Kapitel 6
Lan saß im Schneidersitz auf dem Stuhl neben dem Bett. Ihre Freundin hatte sie über die letzte Vorlesung informiert, sodass sie den Stoff nacharbeiten konnte, ohne an die Uni gehen zu müssen. Sie las gerade ein Kapitel über Normen und Fehlerabschätzungen, als sich Jans Kopf zur Seite drehte. Sie sah hoch. Er hatte noch immer die Augen geschlossen, aber dann bewegte sich sein Arm. Lan legte das Buch zur Seite und sprang von ihrem Stuhl auf. Sie strich ihm sanft über die Wange. »Hörst du mich?«, fragte sie leise. Sie küsste ihn auf die Stirn. »Sag irgendetwas.«
Er gab ein mürrisches Brummen von sich, ein Geräusch, das er immer machte, wenn er eine frühe Schicht hatte und nicht aufstehen wollte. »So hell«, sagte er krächzend.
Lan rannte zum Eingang und knipste die Neonröhren aus. Nur ihre Leselampe spendete noch Licht.
»Wie fühlst du dich?« Lan war zurückgelaufen und hatte seine Hand in die ihre genommen. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.
»Müde. Durstig.«
Sie nahm ein Glas Wasser vom Tisch, hob seinen Kopf an und ließ ihn vorsichtig trinken.
»Danke«, erwiderte er nach zwei Schlucken. Seine Stimme war weniger rau. Er öffnete die Augen und sah sich um. »Wie lange liege ich schon hier?«
»Neun Tage.«
Die Tür ging auf und Zoe kam herein. »Jetzt bin ich nur mal kurz eine rauchen und dann das.« Sie stellte sich neben das Bett und fühlte seinen Puls. Dann zog sie eine kleine Taschenlampe aus ihrem Kittel und leuchtete seitlich in seine Augen.
»Muss das sein?«, murrte Jan.
»Klappe«, antwortete Zoe. »Und zu mir sehen.«
Jan stöhnte, tat aber, wie ihm geheißen.
»Sieht gar nicht mal so schlecht aus«, murmelte die Rechtsmedizinerin und steckte die Taschenlampe wieder weg. »Ich hole den Neurologen, damit er dich untersucht. Vielleicht sind nach deinem Schädel-Hirn-Trauma noch ein paar Gehirnzellen übrig geblieben.« Sie lief aus dem Zimmer und knallte die Tür zu.
»Immer schön mit ihr«, murmelte Jan.
»Sie ist dir eine gute Freundin«, sagte Lan. »Auch wenn sie es nicht zeigen kann.«
»Ich weiß. Aber sie geht mir halt manchmal auf den Sack.«
Sie küsste und umarmte ihn. »Es werden sich eine Menge Leute freuen, dass du wieder wach bist.«
Er legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Sie konnte spüren, wie schwach er noch war. »Was ist die letzten Tage passiert?«
»Du solltest dich erst mal ausruhen, bevor du wieder an die Arbeit denkst.«
»So lange habe ich noch nie geschlafen.«
»Im Koma liegen ist etwas anderes«, antwortete Lan. »Erst untersuchen dich die Ärzte, dann sehen wir weiter.«
»In Ordnung.« Er streichelte ihr über die Schulter und schloss gähnend die Augen. Einen Moment später war er wieder eingeschlafen, aber dieses Mal lag ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Wenn Bergman sich ohne Jackett und mit gelöster Krawatte vor seine Mitarbeiter stellte, wusste man, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Kripochef hatte nur zwei Stunden auf der kleinen Couch in seinem Büro geschlafen, wirkte aber trotzdem ausgeruht und voller Tatendrang.
Der Besprechungsraum war bis auf den letzten Platz besetzt und nach dem üblichen »Guten Morgen« kehrte schnell Ruhe ein.
»Gestern sollte sich Tony Mazur mit dem Schläfenmörder treffen«, begann Bergman. »Während des Treffens kam es zu einer starken Detonation. Der Funkkontakt zu Mazur brach jäh ab, sowohl zu seinem Mikrofon wie auch zu seinem GPS-Sender. Wir waren mit allen verfügbaren Kräften vor Ort und haben jetzt, zwölf Stunden später, die ersten Ergebnisse.« Er nickte Patrick zu, der sich von seinem Platz erhob.
