Judith erholte sich am schnellsten.
»Es ist aber nicht Becks, oder?«, fragte sie.
»Becks?«, fragte Tanika erstaunt. »Meinen Sie Becks Starling?«
»Genau die. Geht es ihr gut?«
»Soweit ich weiß. Warum sollte es ihr nicht gut gehen?«
»Nur so«, sagte Judith rasch, ehe sie sich um Kopf und Kragen redete. »Aber jemand anderes ist ermordet worden?«
»Liz Curtis«, sagte Tanika. »Die Frau, die Sie auf Mr Dunwoodys Grundstück gesehen haben.«
»Liz ist tot?«, fragte Judith entsetzt.
»Jemand muss die Leiche offiziell identifizieren. Und ich dachte, das könnten Sie vielleicht tun. Schließlich haben Sie sie erst kürzlich gesehen. Sogar zweimal.«
Judith wurde verlegen.
»Dreimal«, sagte sie sehr leise.
»Wie bitte?«
»Ich habe Liz noch ein drittes Mal getroffen.«
»Wann?«, fragte Tanika.
»Sie erinnern sich doch, dass Sie mir gesagt haben, ich sollte auf keinen Fall mit ihr reden?«
»Natürlich. Sie haben es versprochen.«
»Das Problem war nur, als Sie mir das gesagt haben, war ich schon beim Ruderzentrum. Ich konnte also schlecht nicht mit ihr reden, weil ich schon dort war.«
»Sie haben mit Liz Curtis geredet, nachdem ich es Ihnen untersagt hatte?«, fragte Tanika verärgert.
»Ein Vorteil für Sie, jetzt, wo sie tot ist. Und ich bin Zeugin. Ich kann Ihnen ausführlich schildern, wie sie sich verhalten hat.«
»Sie ist eine Hundemörderin«, warf Suzie ein.
»Darf ich fragen, was Sie hier machen?«
»Wir sind befreundet«, sagte Judith.
»Also.« Tanika versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. »Sie müssen jetzt mitkommen, Judith. Und unterwegs erzählen Sie mir am besten von Ihrer dritten Begegnung mit Liz.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Suzie.
»Was soll mit Ihnen sein?«
»Ich habe Liz Curtis auch getroffen. Darf ich mitkommen?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher –«
»Ich brauche nur eine von Ihnen, um die Leiche zu identifizieren.«
Suzie wippte ein wenig auf den Hacken vor und zurück.
»Dagegen habe ich nichts mehr vorzubringen«, räumte sie ein.
Während Tanika Judith zum Ruderzentrum fuhr, fasste Judith ihre und Suzies Unterhaltung mit Liz zusammen. Vor allem erklärte sie, dass Liz bestritten hatte, Stefan oder Iqbal zu kennen, obwohl ihr Mann Danny ihnen später verraten hatte, dass sie beide Männer gekannt habe. Während der ganzen Erzählung starrte Tanika mit mahlenden Kiefern auf die Straße.
Als sie vor dem Ruderzentrum hielten, parkte Tanika ihren Wagen und zog knirschend die Handbremse an.
Endlich merkte Judith, wie sauer Tanika wirklich war.
»Das hätte ich Ihnen früher erzählen sollen, nicht wahr?«
»Sie hätten überhaupt nicht mit ihr sprechen sollen!«, schimpfte Tanika. »Hier läuft jemand herum, der drei Menschen ermordet hat. Und Ihr Leben ist jedes Mal in Gefahr, wenn Sie sich da einmischen.«
Judith war beschämt, darum griff sie in ihre Handtasche, zog die Dose Fruchtbonbons hervor und öffnete sie.
»Fruchtbonbon?« Das war ein Friedensangebot.
»Nein, danke.« Tanikas Tonfall verriet Judith, dass sie nicht so leicht davonkommen würde.
