Kapitel 3
Bergman hatte keine ruhige Nacht gehabt. Seine Augen waren gerötet, seine Haltung war nicht so aufrecht wie gewohnt und sein Kopf gesenkt. Er trug ein schwarzes Trauerband über seinem weißen Hemd. Das Jackett hatte er über einen Stuhl gehängt. Der Besprechungssaal war voll besetzt. Viele Kollegen mussten stehen und trotz der zahlreichen Anwesenden war es still.
»Jeder weiß, was gestern in Buckow passiert ist«, begann Bergman mit leiser Stimme. »Ich werde an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit mehr Worte über unseren Kollegen verlieren, doch erst müssen wir die Wahrheit über den Vorfall herausfinden. Das ist unsere Pflicht, so schwer uns das heute auch fallen wird.« Er seufzte hörbar. »Ich bringe euch auf den neusten Stand.« Er drehte sich zur Wand um, auf der eine Karte von Buckow und ein Foto des Hauses projiziert waren.
»Die Kollegen Tommen und Stein überprüften gestern gegen 17.45 Uhr ein Haus in der Nähe des Kölner Damms. Einer von Tommens Informanten hatte sich gemeldet, weil dort unser letztes Mordopfer Bastiano Rojas Gallego eine Art Unterschlupf gehabt haben sollte. Da wir in Rojas’ Haus nichts gefunden haben, was uns einen Grund für seine Ermordung liefern könnte, sind die Kollegen dieser Spur nachgegangen.« Das Bild von Dennis Grahl erschien an der Wand. »Der Hausbesitzer hatte kleinere Vorstrafen und war einige Monate im Gefängnis, ist aber nicht durch Gewalttaten aufgefallen. Trotzdem trugen die Kollegen vorschriftsmäßig kugelsichere Westen und waren bewaffnet.« Eine Aufnahme des Hauses aus der Vogelperspektive wurde an die Wand projiziert. »Während Stein um das Haus ging, um die Gartenlaube zu inspizieren und einen möglichen Fluchtweg nach hinten zu verstellen, ging Tommen vorne hinein. Offensichtlich war die Tür geöffnet, was ihn veranlasst hat, das Haus zu betreten. Allem Anschein nach lief Tommen die Treppe nach oben ins Schlafzimmer und traf dort auf Dennis Grahl.« Eine Grundrisszeichnung des Schlafzimmers erschien auf der Wand. »Wir haben den Fall so gut es geht rekonstruiert, aber können nicht sicher sein, dass die folgende Schießerei so abgelaufen ist.« Bergman deutete auf eine Figur in der Ecke. »Tommen traf im Schlafzimmer auf den bewaffneten Hausbesitzer. Unser Kollege ging vermutlich zwei Schritte auf ihn zu und gab den ersten Schuss ab, der Grahl in die Brust traf. Dieser Schuss war nicht sofort letal, also ging Tommen näher an Grahl heran und versuchte wahrscheinlich, ihn zu entwaffnen, aber es gelang Grahl trotz seiner Verletzung, das Feuer zu erwidern. Tommen wurde ebenfalls in die Brust getroffen, taumelte nach hinten und fiel durch die seitliche Fensterscheibe in den Garten.« Die Luftaufnahme des Hauses erschien wieder. »Stein lief sofort zu Tommen und rief einen Krankenwagen, der sechs Minuten später eintraf.« Bergman wandte sich an Zoe, die während seines Vortrags ruhig in der ersten Reihe gesessen hatte. »Die Details der Verletzungen der Beteiligten erläutert Ihnen Dr. Diek von der Rechtsmedizin.« Der Kripochef nickte ihr zu.
Zoe betrat die Bühne. Sie trug eine schwarze Bluse und einen ebenfalls schwarzen Rock. Ihre Schuhe waren ohne hohe Absätze und ihre Haare mit einem einfachen Band im Nacken zusammengebunden. Ein Bild von Grahl erschien an der Wand. »Dennis Grahl starb an den Folgen eines Schusses in die Brust«, begann Zoe mit sachlicher Stimme. »Sein Blut wies eine geringe Menge an Alkohol auf. Wir konnten keine Drogen in seinem Organismus feststellen, ebenso wenig wurden bei der Hausdurchsuchung welche gefunden. Er wusste zu jeder Zeit, was er tat.« Die Rechtsmedizinerin atmete hörbar aus. »Bei der Verletzung von Tommen kamen mehrere unglückliche Umstände zusammen. Die aus nächster Nähe abgefeuerte Kugel durchschlug dessen Weste und drang in seine Brust ein. Die Kollegen von der Forensik überprüfen noch das Material, denn die Munition von Grahls HK sollte dazu nicht in der Lage sein.« Sie deutete auf das Haus. »Weiterhin erlitt Tommen ein schweres Schädel-Hirn-Trauma beim Sturz aus dem Fenster. Obwohl Stein sofort versucht hat, die Wunde in der Brust zu schließen, war der Blutverlust zu groß. Tommen erlag eine Stunde später im Krankenhaus seinen Verletzungen.« Zoe nickte Bergman zu und verließ die Besprechung.
Der Kripochef wandte sich wieder an die Beamten. Einige bekreuzigten sich, andere wischten sich Tränen aus den Augen. Die Bestürzung über den Tod ihres Kollegen war jedem anzumerken.
