Am nächsten Tag verkündete die Hauptschlagzeile einer landesweiten Boulevardzeitung, dass in Marlow ein Dreifachmörder frei herumlaufe. Am Abend wurde die Story groß in den Fernsehnachrichten gebracht, und von da an bekam man den Eindruck, als hätten die internationalen Medien die kleine Stadt besetzt. Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln parkten vor dem Hotel Assembly Rooms, und eine scheinbar endlose Schar von Reportern aus aller Welt befragte die Einheimischen, wie sie im Alltag damit zurechtkamen, dass ein Serienmörder in ihrer Gemeinde sein Unwesen trieb.

Es war für alle höchst beunruhigend, und die lokalen Amtsträger wie der Bürgermeister oder Reverend Colin Starling wurden ständig vor die Mikrofone zitiert, um den Einwohnern und der Welt im Allgemeinen zu versichern, dass Marlow in Wirklichkeit ein friedliches Fleckchen war, wo alle harmonisch Seite an Seite lebten.

Judith tauchte ein paar Tage ab, weshalb Becks und Suzie ihr übliches Leben wiederaufnehmen konnten. Doch am Montag bekamen beide einen Anruf von ihr. Sie sollten alles stehen und liegen lassen und sofort zu ihr nach Hause kommen. Sie hatte einen Durchbruch zu vermelden.

Vor ihnen auf dem grünen Filz des Spieltischs lagen die geschredderten Papierstreifen, die Suzie aus Andy Bishops Büro gestohlen hatte, doch sie waren sortiert und so glatt gestrichen, wie Judith es hinbekommen hatte, und die wenige Millimeter breiten Streifen waren wieder so zusammengefügt, dass sie die ursprüngliche DIN-A4-Seite ergaben.

»Du hast sie wieder zusammengesetzt?«, sagte Becks, die ebenso beeindruckt war wie Suzie.

»Habe ich euch doch gesagt«, erklärte Judith.

»Das müssen doch Hunderte von Streifen sein!«, sagte Suzie.

»Sind es auch. Aber das ist wie ein Puzzle. Jedes Teil, das man korrekt platziert, ist danach nicht bloß am richtigen Platz, sondern auch nicht mehr im unordentlichen Haufen nicht angelegter Teile. Das ist also ein Nullsummenspiel.«

»Ich ziehe meinen Hut vor dir«, sagte Becks und betrachtete das Papier. »Ich hätte nie gedacht, dass du das schaffst.«

»Dann erzähl mal«, drängte Suzie. »Was ist so wichtig, dass Andy Bishop es in den Reißwolf stecken musste, sobald du draußen warst?«

»Es ist eine Seite aus dem Borlasian.«

»Wie bitte?«

»Das ist die Zeitschrift für die ehemaligen Schülerinnen und Schüler von Sir William Borlase’s Grammar School.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Becks. »Wieso musste Andy Bishop eine Seite aus einer alten Schulzeitschrift vernichten?«

Suzie und Becks beugten sich über den Tisch und nahmen die dünnen Papierstreifen unter die Lupe.

»Ich will nicht zu dicht rangehen«, sagte Becks.

»Keine Angst«, sagte Judith, »ich habe Klarsichtfolie und Kleber besorgt. Ich wollte mir nicht von einem Windstoß die stundenlange Arbeit zerstören lassen, die ich da hineingesteckt habe. Ich habe jeden Papierstreifen auf die Folie geklebt, ihr könnt das Blatt also in die Hand nehmen und beide Seiten anschauen. Ihr müsst sogar beide Seiten anschauen.«

Um ihre Worte zu unterstreichen, nahm Judith das Blatt vom Tisch und reichte es Becks und Suzie. Sie betrachteten es gründlich, wurden aber nicht klüger.

»Das ist ein Bericht über die Schulhockeymannschaften aus dem letzten Jahr«, sagte Suzie.

Sie hatte recht. Auf der Seite ging es um die Leistungen der Jungen- und Mädchenmannschaften im Feldhockey in der vergangenen Saison.