»Die wichtigste Info vorab: Tony Mazur lebt und ist geflohen.« Die Zuhörer wurden unruhig. Gemurmel erhob sich, und es dauerte eine Minute, bis sich alle wieder beruhigt hatten.
»Der offensichtlichste Grund für diese Annahme ist, dass wir keine Leiche gefunden haben«, fuhr Patrick fort. »Dank unserer Freunde von der Feuerwehr, die uns noch in der Nacht Zugang zum Gebäude verschafft haben, konnten wir Mazurs Flucht rekonstruieren.« Eine Skizze des Grundrisses wurde an die Wand projiziert. »Mazur ging den Vordereingang hinein. An der Tür waren die Kette und ein Vorhängeschloss bereits entfernt.« Patrick deutete auf einen Punkt auf dem Plan. »Hier war ein Pfeil mit Leuchtfarbe an die Wand gemalt, der in westliche Richtung zu einem Nebenraum deutete. Doch anstatt in den Raum zu gehen, nahm Mazur eine Metalltreppe nach unten in den Keller. Zwischen dem Pfeil und dem Nebenraum stand zu dieser Zeit schon ein Ölfass mit Brandbeschleuniger, das an einen ferngesteuerten Zünder angeschlossen war. Sowie sich Mazur in sicherer Entfernung befand, wurde die Bombe ausgelöst. Zu diesem Zeitpunkt sind wir davon ausgegangen, dass Mazur dabei umgekommen ist, da die Explosion erheblichen Schaden angerichtet hat.« Patrick deutete auf Max, der von seinem Platz aufstand und sich den Zuhörern zuwandte.
»Fast gleichzeitig ging der Kontakt zu Mazurs Mikrofon und seiner Fußfessel verloren«, sagte er. »Durchaus logisch, wenn man bedenkt, dass er bei der Explosion getötet worden wäre. Aber ich habe mir die Aufnahmen nochmals angesehen und mit dem Signal der Fußfessel synchronisiert. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Kontakt 1,4 Sekunden vor der Explosion abgerissen ist.«
»Das war das erste Verdachtsmoment in dieser Nacht, welches durch das Fehlen einer Leiche schließlich erhärtet worden ist«, ergänzte Patrick.
»Leider habe ich diese Überprüfung erst eine Stunde später gemacht, als ich mir die Aufnahmen von Mazurs Mikrofon angehört habe.«
»Bis dahin sind wir davon ausgegangen, dass Mazur in eine Falle gelaufen und bei der Explosion ums Leben gekommen ist.« Patrick wandte sich wieder dem Grundriss zu. »Schließlich fanden wir einen langen Gang, der in nordwestliche Richtung bis zur Grundstücksgrenze verlief und durch eine Art Tor an die Oberfläche führte.« Er deutete auf einen Punkt in der linken oberen Ecke. »Das Tor war verrostet und schien schon Jahrzehnte nicht mehr benutzt worden zu sein, aber sowohl der Riegel als auch die Scharniere waren gut geölt, sodass Mazurs Flucht in der ersten Hektik nach der Explosion unbemerkt geblieben ist.« Die Karte des Industriegebiets erschien an der Wand. »Von dort aus waren es nur ein paar Meter zum schmalen Waldstreifen an den Gleisen, wo Mazur ungesehen verschwinden konnte, da unsere Konzentration auf dem Gebäude lag.«
Patrick wandte sich wieder den Zuhörern zu. »Was können wir aus alledem schließen?« Er hob einen Finger. »Erstens war die Flucht geplant und zwar sehr gut. Mazur hätte das niemals allein hinbekommen, daher hatte er zumindest einen Helfer, der die Explosion vorbereitet und das Gebäude präpariert hat. Die Bombe wurde mithilfe eines Handys ausgelöst, das für Mazur wahrscheinlich hinterlegt worden war, ebenso wie ein sehr scharfes Messer, mit dem er seine Fußfessel lösen konnte.« Patrick hob einen weiteren Finger. »Zweitens haben wir keine Ahnung, wie Mazur dies in den zwei Tagen seines Freigangs alles hat arrangieren können. Wir wissen nur, dass das angebliche Treffen mit dem Schläfenmörder vorgetäuscht war und ausschließlich seiner Flucht gedient hat.«
Bergman ging wieder nach vorne. »Wir sind nicht nur in dem Fall des Schläfenmörders keinen Schritt weitergekommen, wir haben auch einem wichtigen Mann des organisierten Verbrechens die Flucht ermöglicht. Das wird uns eine Menge Probleme einbringen. Damit meine ich nicht die Staatsanwaltschaft, der wir garantiert haben, dass Mazur nach drei Tagen wieder zurück ins Gefängnis geht.« Er schwieg für einen Moment, als mache er sich noch einmal die Folgen bewusst. »Momentan weiß die Öffentlichkeit noch nichts von der Flucht. Die Explosion wird als Verkettung unglücklicher Umstände verkauft. Da das Industriegebäude verlassen war und niemand zu Schaden gekommen ist, hält sich das Interesse in Grenzen.« Bergman nickte Patrick zu.
