Am nächsten Tag hatte Elliot Howard Hunger. Er war wie jeden Tag um Punkt zehn Uhr im Auktionshaus erschienen, und sein Vormittag war nicht anstrengender gewesen als üblich, doch er war nervös und zappelig. Er wollte raus. Es war zwar noch nicht mal elf Uhr, aber er beschloss, an die Luft zu gehen. Ein kurzer Spaziergang würde ihn in das Gewerbegebiet führen, wo ihm ein Imbisswagen ein schönes Schinken-Sandwich verkaufen würde, das er mit einem Tee aus dem Styroporbecher herunterspülen konnte. Er sagte allen Bescheid, dass er eine halbe Stunde unterwegs wäre, und verließ das Büro.
Als er davonschritt, bemerkte er die ältere Frau nicht, die neben einem großen Hortensienbusch auf einer Bank saß, obwohl sie in einen dunkelgrauen Umhang gehüllt war.
Judith sah Elliot weggehen, und Adrenalin schoss durch ihre Adern. Die Luft war rein! Aber wie lange, war die Frage. Sie stand auf, griff nach ihrer Tragetasche und eilte zum Auktionshaus.
Beim Eintreten sah sie Elliots Frau Daisy an ihrem Schreibtisch sitzen.
»Guten Morgen«, sagte Judith laut, denn sie wusste, sie würde die ganze Kraft ihrer Persönlichkeit brauchen, um zu bekommen, was sie brauchte.
Daisy war überrascht, Judith zu sehen.
»Was machen Sie denn hier?«
»Sie werden sich kaum daran erinnern, aber ich habe Ihren Mann vor ein paar Wochen aufgesucht.«
»O doch, daran erinnere ich mich gut. Er hat mir das gesamte Gespräch erzählt. Sie haben sich eine Geschichte ausgedacht, um ihn in eine Falle zu locken. Irgendwas mit einem Kleid und einem Glas Wein.«
Judith war verunsichert. Das war eine ganz andere Daisy als die, mit der sie beim letzten Mal gesprochen hatte. Was war geschehen, dass sie sich so verändert hatte?
»Wie bitte?«
»Er sagte, sie wollten ihm nachspionieren.«
»Aber das stimmt doch gar nicht. Ich habe ihn nur aufgefordert, ein Kleid zu bezahlen, das er ruiniert hat.«
»Eine Lüge.«
»Wie bitte?«
»Das ist gelogen. Das merke ich. Sie lügen.«
»Ganz und gar nicht«, ereiferte sich Judith. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich das beschädigte Kleid gern Ihrem Mann ins Büro legen.«
»Da können Sie nicht hinein!«, rief Daisy, aber zu spät, denn Judith marschierte in Elliots Büro und versuchte, alle Ruderbilder an den Wänden anzuschauen.
Die Idee war ihr heute beim Aufwachen gekommen. Wenn sie nach Aufzeichnungen über Elliots Rudervergangenheit suchte, gab es schließlich keinen besseren Startpunkt als seine Bürowände. Hier war jede siegreiche Crew abgebildet, zu der er gehört hatte, und auf den Passepartouts waren sogar die Namen der abgebildeten Personen aufgelistet. Genau der richtige Ort, um herauszufinden, ob er jemals mit einem der Zeugen oder Mordopfer gerudert hatte.
Doch ehe Judith richtig hinschauen konnte, stürmte Daisy hinter ihr her.
»Ich habe gesagt, Sie dürfen hier nicht hinein! Das ist das Büro meines Mannes, sein privates Arbeitszimmer!«
Daisys Heftigkeit erschreckte Judith. Sie war wie eine Wölfin, die ihre Jungen vor einer Gefahr verteidigte.
»Wir haben so hart an unserem Glück gearbeitet«, fauchte Daisy. »Zusammen. Elliot und ich. Und das werde ich mir durch nichts zerstören lassen. Und durch niemanden. Und jetzt raus. Raus mit Ihnen!«
Judith erkannte, dass sie dieser Aufforderung besser Folge leistete, wenn sie keinen körperlichen Angriff riskieren wollte.
Auf dem Weg nach draußen versuchte sie zu begreifen, was gerade geschehen war. Warum hatte Daisy so überreagiert? Wollte sie ihren Mann bloß beschützen? Oder steckte noch mehr dahinter?
Eine interessante Frage, aber Judith konnte sich nicht voll darauf konzentrieren. Der Grund dafür war, dass sie in Elliots Büro den entscheidenden Durchbruch erzielt hatte. In der Reihe von Ruderbildern an der Wand gab es eine Lücke, die vorher nicht da gewesen war.
Seit ihrem letzten Besuch hatte Elliot eines der Ruderbilder von der Wand genommen.
Jetzt war Judith überzeugt. Rudern war die Verbindung, nach der sie die ganze Zeit gesucht hatten. So musste es sein. Und wenn das so war, dann hatte Judith keine Wahl. Ihre Hand griff nach dem Schlüssel um ihren Hals.
Es wurde Zeit.
»Du wolltest uns sprechen?«, sagte Becks, als Judith sie und Suzie ins Haus bat und ihnen von ihrem Besuch in Elliot Howards Arbeitszimmer und der Konfrontation mit seiner Frau Daisy erzählte.
»Sie ist auf dich losgegangen?«, fragte Suzie.
»Ich konnte es gar nicht begreifen. Beim ersten Mal, als wir uns begegnet sind, war sie so reizend. Aber diesmal war sie wie ein verwundetes Tier.«
»Was hat sich wohl geändert?«, überlegte Becks.
»Sie hat herausgefunden, dass ihr Mann ein Mörder ist«, sagte Suzie schlicht. »Das hat sich geändert.«
»Ja, das ist sehr gut möglich«, stimmte Judith zu.
»Und warum, glaubst du, hat Elliot ein Ruderfoto von der Wand genommen?«, fragte Becks.
»Also, ich kann euch verraten, dass ich alles, was mit Rudern zusammenhängt, im Netz recherchiert habe«, sagte Judith. »Und ich habe nichts gefunden.«
»Es gibt also keine Verbindung?«, fragte Becks verwirrt.
»Doch, ich glaube immer noch daran. Aber Elliot ist als Schüler gerudert, das war in den 1980ern, lange vor dem Internet. Ich schlage also vor, dass wir ohne digitale Hilfe herauszufinden versuchen, wo die Verbindung liegt.«
Bei diesen Worten nahm Judith die Kette vom Hals und hielt den daran hängenden Schlüssel hoch.
Suzie riss die Augen auf, Becks allerdings war nicht gleich klar, was jetzt passieren würde.
Judith lächelte in Suzies Richtung und ging auf die Tür neben dem Getränketisch zu.
»Macht euch keine allzu großen Hoffnungen«, sagte Judith, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. »Es ist weniger interessant, als ihr vielleicht glaubt.«
Einerseits hatte Judith recht, andererseits lag sie aber auch vollkommen falsch.