»Wie gesagt, diese Seite ist nicht so interessant. Dreht sie um«, sagte Judith.

Auf der anderen Seite ging es um die Ehemaligen. Dort stand eine Botschaft vom Vorsitzenden des Schulvereins, es gab Neues von einer Spendensammlung, dazu eine Liste von im letzten Jahr verstorbenen ehemaligen Schülerinnen und Schülern. Wieder alles ganz harmlos.

»Okay«, sagte Suzie, »entweder verliere ich den Verstand, oder das ist alles bloß Schultratsch.«

»Wo hat er das überhaupt her?«, fragte Becks.

»Gute Frage«, antwortete Judith. »Zuerst dachte ich, das

»Aber jetzt glaubst du nicht mehr, dass es seine ist?«, fragte Suzie.

»Seht genau hin«, sagte Judith, und die anderen beiden merkten, wie viel Spaß ihr die Sache machte.

»Da ist nichts. Ich sehe nirgendwo den Namen Ezra Harrington erwähnt. Oder Iqbal Kassam. Oder Stefan Dunwoody oder Andy Bishop. Nichts hier hat irgendwas mit irgendwem zu tun.«

»Da liegt ihr eben daneben!«, sagte Judith und ging zu ihrer Anrichte, um sogleich mit ihrer Abschrift von Ezra Harringtons Testament zurückzukehren. »Denn ich würde euch bitten, zunächst mal einen Blick hierauf zu werfen. Ich kam auch nicht darauf, wieso Andy Bishop diese Seite aus dem Schulmagazin unbedingt schreddern wollte. Aber er hat sie geschreddert. Es musste also einen Grund geben. Ich musste ihn bloß enträtseln. Die Sache aus allen Richtungen betrachten. Und als ich unsere Abschrift von Ezras Testament anschaute, wurde mir klar, was los war. Seht euch mal die Namen der beiden Zeugen an.«

Judith klappte das Testamentsformular auf, sodass die beiden die Unterschriften am Ende des Dokuments sehen konnten. Als Zeugen waren Spencer Chapman und Faye Kerr aufgeführt. Auch ihre jeweiligen Adressen und Berufe – ein Pferdezüchter und eine Lehrerin – waren genannt.

»Nicht zu fassen!«, sagte sie und schaute wieder auf die Seite aus dem Borlasian.

Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Liste der Verstorbenen.

»Spencer Chapman und Faye Kerr sind letztes Jahr verstorben!«

»Volltreffer.« Judith war begeistert, dass ihre Freundin es entdeckt hatte.

»Im Ernst jetzt? Sie sind beide gestorben, seit sie Ezras Testament bezeugt haben? Was ist mit ihnen passiert?«

»Ach was, es ist noch viel besser. Seht euch die Todesdaten an.«

Suzie schaute wieder auf die Seite.

»Spencer ist im März gestorben, Faye auch. Sie sind beide im März gestorben.«

»Und jetzt schaut euch das Datum von Ezras Testament an.«

Becks prüfte die Daten neben den Unterschriften.

»Hier steht: Fünfter Mai des vergangenen Jahres«, sagte sie. »Moment, das ergibt doch keinen Sinn.«

»O doch, das ergibt sogar jede Menge Sinn«, sagte Judith.

»Aber wie konnten die beiden Ezras Unterschrift bezeugen, wenn sie über einen Monat vorher gestorben sind?«

»Nun, sie haben gar nicht, richtig?«, sagte Suzie, die jetzt begriff, was geschehen war. »Das sind nicht ihre richtigen Unterschriften. Die hat Andy Bishop gefälscht.«

»Genau!«, rief Judith. »Aber er konnte nicht riskieren, die Namen von Menschen zu nehmen, die später vor Gericht aussagen konnten, sie hätten dieses Testament nie bezeugt.