»Wir haben möglicherweise Spuren von Mazur gefunden, aber nur vom Gebäude zu den Gleisen«, fuhr er fort. »Von da an wissen wir nicht, wie Mazur weiter geflohen ist, vermuten aber, dass er durch das kurze Waldstück in das nahe Wohngebiet gelaufen ist.« Er deutete auf einen Punkt auf der Karte. »Aufgrund der guten Vorbereitung seiner Flucht gehen wir davon aus, dass Mazur von einem Helfer mit Auto erwartet wurde. Da die Seite des Industriegebiets von Einsatzkräften abgesperrt war, kann dies nur im bewohnten Teil von Lichtenrade gelungen sein.«
»Die starke Explosion hatte den Vorteil, dass die Bürger der Region aufgeschreckt worden sind«, sagte Bergman. »Viele Menschen haben sich auf die Straße begeben, um nach der Ursache zu sehen. Vielleicht hat einer von ihnen Mazur bemerkt. Möglicherweise sogar, wie er in ein Auto gestiegen ist.« Er deutete auf Patrick. »Kollege Stein wird die Befragung der Bürger koordinieren.«
»Wir beginnen dabei mit den Häusern, die den Gleisen am nächsten sind, und arbeiten uns in nördliche Richtung vor.«
»Außerdem will ich eine Rundumüberwachung aller Verkehrsknoten«, sagte Bergman. »Die Kollegen an den Bahnhöfen und Flughäfen sind schon informiert. Auch werden wir an den großen Zufahrtsstraßen Fahrzeugkontrollen durchführen. Schließlich durchsuchen wir Mazurs bevorzugte Plätze, angefangen von dem italienischen Restaurant, in dem seine angebliche Kontaktaufnahme mit dem Schläfenmörder begonnen hat, bis zur Bar in der Brunnenstraße. Außerdem will ich den Mann haben, der ihn mit seinem BMW dorthin gefahren hat.«
Er nickte den Frauen und Männern im Besprechungsraum zu. »Gute Jagd.«
»Offiziell bin ich also tot«, sagte Jan kauend. Der Dönerteller auf seinem Schoß roch stark nach Knoblauch und das Aroma hatte sich in dem fensterlosen Raum schnell verbreitet.
»So weit davon entfernt warst du nicht«, bemerkte Zoe. Die Rechtsmedizinerin hatte ihren Stuhl demonstrativ drei Meter weit weggestellt. »Etwas mehr rechts hätte dich die Kugel ins Herz getroffen und dein Schädel-Hirn-Trauma war auch nicht ohne.«
»Und ihr habt es den Leuten als Schießerei zwischen mir und Grahl verkauft?«
»Wir haben schnell gemerkt, dass da etwas faul war«, sagte Chandu, der neben dem Bett an der Wand lehnte. »Aber wir erkannten auch die Handschrift eines Profis. Hättest du dann normal im Krankenhaus gelegen, hätte das Risiko bestanden, dass der Fallensteller einen zweiten Versuch wagt.«
»Außerdem wollten wir ihn in Sicherheit wiegen, damit wir in Ruhe ermitteln können«, sagte Max.
»Habt ihr eine Spur gefunden?«
»Weder zu deinem Fall noch zum Schläfenmörder«, sagte Chandu. »Und man kann nicht behaupten, dass wir während deiner Abwesenheit untätig waren.«
»Klärt mich auf«, sagte Jan lächelnd.
Der große Mann sah zu Zoe, die nur die Augenbrauen hochzog. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte er. »Du bist gerade mal ein paar Stunden wach.«
»Außerdem sind die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen«, sagte Zoe. »Deine Schusswunde scheint so weit okay zu sein, aber das Schädel-Hirn-Trauma müssen wir noch beobachten.«
»Ich fühle mich gut«, sagte Jan.
