Judith konnte sich nicht von dem Artikel und von dem Foto losreißen, das sie aus dem Jahr 1970 anstarrte. 27 Jahre war sie damals alt und erinnerte sich an den Tag, als die Aufnahme gemacht wurde, als wäre es gestern gewesen. Es war ein Schnappschuss vom Strand von Paleokastritsa, nachdem sie mit Philippos zu Mittag gegessen hatte. Trotz ihres zu der Zeit sehr unerfreulichen Lebens war Judith an dem Tag unerklärlich glücklich gewesen. Die Sonne hatte geschienen, die Umgebung war so herrlich, und sie erinnerte sich an die leichte Nachmittagsbrise am Strand, die den Geruch des Holzgrills vom Restaurant mit dem Duft der überall in der Bucht wachsenden Rosmarinbüsche vermischte.
Auch wenn sie schon Rentnerin war, glaubte Judith, dass sie immer noch eine gewisse Schönheit besaß. Allerdings eher als Gefühl im Inneren, nicht als Teil der äußeren Erscheinung. Als sie älter wurde, hatte sich die Schönheit von der Haut nach innen verlagert und war Teil ihrer Seele geworden, wie sie meinte. Doch wenn sie die Frau auf dem Foto anschaute, fiel ihr auf, wie sehr ihr Haar glänzte. Wie ihre Haut selbst in der Schwarz-Weiß-Aufnahme zu leuchten schien und wie verdammt schlank sie gewesen war.
Und als sie sich erinnerte, wie sie mit Mitte zwanzig aussah, ging Judith die Lösung auf.
Ein Gedanke tauchte gänzlich unaufgefordert in ihrem Hirn auf. Ungebeten. In einem Augenblick existierte noch keine Antwort auf ihre Rätselfrage, und im nächsten Augenblick war sie da.
Judith war verblüfft. Konnte es wirklich so einfach sein?
Dann erkannte sie mit einem plötzlichen Adrenalinstoß die Bedeutung einer Bemerkung, die Andy Bishop am Ende des gemeinsamen Spaziergangs Becks gegenüber gemacht hatte.
Judith ließ die Zeitung in ihrer Hand auf den Boden fallen, ging aus dem Zimmer und verschloss die Tür hinter sich. Denn ihr Durchbruch war schließlich nur ein Puzzleteil. Ein anderes Teil fehlte noch. Aber diesmal war sie überzeugt, sie würde es finden. Sie wusste, welche Form das Teil haben musste, auch wenn sie noch nicht wusste, wie es aussah.
Im Kopf ging Judith alle Informationen durch, die sie im Polizeirevier gesammelt hatte: Iqbals Traum, ein Boot zu kaufen; die Aussage von Briefträger Fred, dass Stefan ein Gauner war; die Tatsache, dass Liz einen skrupellosen Tierarzt dazu gebracht hatte, ihren an sich gesunden Hund einzuschläfern. Doch wie sehr sie sich auch mühte, die Antwort sprang ihr nicht ins Auge. Sie wusste, wenn sie das Puzzleteil vor Augen hätte, würde sie es erkennen, sie musste einfach weitermachen.
Wo konnte sie also noch suchen?
Judith fuhr ihr Tablet hoch und überprüfte ihren Browserverlauf, aber auch das lieferte keine Antworten. Doch sie wusste, sie musste methodisch vorgehen. Also ging sie zurück bis zur allerersten Suchanfrage, die sie nach Stefans Tod eingegeben hatte. Das war der Artikel über Stefans Streit mit Elliot Howard in Henley. Sie klickte den Link an und las den Artikel noch einmal aufmerksam durch, doch die Lösung ihres Rätsels war dort nicht zu finden. Also schloss sie den Tab und öffnete den nächsten Eintrag ihrer Chronik.
Während Judith sich durch ihren Browserverlauf arbeitete, senkte sich eine Ruhe über sie, die sie auch beim Erstellen eines Kreuzworträtsels spürte. Sie öffnete eine Webseite, las alles gewissenhaft durch, schloss sie und öffnete die nächste.
Es erforderte eine Willensanstrengung, konzentriert zu bleiben, doch sie machte unermüdlich weiter, denn sie wusste, mit Geduld würde sie Erfolg haben.
Und dann fand sie es.
Wie das Schicksal es wollte, war es die Webseite, die sie zuletzt angeschaut hatte, und damit auch die letzte, die sie jetzt überprüfte.
Es war der Artikel in der Marlow Free Press über Stefan Dunwoodys Anwesen am Flussufer. Judith konnte kaum fassen, dass sie ihn erst vor so kurzer Zeit gelesen hatte und ihr der entscheidende Aspekt daran dennoch entgangen war. Aber da sie nun das alte Foto von sich selbst gesehen und sich an Becks Erzählung erinnert hatte, las sie ihn mit neuem Verständnis.
