Kapitel 9
Als sein großer Freund die Tür öffnete, war es wie nach Hause zu kommen. Große Kerzen erhellten das Wohnzimmer, aus dem Ofen duftete eine Lasagne, die niemand besser machen konnte als Chandu, und der Tisch war gedeckt wie für ein Galadinner. Er hatte so viele Abende vor dem großen Fernseher verbracht und mit seinem Freund Fußballspiele angeschaut. Hier hatten sie mit Max und Zoe die schweren Fälle gelöst, was schlussendlich seinen guten Ruf begründet hatte.
Als Marie ihn umarmte und auf die Wange küsste, musste er Tränen zurückhalten. »Schön, dass du wieder genesen bist«, sagte sie. Sie ging an ihm vorbei und nahm der hinter ihm stehenden Lan den Koffer ab.
»Müsste ein paar Tage genügen«, sagte seine Freundin und ging hinein.
Während Marie ihr den frei geräumten Schrank zeigte, setzte sich Jan an den Tisch und genoss das erste Bier seit Langem.
»Danke«, sagte er zu seinem Freund und wischte sich über das Gesicht.
»Nicht dafür«, sagte Chandu und schlug ihm auf die Schulter. Er ging zum Backofen und betrachtete die Lasagne. »Eine
Minute«, sagte er und wandte sich wieder Jan zu. »Dein Schlafplatz ist bereits gerichtet.« Er deutete auf die große schwarze Ledercouch, auf der eine Bettdecke und ein Kissen lagen. »Wenn du willst, darf auch Lan hierbleiben.« Er zwinkerte ihm zu.
»Dafür ist es noch etwas zu früh«, antwortete Jan lächelnd.
»Zu Tisch, zu Tisch!«, rief Chandu, nahm ein Handtuch, öffnete den Backofen und hob die Lasagne heraus. Der Duft ließ Jan zufrieden seufzen.
Es dauerte nicht lange, dann saßen sie alle am Tisch, erfreuten sich am Essen und erzählten, was Jan die letzten Tage verpasst hatte. Und nichts davon hatte mit Mord, Tod und Entführung zu tun.
Bergman beobachtete den Mann, während er von einem Polizisten in den Verhörraum geführt wurde. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit passender Weste, weinroter Krawatte und silbernen Manschettenknöpfen an dem weißen Hemd. Sein volles graues Haar war nach hinten gekämmt und sein Bart um den Mund herum sorgsam gestutzt. Er hatte eine goldene Uhr an seinem linken Handgelenk, nicht protzig, eher stilvoll, wie eine Art Understatement für seinen wirtschaftlichen Erfolg. Seinen Kopf hielt er zum Boden gesenkt und er spielte mit einem goldenen Ring an seinem Finger.
»Das ist Fabrizio Raneri«, sagte Patrick. »Ihm gehört das Restaurant in Charlottenburg, zu dem wir Mazur am ersten Abend gefahren haben.«
»Haben wir eine Akte von ihm?«
»Nur eine Bewährungsstrafe wegen Steuerhinterziehung aus dem Jahr 1987, weil er falsche Rechnungen ausgestellt hat. Sonst nichts.«
»Warum ist er hier?«, fragte der Kripochef. »Einen Haftbefehl haben wir nicht.«
»Ich habe ihn um eine Aussage gebeten, und er wollte lieber auf die Wache kommen als uns in seinem Restaurant empfangen.«
»So einfach ging das?«
»Erst hat er sich geweigert, aber als ich ihm erklärt habe, dass sein Sohn Mazur in die Bar in der Brunnenstraße gebracht hat und was das für Folgen haben könnte, hat er schließlich eingelenkt.«
Patrick nahm seine Unterlagen, ging in das Besprechungszimmer und setzte sich dem Mann gegenüber. »Guten Morgen, Herr Raneri«, begann er. »Danke, dass Sie sich an diesem Sonntag Zeit für uns genommen haben.«
Raneri nickte Patrick zu, verzog aber kurz das Gesicht, als wolle er andeuten, keine Wahl gehabt zu haben.
»Der Grund unseres Gesprächs ist Tony Mazur.« Er legte ein Bild von ihm auf den Tisch. »Wie Sie wissen, ist er aus dem Gefängnis freigekommen, denn er hat am 15. Oktober Ihr Restaurant besucht.«
»Das hat mich überrascht«, sagte Raneri. »Ich dachte, er muss eine längere Strafe absitzen.«
»Wir wissen aus gut informierten Kreisen, dass Mazur seit vielen Jahren Stammgast bei Ihnen ist. Wie gut kennen Sie ihn?«
»So gut man einen Gast kennt«, sagte Raneri. »Unsere Familien stammen beide aus Sizilien, wir lieben fassgereiften Grappa, gutes Essen und ich kredenze ihm Rotwein von befreundeten Winzern.«
»Sie wissen, mit welchen Geschäften Mazur sein Geld verdient?«
»Natürlich weiß ich das«, sagte Raneri.