»Du kannst noch nicht einmal alleine pinkeln gehen, und der Stinkedöner ist seit Tagen die erste feste Nahrung, die du zu dir nimmst«, widersprach die Rechtsmedizinerin.
»Ich stehe nicht auf und spaziere zur Dienststelle«, sagte Jan. »Aber die Infos zum Fall werden mich nicht umbringen.«
»Na gut.« Chandu nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. »Fangen wir mit der Schießerei im Haus von Dennis Grahl an.«
Als Patrick in Bergmans Büro kam, saß der Kripochef auf der Couch, eine Tasse mit Kaffee in der Hand, und blätterte durch die neusten Berichte auf seinem Schoß.
»Haben Sie einen Moment?«
Bergman nickte und legte die Akten zur Seite. Er blinzelte müde und unterdrückte ein Gähnen.
»Sie sollten nach Hause gehen und schlafen«, sagte Patrick.
Der Kripochef lachte. »Sie sehen auch nicht mehr aus wie der Frühling, Stein.«
»Ich bin aber siebenundzwanzig Jahre jünger«, erwiderte dieser.
»Ich muss noch ein paar Wichtigtuern eine Zusammenfassung unserer heutigen Ermittlungen geben, dann gehe ich tatsächlich nach Hause.« Er sah auf seine Uhr. »Mein Gott, schon halb elf«, murmelte er.
»Fangen wir mit etwas Positivem an«, begann Patrick. »Ich habe heute Mittag Jan besucht und ihm auch alle guten Wünsche von Ihnen übermittelt. Würde ich es nicht besser wissen, könnte man meinen, er hätte sich nur eine Grippe eingefangen.«
»Das ist schön zu hören«, sagte Bergman.
»Körperlich wird er noch eine Weile brauchen, aber geistig ist er wieder auf der Höhe«, fuhr Patrick fort. »Er hat mich sogar genötigt, ihm die neuesten Ermittlungsergebnisse über Mazurs Flucht zu schicken.« Er fuhr sich über das unrasierte Gesicht. »Da hört es aber auch schon auf mit guten Nachrichten.«
»Ich blättere gerade durch die Befragungsprotokolle der Anwohner.« Bergman deutete auf die Akten. »Entweder ist Mazur nicht durch das Wohngebiet geflohen, oder er war unsichtbar, denn wir haben nicht einen Hinweis auf seine Anwesenheit.«
»Er hätte aber auch die Schienen bis zur Buckower Chaussee entlanglaufen können.«
»Auch da hat man die Explosion bemerkt.«
»Vielleicht war er verkleidet«, gab Patrick zu bedenken. »Eine Perücke, eine Brille und ein neuer Mantel, vielleicht noch ein Bart und ein Hut. So oder so ist Mazur entkommen, und wir haben keine Ahnung, wo er ist.«
»Die Überprüfung seiner bevorzugten Orte war ebenso erfolglos wie die Verkehrskontrollen«, sagte Bergman. »Und jetzt kommt noch eine politische Komponente dazu.«
»Man sägt an Ihrem Stuhl.«
Der Kripochef nickte.
»Wie schlimm ist es?«
»Das geht nicht mehr lange gut.«
Patrick stöhnte. »Nicht auch das noch.«
»Es ändert nichts«, sagte Bergman achselzuckend. »Wir fahren volle Kraft. Mehr geht nicht. Ob ich nächste Woche noch Leiter der Kriminalpolizei bin, hat nichts mit den Ermittlungen zu tun.«
»Doch«, sagte Patrick. »Weil Ihr Nachfolger uns diese Freiheiten nicht geben wird, die Sie uns gewähren.«
»Nett von Ihnen, Stein, aber zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf, und seien Sie froh, dass Sie mit dieser Art von Politik nichts zu tun haben.«
Patrick wandte sich wieder der Tür zu, drehte sich aber noch mal zu Bergman herum. »Es gibt eine Sache, die mich in den Wahnsinn treibt«, begann er. »Wie konnte er seine Flucht so gut planen?«
»Er war schon immer sehr klug.«
»Zweifelsohne, aber Mazur kam einen Tag nach Zoes Besuch aus dem Gefängnis. Am zweiten Tag hat er das angebliche Treffen mit dem Schläfenmörder arrangiert und am dritten Tag ist er geflohen.« Patrick fuhr sich wieder über die Bartstoppeln. »Wie konnte er in dieser kurzen Zeit einen solchen Plan aushecken, während wir ihn dauernd überwacht haben?«
»Ich weiß es nicht, Stein, aber wenn wir das konsequent zu Ende denken, kommen wir auf eine sehr unangenehme Antwort.«
»Er muss Hilfe von innen gehabt haben.«
Bergman nickte. »Hoffen wir, dass dem nicht so war, sonst werden wir Mazur niemals wiederfinden, und ich kann schon mal anfangen, mein Büro auszuräumen.«
Jan saß auf dem Bett und betrachtete die Wand mit Bildern und Notizen. Auf der linken Seite war alles zusammengetragen, was über den neuen Fall des Schläfenmörders bekannt war, in der Mitte sämtlicher Stoff zu seiner angeblichen Schießerei mit Dennis Grahl und rechts davon hatte er die Hinweise zu Mazurs Flucht ausgebreitet.