»Es gibt einiges an dem Fall, was mich misstrauisch macht«, sagte Bergman. »Das erste ist die Fixierung von Grahl auf Tommen. In einem Abstellraum haben wir zahlreiche Fotos gefunden, die Tommen in unterschiedlichen Lebenssituationen zeigen. Bei der Arbeit, beim Essen oder auch Aufnahmen in privaten Momenten. Grahl hat unseren Kollegen offensichtlich gestalkt. Bisher haben wir aber keinen Zusammenhang zwischen den beiden finden können, daher möchte ich wissen, woher der Täter seine Obsession für Tommen hatte. Weiterhin suchen wir seit gestern den Informanten, der ihm diesen Tipp gegeben hat. Der Mann scheint jedoch abgetaucht zu sein.« Er deutete auf einen Stapel Papier. »In der Kurzversion des Berichts findet ihr alles, was wir von dem Informanten wissen. Die Kollegen von der Streife sind informiert. Ich will diesen Mistkerl haben«, sagte Bergman und ballte die Faust. »Denn in Grahls Haus gab es keinen Hinweis, dass unser Mordopfer Rojas jemals dort gewesen ist. Und wenn wir den Informanten haben, lasse ich ihn erst wieder aus dem Verhörraum heraus, wenn ich alles erfahren habe.« Das Bild von Dennis Grahl erschien an der Wand. »Außerdem will ich alles über den Todesschützen wissen. Wer ist dieser Mann? Wie kommt er an eine nicht registrierte Heckler & Koch? Warum hat er diese geladen im Schlafzimmer liegen und woher kommt seine Schießwut?«, zählte Bergman auf. »Überprüft alle einschlägigen Lieferanten, bis wir den Mann haben, der ihm diese Waffe verkauft hat. Fragt jeden, der etwas mit Grahl zu tun gehabt haben könnte – und wenn es seine Kindergärtnerin ist.« Er ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen. »Morgen früh will ich das größte und vollständigste Personenprofil in der Geschichte der Kripo Berlin haben, damit wir endlich verstehen, was gestern passiert ist und warum einer von uns dafür sterben musste.«
Als er dem Mann mit einer Geraden das Nasenbein brach, spürte Chandu eine große Befriedigung. Eberhard Legner war einer der größten Drecksäcke von Berlin. Er verkaufte Waffen an Minderjährige und verschaffte schießwütigen Gangs Zugang zu automatischen Maschinenpistolen. In seiner Freizeit ging er mit Pfeil und Bogen auf die Jagd und prahlte gern damit, wie er seinen Sadismus an dem gejagten Wild auslebte. Legner war im Gegensatz zu Kusmin nur ein kleiner Fisch, den der Russe nicht mal richtig wahrnahm. Trotzdem würden sich manche in der Unterwelt fragen, warum sich Chandu für den Mord an einem Kripobeamten interessierte. Normalerweise gab er sich viel Mühe, seine Tarnung aufrechtzuerhalten, damit niemand von seiner Verbindung zur Polizei erfuhr, aber heute war es ihm egal. Er ließ alles heraus. All seine Wut, all seinen Zorn packte er in seine Fäuste. Keine Skrupel. Kein Bedauern.
Legner war ein gut durchtrainierter Mann mit Militärerfahrungen, aber gegen Chandus Urgewalt hatte er keine Chance. Der Gesichtstreffer ließ den Waffenschieber taumeln. Der große Mann setzte nach und verpasste ihm einen Sidekick in den ungeschützten Solarplexus.
Von links kam einer seiner Männer mit einer Whiskyflasche in der Hand auf Chandu zugerannt. Der große Mann bückte sich unter dem Schlag weg, legte seine Arme um ihn und hob ihn wie ein Spielzeug hoch. Drei Schritte weiter rammte er ihn mit dem Rücken auf einen Holztisch, der krachend unter ihm zerbarst. Chandu rollte sich zur Seite, griff sich ein Tischbein und schlug es auf das Knie eines weiteren heranstürmenden Mannes. Holz und Knochen brachen und der Angreifer ging schreiend zu Boden.
Vier stöhnende Männer lagen am Boden und keiner der Umstehenden schien sich in die Schlägerei einmischen zu wollen. Chandu brüllte seine Wut über das Schicksal seines Freundes heraus, was weitere Gäste dazu veranlasste, die völlig demolierte Kneipe eilig zu verlassen.
Er ging an die Theke und trank einen großen Schluck aus einer Whiskyflasche. Dann warf er sie mit aller Kraft in den großen Barspiegel, der krachend in Scherben zerbarst.
Auf dem Boden versuchte Legner ächzend, sich zu erheben, aber Chandu kniete sich ihm auf den Rücken, verdrehte dessen Arm und drückte den Mann wieder zu Boden. Der Waffendealer heulte vor Schmerz auf. »Ich fange mit einer ganz einfachen Frage an«, sagte Chandu. »Hast du einem kleinen Pisser namens Dennis Grahl eine HKSFP9 verkauft samt Hohlspitzmunition?«
»Ich kenne keinen Dennis Grahl.«
»Falsche Antwort.« Chandu verstärkte den Druck auf den Arm. Legner zappelte in seinem Griff und schrie.
»Wir bekommen Besuch«, hörte er Max’ Stimme durch seinen Empfänger im Ohr. »Ein Mustang mit Gangabzeichen hält auf die Kneipe zu. Und sollten die beiden wirklich von besagter Gang sein, kommen sie mit großen Wummen.«
Chandu reduzierte den Druck auf den Arm, was die Schreie etwas reduzierte. »Wie lange noch?«, fragte er in sein am Revers verborgenes Mikrofon.
