Nach ihrer Begegnung mit Judith eilte Becks zurück zum Pfarrhaus, einem prächtigen georgianischen Bau gleich neben der Kirche, aber sie musste feststellen, dass sie nicht zur Ruhe kam. Dass sie mit einem potenziellen Mordfall in Berührung gekommen war, hatte sie mehr aufgeregt, als sie sich eingestehen wollte. Um ihre Nerven zu beruhigen, tat sie, was sie immer tat, wenn sie aufgewühlt war: Sie machte Ordnung. Sie schüttelte bereits pralle Kissen auf, richtete Bilder an den Wänden aus, die gar nicht schief hingen, und saugte den vollkommenen sauberen Küchenfußboden.
Am Küchentisch saß ihr vierzehnjähriger Sohn Sam zusammengesunken über seinem Handy.
»Wo ist deine Schwester?«, fragte Becks.
»Keine Ahnung«, sagte Sam, ohne aufzusehen. »Wahrscheinlich schnüffelt sie irgendwo Lachgas.«
»Du sollst so was nicht sagen!«, blaffte Becks.
Natürlich hatte Sam einen Witz gemacht, aber sie wussten beide, dass Sam ein guter Schüler war, der sich an die Regeln hielt, und seine sechzehnjährige Schwester Chloe das genaue Gegenteil. Ihre einzigen Interessen waren, mit ihren Freunden abzuhängen und zu feiern. Wenn Becks ganz ehrlich war, musste sie sich zwar eingestehen, dass ihre Tochter nichts tat, was sie in ihrem Alter nicht auch getan hatte. Trotzdem machte sie sich ständig Sorgen um Chloe.
Allerdings verstand sie Sam manchmal genauso wenig. Seit etwa einem Jahr zog er sich immer mehr zurück, und soweit Becks sehen konnte, war sein einziger sozialer Kontakt außerhalb der Schule sein über alles geliebter Hamster.
»Du siehst schick aus, Liebling«, sagte Reverend Colin Starling, als er das Zimmer betrat. Er trug einen schwarzen Anzug mit Brustlatz und Priesterkragen.
»Was soll das heißen?«, fragte Becks gereizt. »Das sind meine Yoga-Klamotten.«
Verärgert über ihren unsensiblen Mann ging Becks nach oben, um sich umzuziehen. Insgeheim war ihr klar, dass sie sich unvernünftig verhalten hatte, aber sie wurde ihr Unbehagen einfach nicht los.
Im Schlafzimmer griff sie nach ihrem Handy. Hatte Chloe sich gemeldet? Nein, hatte sie nicht.
»Becks?«, rief Colin vom Fuß der Treppe aus. »Denkst du daran, dass Major Tom Lewis und seine Frau zum Abendessen kommen?«
Becks machte sich nicht die Mühe zu antworten. Natürlich wusste sie, dass Gäste zum Abendessen kamen. Sie war heute Morgen um sechs aufgestanden und hatte einen Schweinebauch mit Fenchel eingerieben, damit er im Slow Cooker volle zehn Stunden vor sich hin garen konnte. Dabei wusste sie genau, dass Major Tom schon bei ihrem Eintreffen betrunken sein würde und Mrs Lewis sie anhand diverser Kriterien kritisieren würde, die sie erst preisgab, wenn klar war, dass Becks sie nicht erfüllt hatte.
Unwillkürlich dachte Becks: Was habe ich in meinem Leben falsch gemacht? Sie war nicht unglücklich, weit gefehlt. Aber sie war auch nicht glücklich. Als sie sich kennengelernt hatten, war Colin Banker gewesen, und obwohl sie beide regelmäßig in die Kirche gegangen waren, hatte er vor ihrer Heirat keinerlei Interesse daran bekundet, Pfarrer zu werden. Erst nachdem Chloe auf die Welt gekommen war, hatte er auf einmal »Zweifel« am Sinn all des schönen Geldes, das er verdiente. Und direkt nach Sams Geburt, als sie gerade besonders viel Geld nötig hatten, hatte er seine »Berufung«. Als gute Ehefrau hatte Becks ihren Mann bei seiner radikalen Karrierewende vom reichen Bankier zum Landpfarrer unterstützt.
Und nun saß sie hier, Jahre später, als Hausfrau, Ehefrau und Mutter. Das waren wundervolle Aufgaben, und sie sagte sich ständig, was für ein Glück sie hatte, solch ein Leben führen zu dürfen. Trotzdem fiel ihr immer wieder auf, dass alles an ihrer Existenz von anderen definiert wurde und nicht von ihr selbst. Sie war die Mutter der Kinder und die Frau des Pfarrers. Und außerdem die Dame des Hauses.
Becks öffnete auf ihrem Handy eine Social-Media-App. Sie suchte nach der Gemeinde-Gruppe, der sie beigetreten war, gleich nachdem ihr Mann in Marlow sein Amt angetreten hatte. Die Gruppe hieß Marlow tauscht sich aus. Als Becks beigetreten war, hatte sie nicht ihren richtigen Namen benutzt, sondern den Spitznamen »Jezebel«. In der Anonymität hatte sie ein wenig offener reden können als im wirklichen Leben. Aber vor ein paar Jahren hatte sie aufgehört, auf die Seite zu gehen. Alles in allem war es ihr ein bisschen zu aufregend gewesen, ein Alter Ego zu haben, und gesund war es sicher auch nicht, zumal sie zunehmend das Gefühl gehabt hatte, dass sie ihr Alter Ego mehr mochte als ihr wahres Ich.