Mr Dunwoody lacht, als ich ihn frage, warum er ein Haus an der Themse erworben hat. »Ich kann nicht schwimmen, und Rudern habe ich noch nie gemocht, darum mag es seltsam scheinen, dass ich eine alte Wassermühle gekauft habe. Aber ich liebe die Tierwelt am Fluss. Solange mich niemand zwingt, in ein Boot zu steigen, bin ich hier glücklich.«
Es war so offensichtlich! Diese wenigen Sätze enthüllten, wer Stefan Dunwoody umgebracht hatte.
Und auf einmal ergab alles einen Sinn. Warum Stefan Dunwoody umgebracht werden sollte, dann Iqbal Kassam und schließlich Liz Curtis. Und warum man dafür eine Luger aus dem Zweiten Weltkrieg verwendete. Und warum der Mörder dann an jedem Tatort ein Freimaurermedaillon zurückgelassen hatte.
Judith war so tief in Gedanken versunken, dass sie eine Weile brauchte, bis sie merkte, dass ihr Telefon klingelte.
Endlich erkannte sie das Geräusch und nahm ab.
»Hallo?«, sagte sie in den Hörer.
»Was haben Sie heute in meinem Büro gemacht?«
Judith gefror das Blut. Es war Elliot Howard.
»Entschuldigung?«
»Meine Frau hat mir erzählt, dass Sie heute in mein Büro gegangen sind, als ich nicht da war. Was haben Sie da gemacht?«
»Woher haben Sie meine Nummer?«, fragte Judith, um Zeit zu gewinnen.
»Ich weiß so einiges über Sie, Judith Potts.«
»Sie dürfen mich nicht unter dieser Nummer anrufen.«
»Und Sie dürfen mein Büro nicht betreten, wenn ich nicht da bin.«
Judiths Gedanken rasten, und weil ihr keine Entgegnung einfiel, ging sie einfach auf ihn los.
»Sie werden sicher zustimmen, dass ich tun kann, was ich will, solange Sie sich weigern, die Reinigung meines Kleides zu bezahlen.«
»Sie wollen doch nicht immer noch so tun, als hätte ich Wein daraufgeschüttet?«
Judith wusste, ihr blieb keine andere Wahl, als weiter darauf zu beharren.
»Sie wissen genau, dass Sie das getan haben.«
»Wie armselig.«
»Und ich werde zu Ihnen kommen und es Ihnen zeigen, und dann werden Sie dafür bezahlen.«
»Ach, ich glaube nicht, dass wir uns noch einmal sehen werden.«
Das sagte Elliot so nonchalant, dass Judith sofort alarmiert war.
»Das können Sie doch unmöglich wissen.«
»Ich glaube doch.«
»Nun, heute ist Donnerstag, richtig? Sie werden also um sieben zur Chorprobe in der Kirche sein. Dann bringe ich Ihnen das Kleid dorthin. Ich möchte mal sehen, wie Sie sich vor all Ihren Chorfreunden weigern, mir die Reinigung zu bezahlen.«
»Leider werde ich heute Abend nicht an der Chorprobe teilnehmen. Ich gehe mit ein paar alten Freunden zu einem Fußballspiel in London. Leben Sie wohl, Mrs Potts.«
Er legte auf, die Leitung war tot, und Judith erschauerte, als sei jemand über ihr Grab gelaufen, und im Grunde war so etwas Ähnliches ja auch passiert.
Ihre Knie gaben nach, und sie ließ sich auf ihr Sofa sinken.
Ihr Hirn war wie erstarrt. Sie konnte keinen Gedanken fassen.
Doch ganz verschwommen wurde ihr klar, dass sie etwas tun musste.
Sie griff wieder nach ihrem Telefon, suchte die Nummer von Andy Bishops Kanzlei und wählte sie.
Als die Rezeption sich meldete, erklärte Judith, wer sie war, und bat darum, zu ihm durchgestellt zu werden.
»Leider«, sagte die Stimme im Hörer, »ist Mr Bishop im Augenblick auf einer Dienstreise.«
»Ach, wirklich?«, bekam Judith heraus. »Wann wird er zurück sein?«
»Ich glaube, er hat gesagt, dass er heute Nachmittag nach Plymouth fährt und über Nacht dortbleibt. Aber ich weiß, dass er am Montagmorgen wieder in der Kanzlei sein wird. Möchten Sie für Montag einen Termin machen?«
»Nein«, flüsterte Judith und legte auf.
Dabei explodierte tief in ihrem Inneren eine Bombe der Angst.
Denn jetzt kannte sie die Wahrheit. Es würde nicht bei drei Morden in Marlow bleiben. Es sollte noch einen vierten geben. Und sie würde das Opfer sein.