»Zwanzig Sekunden bis zur Ankunft an der Kneipe«, sagte Max. »Du musst dich beeilen.«
Chandu widmete sich wieder dem Waffenhändler. »Dennis Grahl hat gestern einen Polizisten mit einer unregistrierten Waffe erschossen. Davon wirst du gehört haben. Ich will wissen, wo er die HK samt Hohlspitzmunition herbekommen hat, denn dazu braucht man gute Beziehungen, zum Beispiel zu Abschaum wie dir.«
»Wieso interessiert dich das?«
Chandu rammte ihm das Knie in den Rücken. »Antworte, Arschloch!«
»Ich habe nur SIG-Sturmgewehre und die P-Serie von SIG Sauer im Angebot«, jammerte Legner. »Hohlspitzmunition verkaufe ich nicht.«
»Glaube ich nicht!«, schrie Chandu und legte sein ganzes Gewicht auf das Knie.
»Versuchs bei Crowe«, flehte er. »Der steht auf den Heckler-&-Koch-Mist. Er hat auch Hartkernmunition und anderen kranken Scheiß im Programm.«
»Ich hoffe für dich, dass du mich nicht verarscht hast, Legner, sonst werde ich echt wütend.« Er schlug ihm auf den Hinterkopf. »Und wenn du Crowe was steckst, schneide ich dir dein Herz mit einem Schweizer Armeemesser raus.«
Draußen vor der Tür hörte er quietschende Reifen.
»Die freundlichen Herren sind angekommen«, sagte Max. »Und die Gewehre in ihren Händen werden sie nicht zum Hütchenschießen dabeihaben.«
Chandu sprang auf und raste zur Hintertür hinaus. »Wohin?«
»Geradeaus über den Zaun«, antwortete Max.
Chandu rannte zehn Meter und sprang auf einen hohen Drahtzaun. Die Finger in das Geflecht gekrallt, kletterte er hoch und ließ sich auf der anderen Seite hinunterfallen.
»Jetzt die Straße vierzig Meter nach rechts. Dann siehst du links die Einfahrt einer Lackiererei.« Chandu sprintete los. »Über das Metalltor und durch den Hof.« Beim Klettern vernahm er das Bellen eines Hundes.
Chandu hörte das schrille Sirren kleiner Rotoren über ihm. »Wie kannst du das mit dem Ding alles sehen?«, fragte er. »Du bist doch mindestens fünf Kilometer entfernt.«
»Nach meiner GPS-Anzeige sind es 5429 Meter«, sagte Max. »Um die Drohne auf diese Entfernung fernsteuern zu können, musste ich ihr zwei Signalbooster einbauen, aber der Akku hat genug Energie dafür. Die vier Rotoren sorgen für ein stabiles Fluggefühl, und mit der hochauflösenden Kamera kann ich auch im Dunkeln sehen, und das alles gemütlich vom Schreibtisch aus. Ist ein wenig wie bei einem Flugsimulator, nur cooler.«
Ein Mann schrie und es fiel ein Schuss, der laut durch die Nacht hallte. Chandu duckte sich kurz und beschleunigte seine Schritte.
»Keine Panik«, sagte Max. »Die beiden Jungs wissen nicht, wo du bist.«
»Wie weiter?«
»Wenn du den Jägerzaun am Ende des Hofs überquerst, kommst du zu einem unbeleuchteten kleinen Feldweg mit starkem Baumbewuchs. Dem folgst du zweihundert Meter nach rechts bis zu den S-Bahn-Schienen. Wenn du diese überquerst, müsstest du aus dem Gröbsten raus sein.«
Chandu sprang über den Zaun und rannte den Weg entlang. Für einen Moment genoss er die Bewegung an der kühlen Luft. Seine Wut verrauchte und er konnte langsam wieder klar denken. »Bis ich zu Hause bin, kannst du schon alles über einen gewissen Kilian Crowe heraussuchen. Engländer. Waffenhändler. Etwa vierzig Jahre alt. Über ihn gibt es einiges in der Kripodatenbank. Ihm werden wir als Nächstes einen Besuch abstatten.«
Es war eine schöne Kirche, eigentlich zu schön für diesen traurigen Anlass. Die Sonne erleuchtete das weiße Mittelschiff durch die lanzettförmigen Fenster. Die Sitzbänke waren mit Lilien geschmückt, gefasst mit einem schwarzen Trauerflor. Vor dem von weißen Kerzen beleuchteten Altar war ein Bild von Jan aufgestellt. Seine braunen Haare fielen ihm über die Stirn. Er war braun gebrannt und trug einen Dreitagebart. Seine grünen Augen hatten dieses besondere Glitzern, das ihn so unwiderstehlich machte. Wahrscheinlich war er bei der Aufnahme gerade aus dem Urlaub gekommen und hatte mit seinem Freund Chandu ein Bier getrunken. Neben dem Bild war der Sarg aufgebahrt. Aus heller Eiche, mit einem Kranz aus weißen Rosen geschmückt.
Bergman seufzte und ließ seinen Blick durch die sich füllende Kirche schweifen. Während sich die Gäste einen Sitzplatz suchten, erklang Orgelmusik, deren düsterer Klang die Menschen an den Grund für diesen Gottesdienst erinnern sollte. Bergman erkannte das Deutsche Requiem von Brahms.
In der ersten Reihe saßen Chandu, Max und Jans Freundin Lan. Der große Mann hatte den Arm um sie gelegt, doch ihre Tränen schienen kein Ende zu nehmen. Sie hatte ein schwarzes Taschentuch in der Hand und den Kopf gesenkt. Jans Mutter war irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff und unterhielt die Gäste, ohne zu wissen, was mit ihrem Sohn passiert war. Niemand wusste, wo Jans Vater lebte.