»Darum musste er auch unbedingt die Seite vernichten, nachdem du bei ihm warst.« Jetzt begriff Suzie voll und ganz. »Er fürchtete, du könntest das herausfinden.«

»Aber wie hat er Ezra hinters Licht geführt?«, fragte Becks.

»Das ist das Leichteste«, sagte Judith. »Ezras Testament ist zwei Wochen vor seinem Tod datiert. Am Ende muss er schreckliche Schmerzen gelitten haben. Und mit Morphium vollgepumpt und geistig verwirrt gewesen sein. Ich habe erlebt, wie jemand an Krebs stirbt. Meine Großtante Betty wusste in den letzten beiden Wochen ihres Lebens nicht mehr, wer sie war oder welchen Wochentag wir hatten. Sie hat sehr viel halluziniert von den Schmerzmitteln, die sie im Hospiz bekam. Ich hätte sie alles unterschreiben lassen können, wenn ich gewollt hätte.«

»So wie Andy Bishop es mit Ezra gemacht hat.«

»Er hat ein neues Testament geschrieben, mit dem Ezras gesamter Besitz an ihn vererbt wurde, und hat dann zwei Unterschriften gefälscht, damit es so aussah, als wäre es bezeugt worden. Und wer würde das jemals herausfinden?«

»Bis ihre Namen ein Jahr später in der Gedenkliste des Borlasian veröffentlicht wurden.«

»Es ist also doch, wie ich sagte«, erklärte Becks. »Andy Bishop ist unser Mörder. Er muss es einfach sein.«

»Ich glaube, da könntest du recht haben«, sagte Judith. »Es ist die einzige sinnvolle Schlussfolgerung.«

»Aber wie hat Iqbal die Sache mit den falschen Unterschriften entdeckt?«, fragte Suzie.

Judith ging zu ihrem Handy und wählte eine Nummer.

»Tanika, ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen«, sagte Judith.

»Ganz und gar nicht«, sagte Tanika. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Noch besser als in Ordnung, vielen Dank. Aber ich muss Ihnen eine Frage stellen.«

»Okay, aber Sie wissen, Sie dürfen mich nicht nach meinem Gespräch mit Elliot Howard fragen, ja?«

»Keine Sorge, mit Elliot Howard hat es gar nichts zu tun.«

»Oder zu den Mordfällen.«

»Wie war das?«

»Sie können mich auch nichts zu den Mordfällen fragen.«

»Wie kommen Sie denn darauf, dass ich danach fragen will?«

»Wieso sollten Sie mich sonst anrufen?«

»Ist Iqbal Kassam auf die William Borlase’s Grammar School gegangen?«

»Das hat mit den Mordfällen zu tun.«

»Natürlich hat es mit den Fällen zu tun!«

»Dann kann ich es Ihnen nicht sagen.«

»Es ist doch eine ganz schlichte Ja-Nein-Frage, aber sie könnte sehr wichtig sein. Er ist auf die Schule gegangen, richtig?«

Judith wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis Tanika antwortete.

»Dann müssen Sie jetzt ganz dringend zu Mr Kassams Haus gehen. Wenn Sie gründlich suchen, werden Sie dort ein Exemplar der jüngsten Ausgabe der Schulzeitschrift Borlasian finden. Und daraus wird genau eine Seite fehlen. Seite 74.«

»Entschuldigung, ich soll was bitte tun?«, fragte Tanika.

»Das ist der Beweis, dass Andy Bishop Ezra Harringtons Testament gefälscht hat, denn auf dieser Seite stehen die Namen zweier Menschen, die verstorben sind, bevor sie gut einen Monat später anscheinend Ezras Testament bezeugt haben.«

»Andy Bishop hat die Unterschriften der Zeugen gefälscht?«

»Volltreffer. Aber aus seiner Sicht hatte er großes Pech. Denn die beiden Menschen, die er ausgewählt hatte, waren früher beide zur Borlase’s Grammar School gegangen, was auch nicht so überraschend ist. Es gibt in Marlow ja nur zwei Schulen, also stehen die Chancen fifty-fifty. Ein Jahr nachdem Andy Ezras Testament gefälscht hatte und damit durchgekommen war, gerade als er sechshundertfünfzigtausend Pfund aus dem Verkauf von Ezras Haus einsacken wollte, ahnte er also nicht, dass die Schulzeitschrift die Namen der