»Hat es Sie nie gestört, einen solchen Gast zu haben?«, fragte Patrick.
»Welche Wahl hatte ich denn?«, fragte der Italiener genervt.
»Glauben Sie, ich bin in der Position, einem Mann wie Mazur irgendetwas vorzuschreiben oder gar zu verbieten?«
»Immerhin erpresst er seit Jahrzehnten Schutzgeld von Ihren Landsleuten, schmuggelt Drogen und hetzt Auftragsmörder auf Konkurrenten.«
»Und wenn dem so ist, dann frage ich Sie, warum er erst 2016 verhaftet worden ist. Warum konnte er die ganze Zeit Schutzgeld erpressen, Drogen schmuggeln und Auftragskiller engagieren? Wo waren Sie, als wir unseren monatlichen Tribut abgeben mussten? Wieso war er so lange frei, wenn er all diese Dinge getan hat?«
»Wir haben es versucht …«
»An mir lag es nicht«, sagte Raneri. »Ich habe ihm nur Essen gekocht.«
»Und wir können nur aktiv werden, wenn wir Mazur bei einer Straftat erwischen«, rechtfertigte sich Patrick. »Wenn Sie oder Ihre Landsleute uns dabei unterstützt hätten …
»Was dann?«, unterbrach der Italiener. »Dann wäre er vielleicht für ein paar Jahre ins Gefängnis gegangen. Aber mein Leben wäre verwirkt gewesen und das meiner Frau, das meiner ganzen Familie. Wissen Sie, was es bedeutet, Kinder zu haben?«, fragte er aufgebracht.
»Ich selbst habe keine …«
»Dann verstehen Sie es nicht.« Er machte eine harsche Geste, als wolle er die Diskussion abwürgen. »Ein Kind ist eine lebenslange Verantwortung, eine Verpflichtung, alles für es zu tun, auch Dinge, die man nicht gern macht. Mit einem Kind tritt man in die zweite Reihe, man stellt alles hintan, seine Gesundheit, seine Wünsche, seine Träume und selbst seine Vorstellungen von Moral.« Raneri schloss kurz die Augen, als versuche er, sich wieder zu beruhigen. »Mazur ist klug, gebildet, eloquent, mit unwiderstehlichem Charme und großer Geldbörse. Aber man sollte sich nicht von seinem Lächeln und
seinen freundlichen Umarmungen blenden lassen. Er wird leicht wütend, und Sie können sich nicht vorstellen, was er mit Menschen macht, die ihn verärgert haben.«
»Leider kann ich das«, sagte Patrick und legte ein Foto des toten Crowe auf den Tisch. Man konnte die klaffende Wunde an seinem Hals deutlich sehen.
»Das schreckt mich nicht«, sagte Raneri. »Der Tod kommt zu uns allen, aber ich habe drei Kinder und zwei wunderbare Enkel. Für die bin ich verantwortlich, und wenn ich dafür jeden Tag den Teufel zum Essen begrüßen muss, damit sie in Frieden leben können, dann tue ich das.« Er sah Patrick in die Augen. »Egal wie Sie mich bestrafen, es ist nichts gegen das, was Mazur mit mir machen würde, wenn ich ihn hintergehe.«
»Wir wollen verstehen, was an dem Abend im Restaurant passiert ist«, sagte Patrick. »Immerhin sind Sie der Besitzer und Ihr Sohn hat Mazur in dieser Nacht in eine Bar in der Brunnenstraße gefahren.«
»Was gibt es da nicht zu verstehen? Er hat sich mit Freunden, Bekannten und Leuten auf seiner Gehaltsliste getroffen, um Pläne auszuhecken.«
»Welche Pläne?«
»Glauben Sie ernsthaft, ich werde in so etwas eingeweiht?«
»Einen Grund muss es doch haben, dass er bei Ihnen war.«
»Mein Essen ist gut und ich habe einen Nebenraum, in dem man ungestört ist.«
»Das ist alles?«
»Sie verstehen es wirklich nicht«, sagte Raneri. »Auch wenn ich nicht für Mazur arbeite, bin ich doch sein Lakai, abhängig von seiner Laune und seiner Gnade. Wenn er sich in meinem Restaurant mit seinen Leuten treffen will, fragt er mich nicht, ob es mir gefällt. Er kommt in mein Restaurant, lässt sich irgendwo nieder und will bedient werden. Und man ist gut beraten, nicht zu widersprechen.«
»Wie viele seiner Leute waren an dem Abend dort?«
»Schwer zu schätzen«, sagte Raneri. »Vielleicht zehn.«
»Treffen sich diese Männer öfter bei Ihnen?«
»Nicht in dieser Zahl.«
»Also wussten die Anwesenden, dass er kommen würde.«
»Höchstwahrscheinlich.«
Patrick sah kurz zum Spiegel, hinter dem er Bergman vermutete.