Bergman sah auf die Uhr. Es war elf. Die Bänke waren voll besetzt. Etliche Besucher mussten sogar stehen. Im Hintergrund klickte ein Fotoapparat. Manche hoben ihr Handy, um ein Bild zu machen. In einer Ecke war eine große Kamera aufgebaut. Selbst an einem andächtigen Moment wie diesem wollte die Presse teilhaben, zu präsent war dieser Fall in den Medien gewesen, zu bekannt Jan.
Die Orgelmusik hörte auf und Bergman ging an das Ende des Ganges zum Altar, an ein Rednerpult mit Mikrofon. Zu oft hatte er diesen Weg schon gehen müssen, und er hatte es jedes Mal gehasst. Wie auch heute. Das leise Gemurmel nahm ab, als er vor das Pult trat.
»Wir sind hier zusammengekommen, um unseres Kollegen Jan Tommen zu gedenken«, begann Bergman. »Eigentlich wollte ich darüber reden, was wir diesem Mann alles zu verdanken haben, aber es ist zu viel, selbst für einen Anlass wie diesen. Man wird zu einer anderen Zeit über seine Leistung reden und verstehen, welcher Verlust mit seinem Tod einhergeht. Ich möchte diesen Gottesdienst nicht seiner Arbeit widmen, sondern seinem Leben, seiner fröhlichen Art und seiner Leidenschaft, die wir immer an ihm bewundert haben.« Bergman räusperte sich. »Manche werden überrascht sein, dass ich ihn Jan nenne. Das mag unangemessen für einen Vorgesetzten erscheinen, aber Jan war nicht nur mein Kollege, er war mein Freund, trotz all der formellen Hindernisse und Vorschriften. Er wird nicht nur in der Kripo eine große Lücke hinterlassen, die wir niemals schließen können, sondern auch in meinem Herzen. Und so möchte ich von ihm Abschied nehmen, als Freund.« Bergman wandte sich dem Sarg zu und verneigte sich. »Der Chef der Kripo zu sein, ist nicht leicht. Man muss schwere Entscheidungen treffen, bekommt selten Lob, wenn man erfolgreich war, wird aber sofort kritisiert, wenn etwas nicht gut gelaufen ist. Man spürt die Verantwortung, die diese Position mit sich bringt immer, auch nach der Arbeit, selbst im Urlaub und in den wenigen freien Stunden, die man mit Freunden verbringen möchte. Bis dorthin wird man auf vieles vorbereitet, nur nicht auf einen solchen Moment, wenn man einen geschätzten Kollegen verloren hat, wenn man den Angehörigen die schreckliche Nachricht überbringen muss und man den letzten Weg mitgeht, jenen finalen Gang, den wir alle einmal beschreiten werden.« Bergman schloss kurz die Augen. »Mit Jans Tod sind die Straßen in Berlin wieder unsicherer geworden und das Leben in der Kripo trüber. Wir werden ihn vermissen, jeder Einzelne von uns, jeden Tag, bis auch unsere Zeit gekommen ist.« Bergman sah nach oben und die Orgelmusik setzte wieder ein. Er ging vom Pult weg, nahm neben Lan Platz und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter, während der Pfarrer nach vorne geschritten kam und mit dem Gottesdienst begann.
Am Ende der Zeremonie erwachte der Kripochef wie aus einer Trance, zu sehr bewegte ihn dieser Fall noch, zu viele Fragen waren noch offen.
Als der Sarg nach draußen gefahren wurde, erhob sich Bergman von seinem Platz. Er blieb lange stehen, auch als die Orgelmusik längst verklungen war. Ein paar Würdenträger kamen nach vorne, mit betretenem Gesicht, und schüttelten ihm die Hand. Er tauschte bedeutungslose Floskeln aus, verabschiedete sich höflich und verließ die Kirche durch den Hintereingang. Draußen lehnte er sich an eine Eiche und schloss die Augen. Er brauchte einen Moment der Ruhe, um all diesen Wahnsinn vergessen zu können. Er gönnte sich einen kurzen Spaziergang, vorbei an einem Spielplatz mit umhertobenden Kindern, zur nächsten Straßenecke, wo ein bärtiger Mann mit Wollmütze Getränkekästen in einen Kebabladen trug.
Er ließ sich Zeit, bis er sicher sein konnte, dass niemand mehr in der Kirche war. Dann ging er zurück, setzte sich in sein Auto und machte sich auf den Weg.
Chandu rieb sich über die noch immer schmerzenden Fingerknöchel, als er draußen an dem Seiteneingang der Charité stand und Zoe beim Rauchen beobachtete. Sie trug einen weißen Arztkittel über ihren blauen Jeans und weiße Pantoletten, die unpassend an ihr aussahen, bevorzugte sie doch modische hochhackige Schuhe. Aber selbst Zoe musste sich an die Hygienevorschriften des Krankenhauses halten. Max war in sein Handy vertieft und tippte abwesend mit seinem Fuß auf den schmutzigen Waschbetonplatten, als würde in seinem Kopf ein Lied ablaufen, das nur er hören konnte.
Er vermisste die Leichtigkeit von früher, die Neckereien, das unbeschwerte Zusammensein, aber es war in den letzten Tagen zu viel passiert, als dass sie diese Fröhlichkeit heucheln konnten. Vielleicht würde es nie wieder so werden.
Bergman kam über den schmalen Seitenweg vom Parkplatz zu ihnen. Er trug einen dunklen Anzug mit schwarzer Krawatte und einen anthrazitfarbenen Mantel. Er hatte seine Hände in den Taschen und hielt den Kopf gesenkt, abwesend, als würde er seinen eigenen Gedanken nachgehen, entrückt von der Welt um ihn.
