DS Tanika Malik las gerade den ballistischen Bericht zu Stefan Dunwoodys Tod, als ein Kollege anrief, um ihr mitzuteilen, dass eine Frau namens Judith Potts im Empfangsbereich auf sie warte. DS Malik war kurz perplex, dann bat sie den Kollegen, Mrs Potts in einen Vernehmungsraum zu bringen und ihr zu sagen, dass sie sich in ein paar Minuten um sie kümmern werde. Vorher musste sie noch eine dringende Angelegenheit erledigen.

Sie nahm das Telefon und wählte die Nummer, die oben auf dem Bericht stand.

»Wollen Sie damit sagen, die Kugel, die Mr Dunwoody getötet hat, war eine Antiquität?«, fragte sie die Forensikerin, sobald sie durchgestellt worden war.

»Ganz genau«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.

»Sind Sie sicher?«

»Die Kugel, die wir aus Mr Dunwoodys Schädel geholt haben, war eine Parabellum 7,65 mal 21 Millimeter, und das ist ein sehr spezielles Kaliber, das nur bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und nur von den deutschen Streitkräften verwendet wurde.«

»Ernsthaft?«

»Und das soll noch funktionieren? Ein siebzig Jahre altes Geschoss?«

»Die Deutschen wussten schon, wie man Pistolen herstellt. Tun sie immer noch. Natürlich funktioniert das.«

DS Malik bedankte sich bei der Beamtin für ihre Hilfe und legte auf. Unter britischen Polizisten galt es als Binsenweisheit, wie schwierig es für die Allgemeinheit war, eine funktionierende Handfeuerwaffe in die Finger zu bekommen. Ähnlich schwierig war es, an eine antike Waffe zu kommen, die noch nicht von den Behörden aus dem Verkehr gezogen war.

Außer vielleicht, wenn man Antiquitätenhändler war …

DS Malik hatte nach ihrem zweiten Gespräch mit Judith Elliot Howard angerufen, um ihrem Hinweis nachzugehen. Elliot hatte rundheraus zugegeben, dass er sich tatsächlich bei der Henley Royal Regatta mit Stefan gestritten hatte, aber nur, weil Stefan ihm die Sicht versperrt hatte. Und auch wenn sie sich ganz schön in die Haare bekommen hatten, war es schon sechs Wochen her, also Schnee von gestern.

Was sein Alibi für den Abend anging, an dem Stefan starb, so wusste DS Malik aus dem Bericht des Gerichtsmediziners, dass Stefan zwischen 19 und 22 Uhr erschossen worden war, also hatte sie Elliot gefragt, wo er sich zu jener Zeit aufgehalten hatte. Er hatte angegeben, dass er in der All Saints’ Church bei der Chorprobe gewesen war und danach auf ein Bier in den Pub gegangen war und den Pub gegen 22 Uhr verlassen habe.

Malik hatte Elliots Auftreten nicht sonderlich gefallen. Aalglatt war er ihr vorgekommen, fast so, als hätte er ihren Anruf bereits erwartet und sich darauf vorbereitet. Ihrer Erfahrung nach wurden Bürger nervös, wenn sie im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung befragt wurden, insbesondere wenn es um einen potenziellen Mord ging. Aber ein kurzer Anruf beim Pfarrer in Marlow hatte gereicht, um Elliots Angaben zu verifizieren. Der Pfarrer höchstpersönlich war nach der Chorprobe mit Elliot in den Pub gegangen. Er hatte ihr versichert, dass er sich zwischen 19 und 22 Uhr stets im selben Raum wie Elliot befunden hatte. Da somit ausgerechnet der örtliche Pfarrer Elliot ein Alibi gegeben hatte, hatte DS Malik die Sache nicht weiterverfolgt. Aber jetzt, da sich herausgestellt hatte, dass es sich bei der Mordwaffe um eine antike deutsche Pistole handelte, sollte sie ihn vielleicht doch noch einmal aufsuchen. Oder war das Zufall? DS Malik versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Stefan Dunwoody hatte sich das Leben genommen, das war das Einzige, das Sinn ergab. Auch wenn er dafür eine uralte Pistole benutzt hatte.