»Wie Sie vielleicht gehört haben, hat sich Mazur unserem Zugriff entzogen.«
»Das stand in jeder Zeitung.«
»Haben Sie eine Idee, wo er sich versteckt haben könnte?«
»Dazu weiß ich zu wenig über Mazur. Und dazu ist er zu vorsichtig.«
»Vielleicht hat er an dem Abend eine Bemerkung gemacht.«
»Bei mir ist er nicht«, antwortete der Italiener ungehalten. »Und selbst wenn, würde ich es Ihnen nicht sagen.«
»Herr Raneri …«, begann Patrick.
»Vorbei.« Er machte wieder eine harsche Geste mit der Hand. »Verhaften Sie mich, weil ich Mazur bedient habe oder weil ich meinen Sohn gebeten habe, ihn in die Bar zu bringen, aber das Gespräch ist beendet. Ich habe schon zu viel gesagt. Wenn Sie Mazur suchen, müssen Sie ihn alleine finden. Niemand, der ihn kennt oder mit ihm zu tun hat, wird Ihnen helfen. Denn die Folgen dieses Verrats wären so schrecklich, dass es selbst Ihre Vorstellungskraft übersteigt, Kommissar Stein.« Er deutete auf das Bild des toten Crowe. »Das ist ein gnädiger Tod. Den würde Mazur einem Verräter niemals gewähren.«
Es war ein kühler Abend, aber Jan machte die Kälte nichts aus. Er genoss es, draußen sein zu können. Wegen des einsetzenden Nieselregens waren nur wenige Leute vor der Tür, trotzdem trug er den kratzigen Bart mit Mütze, Brille und Schal als Tarnung.
Sie hatten unter einer ausladenden Kastanie Platz genommen, nicht weit von einem Hochhaus mit Sozialwohnungen, das in einem der übelsten Viertel von Berlin stand. Jeder Zweite der Bewohner hatte schon mal mit der Polizei zu tun gehabt, und das nicht, weil er sich über eine zu laute Party des Nachbarn beschweren wollte. So unangenehm die Gegend war, sie war der perfekte Ort für Tim, die Ratte, einen der bekanntesten Informanten der Hauptstadt.
»Gibt es irgendetwas, was Tim nicht weiß?«, fragte Jan und trank einen Schluck Kaffee, den Chandu in einer Thermosflasche mitgebracht hatte.
»Wie man Ärger aus dem Weg geht.« Er reichte Jan ein Fernglas. »Schau dir mal den Typ vor dem Hauseingang an.«
Der Mann war eins achtzig groß, von schlanker Statur mit einem kurz rasierten Irokesenschnitt. Mehrere Piercings steckten in seiner Nase. Über den Fingern seiner rechten Hand trug er einen Schlagring. Er saß auf einem Drahtgeflecht, das früher wahrscheinlich eine Sitzbank gewesen war.
»Sieht nach einem typischen Bewohner dieser Gegend aus.«
»Schau, was links neben ihm liegt.«
Durch die erhöhte Lage zum Hauseingang hin konnte Jan ein DIN-A4-großes Foto erkennen. »Ist das auf dem Bild Tim?«, fragte er.
Chandu nickte. »Wenn der Typ ihn vor uns erwischt, könnte das böse für ihn enden.«
»Die Ratte ist clever«, sagte Jan. »Die findet einen Weg.«
Der große Mann deutete nach rechts. Hinter einem Müllcontainer konnte man Tim erkennen. Er hatte münzgroße Steine in der Hand, die er mit aller Kraft in Richtung Eingang schleuderte, aber jeder blieb im Baum oder in einem Gebüsch hängen.
»Versucht er, den Schläger mit einem Kieselstein zu treffen?«, wunderte sich Jan.