Was dann passierte … werden wir wohl nie genau erfahren. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass Iqbal die Zeitschrift durchblätterte und entdeckte, dass die Menschen, die Ezras Testament bezeugt hatten, beide tot waren. Vergessen wir nicht, dass Iqbal sich schon vorher betrogen glaubte. Ezra hatte versprochen, ihm alles zu vermachen, und dann in letzter Minute ein Testament zugunsten seines Anwalts verfasst. Und jetzt, über ein Jahr später, hielt Iqbal also den Beweis schwarz auf weiß in der Hand, dass die beiden Zeugen schon vor der Abfassung des Testaments verstorben waren.

Was macht er also? Ich glaube, er wird Andy Bishop kontaktiert haben. Wird ihm gesagt haben, dass er Bescheid weiß über seine Straftat. Und was dann? Hat Andy angeboten, Ezras Geld mit Iqbal zu teilen, um sein Schweigen zu erkaufen? Oder hat er alles rundheraus abgestritten? Wer weiß? Aber eins wissen wir jetzt: Andy hatte ein unabweisbares und schwerwiegendes Motiv, Iqbals Tod zu wünschen. Er musste ihn umbringen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Um die sechshundertfünfzigtausend Pfund behalten zu können, die er Ezra abgeschwindelt hatte.«

»Okay, geben Sie mir mal einen Augenblick Zeit, Judith. Das ist wirklich eine Menge zu verarbeiten. Meinen Sie das alles ernst?«

»Ich bin beeindruckt. Wirklich, sehr beeindruckt. Es gibt nur ein Problem: Andy Bishop hat Iqbal Kassam nicht umgebracht.«

»Muss er aber. Das habe ich doch gerade erklärt.«

»Hat er aber nicht. Er war gar nicht im Land, als Iqbal umgebracht wurde. Er war in Malta.«

Judith glaubte, sich verhört zu haben.

»Können Sie das noch mal sagen?«

»Nachdem Sie mir einiges über ihn erzählt haben, habe ich ihn von meinem Team überprüfen lassen. Und nach Angaben sowohl der britischen Grenzpolizei als auch der maltesischen Einreisebehörde verbrachte Andy Bishop die letzten Tage seines zweiwöchigen Urlaubs auf der Insel, als Iqbal Kassam ermordet wurde. Das heißt, er war auch in Malta, als Stefan Dunwoody erschossen wurde.«

»Es tut mir sehr leid, Judith, aber er war zu den Tatzeiten zweitausend Kilometer weit weg. Auf keinen Fall kann er der Mörder gewesen sein.«

Judith war sprachlos. Wenn Andy zum Zeitpunkt der ersten beiden Morde gar nicht im Land gewesen war, dann spielte es keine Rolle, wie stark sein Motiv für Iqbals Ermordung war – er hatte es nicht getan. Was den Mord an Liz Curtis anging: Den konnte er begangen haben, wenn er schnell genug gehandelt hatte, um rechtzeitig am Arbeitsplatz zu sein, aber wenn er die ersten beiden Morde nicht begangen hatte, warum um Himmels willen hätte er dann den dritten begehen sollen? Vor allem, da sie zwischen ihm und Liz Curtis überhaupt keine Verbindung gefunden hatten.

Judith erkannte, dass sie wieder ganz am Anfang standen. Elliot Howard hatten sie bereits ausgeschlossen, und jetzt mussten sie auch noch Andy Bishop ausschließen. Und wenn es keiner von beiden gewesen war, wer um alles in der Welt hatte dann Stefan Dunwoody, Iqbal Kassam und Liz Curtis umgebracht?

Und warum? Was konnte die Verbindung zwischen den drei Opfern sein, die schuld daran war, dass sie sterben mussten?