ihr von Hand gerührte Bio-Mayonnaise verkaufen würden. Aber da sie nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte, klammerte sie sich an die einzige Wahrheit, die sie kannte: Sie war Hausfrau, und darum lag ihr einziger Weg zu seelischer Gesundheit darin, die beste Hausfrau aller Zeiten zu sein. Deshalb der Schneebesen.
Ihr Herz tat einen Sprung, als sie den Namen auf dem Display sah, und sie nahm den Anruf freudig an.
Suzie ging es wenige Minuten später genauso, als ihr Telefon klingelte. Sie war unten am Fluss mit Emma, zwei Windhunden namens Wally und Evie und einem Mops namens Crackers, als sie sah, dass Judith anrief.
»Ezra Harringtons Testament ist angekommen«, sagte Judith atemlos. »Es war heute im Briefkasten.«
»Wer erbt?«, fragte Suzie ohne Umschweife.
»Sein gesamter Besitz wurde an einen Mann namens Andy Bishop vererbt.«
»An wen?«
»Laut den Angaben im Testament war Andy Bishop Ezras Anwalt.«
»Moment mal, soll das heißen, Iqbals Nachbar hat am Ende sein gesamtes Vermögen seinem Anwalt vererbt?«
»Und dieser Anwalt ist auch alleiniger Testamentsvollstrecker. Ein und derselbe Mann hat also das Testament aufgesetzt, war für die Durchführung der darin ausgeführten Bestimmungen verantwortlich und außerdem der alleinige Nutznießer dieses letzten Willens.«
»Ist das überhaupt legal?«
»Das habe ich überprüft. Legal ist es. Aber auf gar keinen Fall moralisch einwandfrei.«
»Wir müssen uns treffen, oder?«
»Ich glaube, ein Treffen ist einigermaßen dringend geboten.«