»Das war wirklich rührend«, begrüßte Zoe den Kripochef. »Max hatte das Handy angeschaltet, sodass ich Ihre Rede mitverfolgen konnte.« Sie wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge. »Wenn Sie diese Ansprache bei meinem Begräbnis gehalten hätten, wäre ich aus dem Sarg aufgestanden und hätte Sie weinend umarmt.«
»Schön, dass es Ihnen gefallen hat«, sagte Bergman mürrisch. »Mir wäre es lieber gewesen, jemand anderes hätte diese Aufgabe übernommen, aber in der momentanen Lage ist mir nichts übrig geblieben.« Er kickte einen Kieselstein aus dem Weg. »Affenzirkus.«
»Lasst uns reingehen«, sagte Zoe und schnippte ihre Zigarette weg. Sie führte die drei eine kaum beleuchtete Treppe nach unten, durch einen schmalen Gang, dessen dunkelblaues Laminat verschlissen war. Große Rohre verliefen unterhalb der niedrigen Decke und weißer Putz wies auf frisch verlegte Kabelschächte hin. Niemand begegnete ihnen dort. Keine Ärzte, kein medizinisches Personal oder Angestellte von der Verwaltung.
Am Ende des Gangs öffnete Zoe eine große Metalltür, hinter der man eher einen Lagerraum erwartete, aber sie kamen in ein großes, hell erleuchtetes Krankenzimmer mit dunkelgrauem Laminat auf dem Boden, an dessen Ende ein Bett stand. Der Raum war fensterlos, mit hellgelben Wänden und langen Neonröhren an der Decke. Lan saß auf einem kleinen Hocker, einen Mundschutz vor dem Gesicht, und hielt Jans Hand. Sie sah kurz auf, als die vier eintraten, dann wandte sie sich wieder ihrem Freund zu. Ein Tubus führte durch seinen Mund bis in die Lunge. Er trug einen Verband um den Kopf und seine Augen waren geschlossen. Hinter dem Bett war eine Vielzahl an Überwachungsgeräten aufgebaut. Ein Bildschirm zeigte seinen Herzschlag und seine Sauerstoffsättigung an. Ein dünner Infusionsschlauch führte von einem Beutel mit durchsichtiger Flüssigkeit in eine Vene seiner rechten Hand. Eine weiße Decke war ihm bis auf die Brust hochgezogen. Am Kopfende stand ein fahrbarer Beistelltisch mit Defibrillator, einem weiteren Monitor und einer Packung mit Plastikhandschuhen. Es roch nach einem chemischen Reinigungsmittel, mit dem das Zimmer gewischt wurde.
»Wie geht es ihm?«, fragte Chandu, während er sich die Hände mit einer Desinfektionslösung einrieb.
»Er liegt noch immer im Koma«, antwortete Zoe leise mit Blick auf Lan. »Der Blutverlust zusammen mit dem Schädel-Hirn-Trauma war zu viel. Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat.«
»Und der Treffer in die Brust?«
»Zwei Zentimeter weiter rechts und es wäre das Herz gewesen.«
»Was sagt der Neurologe?«
»Er wagt keine Prognose. Niemand weiß, ob er überhaupt noch mal aufwacht.« Die Rechtsmedizinerin sah besorgt zu Jan. »Bei diesem Zustand sollte man nicht auf eine vollständige Genesung hoffen, weil wir nicht absehen können, wie schwer die Kopfverletzung ist.« Sie ging in einen kleinen Nebenraum. Auf einem Esstisch aus der Kantine lagen Röntgenbilder und Notizen verstreut. Kaffeetassen stapelten sich auf einem Tablett. Ein angebissenes Croissant trocknete auf einem Teller vor sich hin. An der Wand stand eine kleine Schlafliege mit einer Decke und einem zerwühlten Kopfkissen. Daneben lag ein Koffer, in dem Zoe ihre Kleidung aufbewahrte. Am Rand eines kleinen Waschbeckens befanden sich ein Becher mit einer elektrischen Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta.
Seit man Jan ins Krankenhaus gebracht hatte, war ihm die Rechtsmedizinerin kaum mehr von der Seite gewichen. Sie sah müde aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, als würde sie nicht viel Schlaf bekommen. Normalerweise beschwerte sie sich schon, wenn ihr Kaffee eine Winzigkeit zu kalt war, wenn es regnete oder eine Leiche in ihrer ausgedehnten Mittagspause angeliefert wurde. Aber obwohl sie seit Tagen in dem kleinen Kabuff übernachten musste, hatte sie sich nicht einmal beklagt. Sie würde bei ihm bleiben, solange es nötig war, egal wie lange es dauern würde, und obwohl sie sonst ein luxuriöses Leben führte, schien sie unter diesen Umständen nichts zu vermissen. Sie nahm auf der Liege Platz. Bergman setzte sich auf den Stuhl am Tisch, während Max und Chandu sich an die Wand lehnten.