Allerdings war da noch das mysteriöse Bronzemedaillon, dachte DS Malik.

Dies war bislang der einzige Aspekt des Falls, der DS Malik hatte aufmerken lassen. Als die Taucher Stefans Leiche aus dem Fluss gefischt hatten, war an einer silbernen Kette an einem Knopfloch an Stefans Jackett ein kleines Medaillon von der Größe einer Zwei-Pfund-Münze befestigt gewesen. Das Medaillon war eindeutig sehr alt. Es war von mattbrauner Farbe, um den Rand herum rankte sich ein Muster aus Blättern, und in der Mitte war das Wort »Faith« eingraviert.

Aber ein altes religiöses Symbol reichte wohl kaum als Beweis dafür, dass hier ein Mord vorlag. Genauso wenig wie eine alte deutsche Luger.

Auf dem Weg zu Judith blieb DS Malik kurz an dem Schreibtisch eines ihrer Constables stehen.

»Haben wir die Waffe schon gefunden?«

»Noch nicht«, antwortete der Polizist. »Die Taucher haben heute Morgen das Flussbett zu Ende abgesucht, aber nichts gefunden.«

»Was ist dann mit dem Teich?«

Eine von DS Maliks Theorien war, dass Stefan auf dem gemauerten Damm zwischen seinem Teich und dem Fluss gestanden hatte, sich in den Kopf geschossen hatte und dann rückwärts in den Fluss gefallen war, während seine Waffe vor ihm im Teich gelandet war.

»Sie haben auch auf der anderen Seite der Mauer im Teich nachgeschaut. Keine Waffe.«

»Ist das ganz sicher?«

»Hundertprozentig sicher können die sich da ohnehin nicht sein. Erst wenn wir den Teich und den Fluss ausbaggern.«

»Kann sein, dass wir das bald müssen.«

Als DS Malik endlich zu Judith in den Vernehmungsraum kam, war sie mit den Gedanken ganz woanders. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte sie, als sie Platz nahm.

»Keine Sorge«, sagte Judith. »Ich kann mir vorstellen, dass

»Okay«, sagte DS Malik und nahm Notizbuch und Stift zur Hand. »Was möchten Sie mir sagen?«

Judith berichtete, dass sie zu Stefans Galerie gegangen war und von seiner Assistentin Antonia Webster erfahren hatte, dass Elliot Howard Stefan zu Beginn der Woche vor seinem Tod besucht hatte, dass sie sich gestritten hatten und dass Antonia gehört hatte, wie Stefan Elliot gesagt habe, er habe genug, um zur Polizei zu gehen.

DS Malik staunte. Gerade als sie zur Überzeugung gelangt war, dass Elliot nichts mit Stefans Tod zu tun hatte, tauchte er wieder auf.

»Das hat Mr Dunwoody gesagt?«, fragte DS Malik.

»›Ich habe genug, um zur Polizei zu gehen.‹ Das waren seine exakten Worte gegenüber Elliot. Sagt Antonia. Und als Antonia später mit Stefan darüber sprach, sagte er: ›Verzweiflung treibt die Menschen zu den größten Torheiten.‹«

»Er hat angedeutet, Elliot sei verzweifelt?«

»Ganz recht!«

»Aber vielleicht hat er auch sich selbst gemeint. Immerhin hat er sich möglicherweise umgebracht. ›Verzweiflung treibt die Menschen zu den größten Torheiten‹, das könnte ein verschleierter Hinweis darauf sein, dass er sich töten wollte.«

Judith hob entgeistert die Hände. »Sie glauben doch nicht etwa immer noch, dass es Selbstmord war?«

»Ich wette, es gibt keinen Abschiedsbrief, oder?«

DS Malik runzelte die Stirn. Judith hatte recht. Sie hatten keinen Abschiedsbrief an Stefans Leiche gefunden. Oder in seinem Haus.

Der Gedanke an Stefans Leichnam erinnerte DS Malik an das Bronzemedaillon, das sie an ihm gefunden hatten, also beschloss sie, ein wenig nachzuforschen.