Er war noch zu schwach, um länger als eine Minute zu stehen, aber dank Lans Hilfe hatte er alles wie gewohnt aufbereiten können.
»Ich hätte nicht gedacht, dass die Arbeit bei der Kripo so interessant sein kann«, sagte sie, als sie fasziniert die Wand ansah.
»Lass dich nicht täuschen«, sagte Jan. »Die meiste Zeit ist es wirklich nur Routinearbeit, und einen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn das Gegenüber zwei Meter groß, betrunken und mit einem Knüppel bewaffnet ist, macht keinen Spaß.« Er ließ sich vom Bett gleiten und streckte sich. »Ich komme mir vor wie ein Neugeborener«, sagte er. »Meine Knie zittern und ich kann kaum geradeaus gehen.«
»Wenn es nach den Ärzten gehen würde, dürftest du nicht mal aufstehen.«
»Wir lehnen jegliche Verantwortung dafür ab«, zitierte Jan den Neurologen.
»Übertreib es trotzdem nicht«, sagte Lan und stützte ihn, als er versuchte, mit seinen Händen seine Füße zu berühren.
Er lehnte sich ans Bett und sah auf die Uhr. »Du solltest heute in deine Vorlesung gehen«, sagte er zu Lan.
»Heute ist Freitag. Da ist nicht viel los«, winkte sie ab. »Außerdem kann ich alles nacharbeiten.«
»Dann geh wenigstens zu deinem Fitnesskurs.« Jan lächelte. »Du musst hier raus. Ich bekomme schon einen Lagerkoller und ich bin erst seit drei Tagen wach und schlafe die meiste Zeit.« Er deutete auf den leeren Nebenraum. »Selbst Zoe ist wieder zu Hause.« Lan schien zu zögern, aber er zwinkerte ihr zu. »Alles in Ordnung. Wir sehen uns heute Abend.«
Sie umarmte ihn und küsste ihn lange. Dann löste sie sich und hob mahnend den Finger. »Schon dich.« Eine Minute später hatte sie ihre Sachen gepackt und war gegangen.
Seufzend setzte sich Jan wieder auf das Bett und ließ seine Beine baumeln, während er die Bilder betrachtete. Eine Stunde saß er so da, versuchte, eine Verbindung zwischen den drei Fällen zu ziehen. Ab und zu blätterte er in den Unterlagen, die ihm Patrick gegeben hatte, oder überprüfte eine Angabe auf einer Karte. Zwischendurch kam eine Krankenschwester und brachte etwas zu essen. Sie sah argwöhnisch an die Wand, stellte das Tablett auf den Beistelltisch und ging wortlos wieder aus dem Zimmer. Jan hatte den Besuch kaum wahrgenommen, so tief war er in Gedanken versunken gewesen. Als das Mittagessen längst kalt war, griff er zu seinem Handy und wählte Chandus Nummer. »Moin, mein Großer«, begrüßte er seinen Freund.
»Schön, dass du anrufst«, antwortete dieser. »Wie geht es dir heute?«
»Körperlich habe ich noch Steigerungsbedarf, aber meinem Kopf geht es gut«, antwortete Jan. »Ich bin den ganzen Morgen die drei Fälle durchgegangen. Und wir sollten uns heute Abend hier treffen.«
»Kein Problem. Ich bringe Pizza mit«, sagte der große Mann. »Ist dir was aufgefallen?«
»In der Tat«, antwortete Jan. »Wir sind ziemlich hereingelegt worden.«