»Ich habe kein gutes Gefühl dabei«, sagte Bergman. »Ich muss Leute belügen, mit denen ich schon seit Jahrzehnten zusammenarbeite und denen ich mein Leben anvertrauen würde. Von der Show, die ich vor einer Stunde in der Kirche abgezogen habe, will ich gar nicht reden. Das fliegt irgendwann auf.«
»Wir müssen Jan so lange wie möglich heraushalten«, mahnte Chandu. »Das war kein zufälliger Schusswechsel.«
»Uns fehlen noch einige Puzzleteile«, sagte Bergman. »Es kann Wochen dauern, bis wir einen Durchbruch haben.«
»Dann ist es so«, sagte der große Mann bestimmt. »Jeder Tag hilft.«
»Wie viele Personen vom Krankenhaus sind eingeweiht?«
»Ein paar«, sagte Zoe. »Der Unfallchirurg, der ihm mit der Operation das Leben gerettet hat. Dann der Neurologe, der sich um die Kopfverletzung kümmert, und zwei Krankenschwestern, die mir bei der Versorgung helfen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe mit jedem persönlich geredet und ich bin zuversichtlich, dass unser Geheimnis gewahrt bleibt, aber völlig sicher können wir nicht sein.«
»Können wir uns vielleicht auf den neusten Stand bringen?«, fragte Max. »Ich verliere langsam den Überblick, was ich in der Kripo preisgeben darf und was nicht.«
»Seit gestern Abend habe ich eine Spur zu einem Waffenhändler, der die Tatwaffe und die Hohlspitzmunition geliefert haben könnte«, erklärte Chandu. »Hat etwas Überzeugungsarbeit gebraucht.« Er rieb sich über den Knöchel.
»Ach, Sie waren das in dieser Kneipe in Wedding?«, fragte Bergman.
Der große Mann zuckte die Achseln. »Hat keinen Unschuldigen getroffen.«
»Dann ist ja gut.« Bergman wandte sich an Max. »Offiziell starb Jan bei der Schießerei. Dennis Grahl besaß illegalerweise eine Pistole, mit der er auf Jan geschossen hat, obwohl er von ihm schon getroffen worden war. Jans kugelsichere Weste war fehlerhaft, daher drang das Geschoss in sein Herz und tötete ihn. Grahl erlag ebenfalls seinen Verletzungen. Warum es zur Schießerei gekommen ist, bleibt unklar.«
»Tatsächlich haben weder Jan noch Grahl geschossen«, sagte Zoe. »Ich habe an den Händen beider keine Schmauchspuren gefunden und keiner von ihnen hat Handschuhe getragen.«
»Also gab es noch mindestens einen dritten Beteiligten«, sagte Chandu.
»Dazu passen auch Jans Kopfwunden, die nicht vom Sturz herrühren können«, fuhr Zoe fort. »Ich habe dunkel gefärbte Aluminiumpartikel extrahieren können, die ich einem Teleskopschlagstock zuordnen würde.«
»Das erklärt die kleinen Blutspritzer in der Mitte des Schlafzimmers, die nicht von den Schusswunden kommen können«, ergänzte Bergman.
»Laut DNA-Test war das Blut von Jan.«
»Warum ist er in das Schlafzimmer hineingegangen und nicht draußen geblieben?«, fragte Max.
»Er konnte von der Tür aus das ganze Schlafzimmer einsehen«, sagte Bergman. »Daher stand Grahl nicht mit gezogener Pistole in dem Raum und hat auf ihn gewartet, sonst wäre Jan zurückgewichen, hätte Deckung gesucht und Verstärkung angefordert.« Er sah zu Zoe. »Das unterstützt Ihre Theorie, dass Grahl nicht der Schütze war.«
»Im Schlafzimmer gab es keine Versteckmöglichkeit und Jan war vorsichtig«, sagte Chandu. »Wäre außer Grahl noch eine weitere Person darin gewesen, wäre er nicht ungedeckt hineingegangen.«
»Ich weiß es«, sagte Zoe grinsend. »Seit heute Morgen.«
Die Köpfe der drei Männer wandten sich ihr zu.
»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Bergman stirnrunzelnd.
Die Rechtsmedizinerin ging an den Schreibtisch und nahm einen Ausdruck zur Hand. »Genial, wie ich nun mal bin, habe ich Grahl nach Feststellung des Todes sofort Blut abgenommen und für eine spätere Analyse eingefroren.« Sie deutete auf das Papier. »Und weil ich so geistesgegenwärtig reagiert habe, konnte ich darin Spuren von Gamma-Hydroxybuttersäure feststellen.«
»K.-o.-Tropfen«, bemerkte Bergman.
Zoe nickte.
»Mit dem Zeug im Blut konnte Grahl kaum aufrecht stehen«, sagte Chandu. »Mit Sicherheit war er nicht fähig, eine Waffe zu halten oder abzufeuern.«
»Und deswegen ist Jan in den Raum gegangen«, sagte Max. »Er hat den schwankenden, hilflosen Grahl gesehen.«
Bergman erhob sich vom Stuhl und stellte sich in die Mitte des Raumes mit dem Rücken zum Eingang. »Gut zwei Meter im Raum hat die Forensik die feinen Blutspritzer am Boden gefunden.«
»Hinter der Tür konnte sich niemand verstecken«, sagte Chandu. »Also hat der Täter außerhalb gelauert und gewartet, bis Jan drinnen war.«
»Entweder im Abstellraum oder im Bad«, sagte Max.
»Genau sagen können wir es nicht, denn die Forensik hat in beiden Zimmern keine Spuren einer dritten Person finden können«, ergänzte Bergman.
»Jan ist auf Grahl fokussiert, der wie ein Betrunkener schwankt. Der Täter schleicht sich unbemerkt von hinten an und verpasst Jan zwei Schläge auf den Kopf.« Chandu deutete die Hiebe auf Bergman an. »Jan geht zu Boden. Der Unbekannte hebt seine Waffe auf und erschießt Grahl.« Er zeigte mit dem ausgestreckten Finger in die Ecke.