Judith steckte sich ein Bonbon in den Mund und sagte mit gespielter Unbekümmertheit: »Dann sollte ich Ihnen vielleicht auch noch von Andy Bishop erzählen.«
»Wer ist Andy Bishop?«
»Ein örtlicher Anwalt. Er hat das Testament von Iqbal Kassams Nachbarn Ezra Harrington aufgesetzt.«
»Wovon reden Sie da?«
Judith erzählte, wie Suzie zu Iqbals Beerdigung eingeladen worden war, wie sie und Becks mitgekommen waren und mit seinem Imam geredet hatten, der ihnen erklärte, dass Iqbal in der festen Überzeugung gestorben war, dass Andy Bishop ihn um seine Erbschaft betrogen hatte. An dieser Stelle jedoch beendete Judith vorsichtshalber die Schilderung. Nachdem sie gesehen hatte, wie ärgerlich Tanika schon über das Gespräch mit Liz geworden war, wollte sie ihr lieber nicht erzählen, dass sie nicht bloß mit Andy Bishop gesprochen hatte, sondern auch in seine Kanzlei eingebrochen war und einen Beutel geschreddertes Papier gestohlen hatte.
»Sie sind auf Iqbal Kassams Beerdigung gewesen?«, fragte Tanika, als Judith fertig war.
»Wir waren eingeladen, also sind wir hingegangen. Das war das einzig Richtige. Sind Sie sicher, dass Sie keinen Bonbon wollen?«
»Nein, danke«, sagte Tanika, und Judith hatte den Eindruck, dass die Polizistin ihren Zorn nur mit Mühe unterdrücken konnte, als sie die Fahrertür öffnete und ausstieg.
Judith steckte ihre Bonbondose wieder ein und stieg auf ihrer Seite aus.
»Wollen Sie mir noch irgendetwas mitteilen?«, fragte Tanika barsch.
»O nein, das ist alles, absolut«, sagte Judith und glaubte ihre eigenen Worte sogar. Doch dann wanderte ihr Blick zum dunkelblauen Zelt der Spurensicherung, das unten am Fluss auf dem Rasen errichtet worden war.
Tanika sah Judiths gerunzelte Stirn, die sie etwas milder werden ließ.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Sie müssen die Leiche selbst nicht anschauen. Sie können sie auch anhand der Bilder identifizieren, die wir gemacht haben. Das sollte reichen.«
Tanika führte Judith in den Empfangscontainer, und Judith fielen natürlich als Erstes die Leiter, der Farbeimer und der Pinsel ins Auge, die immer noch in der Ecke standen. Den Raum würde Liz nie fertig streichen. Irgendwie fand Judith das trauriger als alles andere: das Alltäglich-Banale daran.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen das zumuten muss, Judith, aber der einzige andere Mensch, den ich hätte fragen können, war der Pfadfinderführer, der die Leiche entdeckt hat, und der hat genug damit zu tun, sich um seine Pfadfinder zu kümmern, die auch dabei waren.«
»Keine Sorge, ich helfe gern. Aber wo ist denn ihr Ehemann Danny?«
»In Nottingham. Ein Kollege von mir fährt ihn gerade her.«
»Dann bin ich bereit. Ich schaffe das.«
Tanika nahm dem Polizisten, der die Beweismittel registrierte, ein Tablet aus der Hand. Sie kam damit zu Judith und warnte sie vor, dass die Fotos verstörend sein würden.
»Keine Angst, ich bin aus hartem Holz geschnitzt.«
Tanika wischte ein paarmal über den Bildschirm, bis ein Bild erschien. Liz Curtis lag im Gras, Arme und Beine abgespreizt wie bei einer Stoffpuppe, und ihr Gesicht war eine einzige blutige Schweinerei.
Mitten in der Stirn hatte sie ein Einschussloch.
»Das ist Liz Curtis«, sagte Judith und widerstand dem Impuls, wegzusehen.
»Vielen Dank.«
»Irgendwelche Kampfspuren?«
Tanika antwortete nicht, aber Judith interpretierte ihr Schweigen richtig als Zustimmung.