Zum ersten Mal seit langer Zeit besuchte sie nun wieder das Forum. Sie überflog die aktuellen Beiträge und merkte schnell, dass es immer noch hauptsächlich darum ging, dass die Leute Angst hatten, im Seymour Park könnte sich fahrendes Volk niederlassen, und sich darüber ärgerten, dass manche ihren Hundekot nicht aufsammelten. So weit war alles wie immer.
Becks startete einen neuen Beitrag.
Ich möchte ein paar alte Möbel verkaufen. Ich würde das gerne über das Auktionshaus Marlow tun, aber ich habe ein paar unschöne Dinge über den Besitzer Elliot Howard gehört. Kann man ihm trauen?
Ihr Finger schwebte über dem Button zum Posten des Beitrags. Sollte sie das wirklich tun? Tagsüber sanftmütige Pfarrersfrau, zum Abendbrot anonyme Cyber-Kriegerin?
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, klickte Becks auf die Schaltfläche, und der Beitrag war online.
Ein Schauer der Erregung lief durch ihren Körper. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so wagemutig gewesen war.
Am nächsten Morgen saß Judith an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich einen schönen kryptischen Hinweis für das Wort »Teenager« in ihrem Kreuzworträtsel auszudenken. Vor einer Weile hatte sie beschlossen, es hierfür in »Tee« und »Nager« aufzuteilen. Der Gedanke an jemanden, der an einem Stück gefrorenen Tees nagte, machte ihr Spaß. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, im Kopf einen Hinweis auf das Wort zu formulieren, tauchte vor ihrem geistigen Auge Elliot Howard auf: Wie selbstsicher er gewesen war, als er sie kennengelernt hatte, und wie selbstgefällig er ausgesehen hatte, als er in die Überwachungskamera in der Kirche geschaut hatte.
Und als ob Elliot ihre Konzentration nicht schon genug ruinierte, konnte Judith auch nicht aufhören, an den armen alten Stefan zu denken. Sie erinnerte sich noch genau an das einzige persönliche Gespräch, das sie je miteinander geführt hatten. Das war vor ein paar Jahren im Winter gewesen, als es stark geschneit hatte und Stefan vor Judiths Tür aufgetaucht war, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Stefan hatte nicht ahnen können, dass Judith seit Tagen nichts anderes tat, als Vorräte einzukaufen und dafür zu sorgen, dass genug Feuerholz im Haus war. Anders als die meisten Menschen war er gar nicht neugierig gewesen, warum Judith allein lebte, oder hatte eintreten wollen, um sich anzuschauen, wie ihre Villa von innen aussah. Die meisten Leute, die zufällig vorbeikamen, wollten unbedingt wissen, ob das Innere ihres Hauses genauso prachtvoll war wie das Äußere. Nicht so Stefan. Er war respektvoll und höflich gewesen, und sobald er sich überzeugt hatte, dass Judith auf den kommenden Schnee gut vorbereitet war, hatte er ihr einen angenehmen Tag gewünscht und war wieder gegangen.
Ein guter Mann, das war er gewesen, dachte Judith, und zum hundertsten Mal an diesem Vormittag ertappte sie sich dabei, dass sie gedankenlos aus dem Fenster auf das leere Haus ihres Nachbarn schaute.
In Stefans Garten stand eine Frau.
Sie brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was sie da sah. In Stefans Garten stand eine Frau!
Judith sprang auf. Mehrere Bleistifte landeten geräuschvoll auf dem Fußboden. Mit großen Schritten eilte sie zur Haustür, warf sich im Gehen ihren Umhang über die Schultern und rannte hinaus. Wer war diese Frau? Und was hatte sie drüben bei Stefan zu suchen?
Judith marschierte durch das dichte Gras in ihrem Garten, bis sie ans Flussufer kam. Die Frau stand auf Stefans Rasen und drehte sich langsam um die eigene Achse. Es sah aus, als wüsste sie nicht so recht, wo sie sich befand. Sie trug Jeans und ein dunkles T-Shirt und hatte dichtes rotbraunes Haar. Ihre wilde Mähne leuchtete kupferrot – wie auf einem präraffaelitischen Gemälde, dachte Judith.
»Hallo!«, rief Judith von ihrem Garten aus.
Als sie Judiths Stimme hörte, drehte sich die Frau um.
»Hallo!« Judith rief noch einmal. »Ich bin Judith Potts, Stefans Nachbarin. Kann ich Ihnen helfen?«
Judiths Augen waren längst nicht mehr so gut wie früher, daher fiel es ihr schwer, die Gesichtszüge der Frau auszumachen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass ihr plötzliches Erscheinen die Frau in Panik versetzt hatte.
Als die Frau mit dem rotbraunen Haar sich plötzlich umdrehte und davonlief, waren alle Zweifel beseitigt.
»Ich wollte doch nur Guten Tag sagen!«, rief Judith ihr hinterher, aber es war zu spät. Die Frau war an Stefans Haus vorbeigelaufen und verschwunden.