»Jans Kopfwunden bluten stark und er hat eine Gehirnerschütterung. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch auf den Beinen ist«, sagte Zoe. »In seinem Zustand kann er nicht verhindern, dass der Angreifer seine Pistole verwendet. Er ist wehrlos.«
»Jan taumelt vorwärts zum Fenster.« Bergman ging bis zur Wand. »Dann dreht er sich zum Schützen um, der ihn mit Grahls Waffe anschießt.«
»Die Kugel durchschlägt Jans Weste«, fährt Chandu fort. »Der Aufprall schleudert ihn durch die Scheibe und er fällt in den Vorgarten.«
»Glücklicherweise war der Boden nach einer regnerischen Nacht feucht«, sagte Zoe. »Auch stürzt Jan auf den rechten Arm und die Schulter, die zwar heftig geprellt wird, ihm aber eine weitere schwere Kopfverletzung erspart.«
»Kurz darauf kommt Patrick an«, sagte Max. »Er rennt in den Garten, sieht Jan am Boden liegen und wählt den Notruf. Bis der Krankenwagen eintrifft, kümmert er sich um seinen verletzten Partner. Währenddessen kann unser Unbekannter unbemerkt das Haus verlassen, da Patrick den Eingangsbereich von seiner Position unter dem Fenster nicht einsehen kann. Bis der Notarzt eintrifft, ist unser Mann über alle Berge.«
Eine Zeit schwiegen die vier, als müsste jedem erst bewusst werden, was wirklich in dem Haus passiert war. Jan und Patrick hatten Grahl eigentlich nur befragen wollen. Am Ende war dieser tot und Jan schwer verletzt.
»Was ist mit dem Informanten, der Jan den Hinweis gegeben hat?«, fragte Max.
»Trotz Fahndung bleibt er ein Geist«, erklärte Bergman.
»Welchen Grund hatte er, ihn in die Falle zu locken?«, fragte Chandu.
»Gar keinen«, erklärte der Kripochef. »Jan hat ihm geholfen, von einem aggressiven Dealer wegzukommen und clean zu werden. Er verdankt ihm sein Leben.«
»Wahrscheinlich war er nur ein Köder«, sagte Max. »Wenn auch vermutlich nicht freiwillig.«
»Ich rechne nicht damit, dass wir den Informanten lebend finden, wenn wir ihn überhaupt finden.«
»Wir sind mit den komischen Dingen noch nicht fertig.« Zoe durchwühlte ihre Unterlagen und zog ein Papier heraus. »Ich konnte bei Grahl Fesselspuren an den Handgelenken feststellen. Nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber der Hausbesitzer wurde wohl schon Tage zuvor von unserem Täter überwältigt und seither gefangen gehalten.«
»Die Nachbarn haben nichts bemerkt«, sagte Bergman. »Wir haben jeden Bewohner des Straßenzugs befragt und sogar die Postboten, aber nicht einem ist irgendetwas Ungewöhnliches um das Haus aufgefallen.«
»Und dass Grahl tagelang verschwunden war?«, fragte Max.
»Unser Opfer war kein freundlicher Mensch, daher hatte kaum jemand mit ihm zu tun«, erklärte Bergman. »Er bezog Hartz 4 und ging nicht zu geregelten Arbeitszeiten aus dem Haus.«
»Die nächste Merkwürdigkeit ist die unregistrierte Waffe mit Hohlspitzmunition, die nicht zu einem Kleinkriminellen wie Grahl passt«, ergänzte Chandu. »Eine Pistole im Haus verstehe ich, auch eine geladene, aber es gibt billigere Modelle als die Heckler & Koch, und für Hohlspitzmunition muss man gute Verbindungen haben. Die kriegt man nicht beim kleinen Dealer auf der Straße.«
»Außerdem ergibt diese Art von Geschoss nur Sinn, wenn ich weiß, dass mein Gegenüber eine kugelsichere Weste trägt«, ergänzte Bergman. »Um jemanden ohne zu töten, reicht normale Munition.«
»Wir wissen, was im Haus passiert ist«, sagte Chandu. »Aber ich habe keine Ahnung, warum.«
»Es ist ja nicht so, dass Jan keine Feinde hat«, bemerkte der junge Hacker.
»Es kommen einige Kriminelle infrage, aber die meisten von ihnen sind harte Jungs«, sagte Chandu. »Die würden mit einer Schrotflinte vor seiner Wohnung warten, aber sich nicht solche Mühe geben. Das war ein ausgeklügelter Plan, und würden wir nicht sehr genau hinsehen, hätte man Grahl als Angreifer ermittelt und den Fall eingestellt.«
»Ich habe auch was Eigenartiges«, sagte Max. »Genau genommen sogar drei Dinge.« Er griff in seine Tasche und holte ein kleines Gerät heraus, kaum größer als ein Daumennagel. »Das ist ein GPS-Tracker. Mit ihm lässt sich bis auf wenige Meter genau der Standort eines Objekts feststellen.« Er legte das Gerät auf den Tisch. »Das Ding ist der neuste geile Scheiß in der Szene. Batterie für einhundertzwanzig Stunden, mehrfach verschlüsseltes Signal und eine Präzision von unter einem Meter.«
»Wo wurde das gefunden?«, fragte Chandu.
»An Jans Auto.«
»Und wie lange war es dort?«, fragte Bergman.
»Nach der Batterielaufzeit zu schließen, weniger als drei Tage.«
»Und was ist das Zweite?«, fragte Zoe.
»Wie ihr wisst, haben sich in besagtem Abstellraum zahllose Fotos befunden, von Jan in den unterschiedlichsten Situationen. Fast wie bei einem Stalker.«
»Die meisten wurden während der Arbeit außerhalb der Dienststelle aufgenommen«, ergänzte Bergman.