»Was würden Sie sagen, war Mr Dunwoody ein religiöser Mensch?«

»Verzeihung?«

DS Malik erklärte, dass sie an Stefans Jackett ein Medaillon gefunden hatten, in das das Wort »Glaube« eingraviert war.

»Sie meinen, er trug es wie ein Abzeichen?«

»Ja. So ähnlich.«

»Wie war es denn befestigt?«

»An einer kurzen Kette, die durch das mittlere Knopfloch seines Jacketts gefädelt war.«

»Oh, wie die Abzeichen, die man bei Ruderregatten trägt.«

»Stimmt. Genau so.«

»Ich verstehe. Nun, ich habe keine Ahnung, ob Stefan besonders religiös war. Ich gehe nicht sehr oft in die Kirche, also weiß ich es nicht. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?«

»Es tut mir leid, aber ich kann nicht mit irgendeiner Bürgerin über die Details einer laufenden Ermittlung sprechen.«

»Das war recht eindeutig. Sie haben also keinen

»Sie müssen wirklich damit aufhören, das herumzuerzählen. Mr Howard kann es nicht gewesen sein.«

»Oh, Sie meinen, weil er bei der Chorprobe war?«

»Woher wissen Sie das?«

»Nachdem Antonia mir von dem Streit in seinem Büro erzählt hatte, habe ich mit Elliot Howard gesprochen.«

»Sie haben – was?!«

»Ich musste mir doch selbst einen Eindruck von ihm machen.«

»War das klug?«

»Wenn wir nur täten, was klug ist, würde nie etwas passieren, oder? Jedenfalls hat er mir erzählt, dass er zu dem Zeitpunkt, als ich den Schuss hörte, bei der Chorprobe war.«

»Ja, das hat er mir auch gesagt.«

»Oh, Sie haben also doch mit ihm gesprochen?«

»Ich musste ja der Spur nachgehen, nachdem Sie mir von ihm erzählt hatten.«

»Ich wette, Sie mochten ihn nicht, oder?«

»Wie bitte?«

»Es ist sein Tonfall, nicht wahr? Als würde er mit uns Katz und Maus spielen.«

DS Malik hätte Judith beinahe zugestimmt, konnte sich aber gerade noch zusammenreißen. »Bitte sagen Sie nicht immer ›uns‹, Mrs Potts. Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen als Zeugin, die die Leiche gefunden hat, und weil Sie den Verstorbenen kannten. Aber Sie sollten bitte nicht überall herumlaufen und glauben, Sie könnten die Arbeit der Polizei

»Natürlich nicht«, sagte Judith. »Das ist Ihre Aufgabe, das verstehe ich vollkommen. Aber sagen Sie mal, haben Sie die Tatwaffe schon gefunden?«

»Wie bitte?«

»Ich denke mal nicht, oder?«

DS Malik wusste nicht gleich, was sie darauf erwidern sollte.

»Sehen Sie! Es gibt keinen Abschiedsbrief und keine Waffe! Denn der Mörder hat sie hinterher mitgenommen. Und selbst wenn Elliot Howard bei der Chorprobe war, als Stefan getötet wurde, ist er doch zumindest in die Sache verstrickt. Irgendwie. Ich bin mir ganz sicher. Könnte er nicht einen Auftragskiller angeheuert haben?«

»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich.«

»Aber möglich wäre es doch, nicht wahr?«

»Mrs Potts, Marlow hat in den letzten sieben Jahren jedes Jahr die Auszeichnung ›Beste Blütenpracht‹ gewonnen. Und bei meinem letzten Einsatz dort hatte jemand die Polizei gerufen, weil zwei Schwäne die High Street hinunterspazierten und den Verkehr lahmgelegt hatten. Ich kann Ihnen versichern, in Marlow gibt es keine Auftragskiller.«

Die Tür flog auf, und ein Polizist steckte den Kopf in den Raum. Er schnappte nach Luft. »Sergeant, in Marlow ist gerade jemand erschossen worden.«