»Und sie wurde von Pfadfindern gefunden?«
»Ja, genau. Die Gruppe hatte heute früh bei Liz Kajaks gemietet und war gegen neun auf den Fluss hinausgepaddelt.«
»Also hat sie um neun noch gelebt?«
»Auf jeden Fall. Sie hat allen noch eine Sicherheitsbelehrung gegeben. Die Pfadfinder waren jedenfalls ungefähr eine Stunde lang auf dem Wasser und sind kurz nach zehn zum Ruderzentrum zurückgekehrt. Und da hat der Gruppenführer die Leiche entdeckt. Zum Glück konnte er die Kinder daran hindern, auch näher zu kommen, sondern hat sie alle zusammengeholt und zurück nach Marlow gebracht. Ein Constable nimmt gerade seine Aussage auf.«
»Damit haben wir ja einen ziemlich genauen Todeszeitpunkt: so zwischen neun und zehn heute Morgen. Haben Sie Elliot Howard schon überprüft?«
»Um ehrlich zu sein, habe ich das als Allererstes getan. Er leitet seit acht Uhr dreißig heute früh eine Auktion.«
»Wirklich?«
»Und die wird komplett als Livestream im Internet übertragen.«
»Sie machen Witze!«
»Leider nicht.«
»Aber was für eine Auktion fängt denn morgens um halb neun an?«
»Ist anscheinend wegen der Bieter aus Übersee. Aber jedenfalls ist er raus aus der Sache. Er hat Zeugen überall auf der Welt, die ihm für heute früh zwischen neun und zehn ein Alibi geben können.«
»Hmm.« Judith war zutiefst enttäuscht. Sie war überzeugt, dass Elliot hinter dem Mord an Stefan steckte. Tatsächlich hatte in ihrem Hinterkopf immer die Idee geköchelt, dass Liz Stefan womöglich auf Elliots Geheiß ermordet hatte, aus einem Grund, der noch gefunden werden musste. Und jetzt hatte Elliot Liz umgebracht, sodass ihm niemand mehr den ersten Mord anhängen konnte. Doch diese Theorie fiel in sich zusammen, wenn Elliot für die Tatzeit des Mordes an Liz ein Alibi hatte.
Judith fiel auf, dass sie eine Frage noch nicht gestellt hatte.
»Sie sagten, ihr Mann war in Nottingham?«
»Meinen Sie, er könnte etwas damit zu tun haben?«
»Es wäre doch schön, wenn einer dieser Morde auch mal von einem offensichtlichen Täter begangen worden wäre.«
»Sicher. Aber zwischen neun und zehn heute Morgen hat Danny Curtis an einer Autobahnraststätte an der Abfahrt 25 der M1 gefrühstückt. Er hat die letzte Nacht im Nationalen Wassersportzentrum Nottingham verbracht.«
»Er hat also auch ein Alibi für heute Morgen?«
»Er war zum Tatzeitpunkt mehr als hundertfünfzig Kilometer entfernt.«
»Sind Sie sicher?«
»Heute Vormittag um zehn Uhr dreißig hat ein Polizeibeamter Mr Curtis am Stadtrand von Nottingham abgeholt. Der Mörder von Liz Curtis aber war heute früh in Marlow.«
Während Tanika das sagte, schaute Judith sich das Foto auf dem Tablet noch einmal genauer an.
»Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf einen kleinen Gegenstand an einer Kette, der neben Liz’ Gesicht auf dem Boden lag.
Tanika wusste, es war ein Bronzemedaillon. Das dritte Bronzemedaillon. Wie sie befürchtet hatte. Es hatte an einer dünnen Kette um Liz’ Hals gehangen. Und wie sie vorhergesagt hatte, stand in der Mitte das Wort »Liebe«.
»Es ist ein Bronzemedaillon«, sagte sie.
»Sie trug ein Bronzemedaillon?«, fragte Judith, deren Interesse schlagartig geweckt war. »Sie meinen, so eins, wie es Stefan an seiner Jacke hatte?«
»Sie erinnern sich, dass ich Ihnen davon erzählt habe?«
»Natürlich. Und auch daran, dass auf Stefans Medaillon das Wort ›Glaube‹ stand.«
»Genau.«
»Und stand auf diesem Medaillon etwas?«
»Tut mir leid, aber das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil ich einer Zivilperson überhaupt keine Einzelheiten des Falls verraten darf.«
»Wir sind doch beide der Meinung, dass es besser wäre, Sie würden es mir sagen.«
»Ich darf aber nicht. Tut mir leid. Es verstößt gegen alle Regeln –«
»– und Vorschriften«, beendete Judith verärgert Tanikas Satz.
»Genau.«
Ein Streifenpolizist kam herein.
»Sergeant«, sagte er. »Gerade ist ein Kollege mit dem Ehemann der Toten angekommen, Mr Curtis.«