»Wir haben keine Kamera im Haus gefunden. Auch keinen Computer, sondern nur einen Farbdrucker, der über Bluetooth gesteuert wurde.«
»Die Forensiker sind der Meinung, dass die Bilder mit einem Handy aufgenommen wurden«, sagte Bergman.
»Welches aber ebenfalls nicht gefunden wurde«, ergänzte Max. »Daher habe ich mir die Bilder genauer angesehen. Einige davon wirkten, als wäre die Qualität künstlich reduziert worden, um die Illusion eines Handyfotos aufrechtzuerhalten. Daraufhin habe ich mich mit Patrick zusammengesetzt und versucht, zu jedem Bild ein Datum und eine ungefähre Uhrzeit zu ermitteln. Und jetzt kommt es«, sagte Max. »Zwei der insgesamt achtzehn Bilder wurden nicht von Grahl aufgenommen, weil er zu dieser Zeit zu Hause war und nicht bei Jans Lieblingsdönerladen in Tempelhof. Das war vor einer Woche.«
»Woher wissen wir, wo Grahl war?«, fragte Zoe.
»Weil er an diesem Mittag Stress mit einer Politesse hatte, die sein verkehrswidrig geparktes Auto aufgeschrieben hat«, sagte Max. »Sie konnte sich noch gut an Grahl erinnern, weil dieser angetrunken aus einer Kneipe gestürmt kam und wenig schmeichelhafte Worte über die Frau vom Ordnungsamt verloren hat. Das hat ihm einen Strafzettel eingebrockt, der minutengenau festgehalten wurde.«
»Also hat jemand anders die Fotos gemacht und bei Grahl aufgehängt, um den Eindruck zu erwecken, dass es etwas Persönliches ist.«
Der junge Hacker nickte. »Und damit komme ich zu meinem letzten Ungewöhnlichen. Nämlich den Kleberrückständen über der Eingangstür und vor dem Schlafzimmer.«
»Was für Kleberrückstände?«, wunderte sich Chandu.
»Die Forensiker haben an zwei Stellen im Haus Reste von Cyanacrylat gefunden. Etwa in der Größe einer Eineuromünze.«
»Was ist an Sekundenkleber ungewöhnlich?«, wunderte sich Zoe.
»Dass er frisch war und dass darin Reste von Plastik gefunden wurden«, sagte Max. »In der Höhe wird es kaum ein Kleiderhaken gewesen sein. Außerdem war die Fläche zu klein, um etwas wirklich Schweres zu befestigen.«
»Eine Überwachungskamera?«, vermutete Chandu.
»Bingo.« Max deutete mit dem Finger auf ihn.
»Wie kommst du darauf?«, wunderte sich Zoe.
»Weil Max von den Dingern einige bei sich herumliegen hat, sie aus Plastik sind und kaum so groß wie mein Finger, was von der Größe passen könnte«, erklärte der große Mann. »Außerdem musste der Angriff auf Jan ein gutes Timing haben. Auf der Treppe nach oben oder im Türrahmen des Schlafzimmers hätte Jan einen Späher vielleicht bemerkt. Und da sowohl die Badtür als auch die Tür zum Abstellraum nicht einmal ein Schlüsselloch hatten, benötigte der Täter eine andere Möglichkeit, um die Geschehnisse im Haus zu sehen.«
»Aus dem Kamerawinkel der zwei Standpunkte kann man damit den Eingang, die Treppe und das Stück vor dem Schlafzimmer lückenlos überwachen«, sagte Bergman.
»Was wäre passiert, wenn Patrick in das Haus gegangen wäre und Jan in den Garten nach hinten?«, fragte Zoe. »Wäre dann Patrick das Opfer geworden?«
»Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht«, gab der Kripochef zu. Er fuhr sich nachdenklich über das Kinn. »Aber zwei Dinge sprechen für Jan als Ziel.« Er hob einen Finger. »Erstens war es sein Informant, der ihn in die Falle gelockt hat. Je nach Laune geht Jan auch alleine zu solchen Überprüfungen, daher konnte man nicht unbedingt damit rechnen, dass ein Kollege mitkommt. Und zweitens«, Bergman hob einen weiteren Finger, »Jan ist einer unserer schlechtesten Läufer.«
Chandu runzelte die Stirn. »Den Zusammenhang verstehe ich nicht.«
»Vor Jahren haben Jan und drei Kollegen von der Kripo ein Haus überprüft, um einen Haftbefehl zu vollstrecken. Sie kamen von allen vier Seiten. Jan sollte von hinten eindringen, doch kaum hatte er die Terrasse erreicht, sprang der Gesuchte an ihm vorbei und rannte davon. Jan rief nach seinen Kollegen und verfolgte den Flüchtenden.« Bergman lächelte, als er daran dachte. »Um es kurz zu machen, Jan hätte den Mann niemals eingeholt. Nur weil seine Kollegen gut trainierte Läufer waren, konnten sie ihn schließlich fassen.« Er wandte sich wieder dem großen Mann zu. »Seit diesem Tag geht Jan immer von vorne herein und die laufschnelleren Kollegen bewachen die wahrscheinlichen Fluchtwege.«
»Sie wissen, was das bedeutet.«
Bergman nickte. »Dass unser Täter sehr gut über Jan Bescheid wusste, bis hin zu Interna der Kripo.«
»Es war eine perfekt inszenierte Falle«, schloss Chandu.
»Und wer immer diese eingefädelt hat, ist klug und hat sehr viel Zeit in die Planung investiert«, fuhr Bergman fort. »Wir müssen herausfinden, wer dafür verantwortlich war, sonst gerät Jan ein weiteres Mal ins Visier, und wir haben keine Ahnung, von wo der Angriff kommen wird.«