»Eher den Glascontainer dahinter«, vermutete Chandu. »Als Ablenkung, damit er schnell ins Haus huschen kann.«
»Das funktioniert niemals.«
Anscheinend war Tim zu der gleichen Erkenntnis gekommen, denn er hatte die Steine fallen gelassen und näherte sich dem Wohnhaus von der Seite. Mithilfe eines Blitzableiterkabels zog er sich zu einem Fenster hoch und kam auf dessen Sims zum Stehen. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, holte dennoch mit einem Fuß aus und trat mit aller Kraft an die Scheibe. Das Glas gab nicht nach, aber der Schwung brachte Tim aus der Balance und er fiel zwei Meter tief in ein Gebüsch. Der Mann vor der Tür bekam von alledem nichts mit und beobachtete weiter den Weg zur Straße.
»Das ist ja nicht mit anzusehen«, sagte Jan, während sich Tim aus dem Gebüsch zu befreien versuchte. »Geh du in Position, und ich lenke ihn ab«, wandte er sich an seinen Freund.
»In deinem Zustand kannst du froh sein, wenn du es von hier bis zum Eingang schaffst«, sagte Chandu misstrauisch. »Mit dem Kerl hättest du selbst bei voller Stärke Probleme.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht«, widersprach Jan. »Außerdem will ich mich nicht mit ihm prügeln, sondern werde ihn nur ablenken.«
»In Ordnung«, sagte Chandu und lief in weitem Bogen zu dem Eingang.
Jan zählte bis zehn, nahm seinen Geldbeutel aus der Tasche, klemmte ihn sich unter den Arm und spazierte zum Eingang. Der Mann sah kurz auf. In dem Moment stolperte Jan und sein ganzes Kleingeld fiel zu Boden.
»Oh, verflucht«, sagte Jan und hob eine Münze auf. Der Schläger wusste einen Moment nicht, was er machen sollte, sah aus, als überlege er, ob er Jan helfen sollte. Ein linker Aufwärtshaken von Chandu beendete seine Grübeleien. Er rutschte von
der Bank, sank auf die Knie und brach ohnmächtig auf dem Boden zusammen.
Der große Mann hob ihn auf und setzte ihn so hin, dass man annehmen konnte, er würde schlafen. Jan griff sich das Bild und den Schlagring und warf beides in einen Mülleimer. Währenddessen ging Chandu zu dem Gebüsch, zog Tim heraus und setzte ihn auf dem Boden ab. In den Händen des großen Mannes wirkte er wie ein Kleinkind. Er zog eine Brille mit dicken Gläsern aus der Tasche und betrachtete seinen Retter aus der Nähe. Tim kniff die Augen zusammen, als könne er selbst mit Brille nicht richtig sehen. »Chandu«, sagte er fröhlich. »Hatte schon Angst, der Typ vor der Tür hätte mich erwischt.« Er fuhr sich mit der Zunge über seine hervorstehenden Zähne und strich seine ungewaschenen schwarzen Haare glatt, die in alle Richtungen abstanden. In seiner zerschlissenen Strickjacke hatten sich Blätter verfangen. Jan verstand, warum er »die Ratte« genannt wurde.
»Um den haben wir uns gekümmert«, sagte er. »Was wollte der von dir?«
»Alles nur ein Missverständnis«, sagte Tim. »Ich habe seinem Boss einen erstklassigen Whirlpool mit vierundzwanzig Düsen verkauft, aber sie müssen die Stärke etwas zu hoch eingestellt haben, denn beim Anschalten hat es den Kompressor durch die Verkleidung geschossen, über die Terrasse mitten in sein Wohnzimmer.« Tim zuckte die Achseln. »Ist niemand zu Schaden gekommen, daher verstehe ich die Aufregung nicht.«
»Wo hattest du das Ding her?«
»Aus einer zuverlässigen Quelle.«
»Dieselbe Quelle, von der du auch das hochmoderne Elektroauto bezogen hast, dessen Batterie auf der A100 nach zehn Kilometern Fahrt in Brand geraten ist?«
»Das war auch nur ein Missverständnis.«
»Vielleicht sollten wir uns einen anderen Platz zum
Plaudern suchen«, sagte Jan. »Nicht, dass unser Freund wieder aufwacht.«
Tim rückte sich die Brille zurecht und betrachtete Jan genau. »Tommen?«, wunderte er sich. »Ich dachte, du bist tot.«
»Ist kompliziert«, antwortete Jan. »Aber die nächsten Tage würde ich gern tot bleiben.«
»Verstehe. Dein Bart sieht irgendwie komisch aus.«
»Genug frische Luft«, sagte Chandu. »Lass uns zu dir hochgehen.«
Als sie an dem Schläger vorbeigingen, war sein Kopf immer noch auf die Brust gesunken. Tim beachtete ihn nicht weiter, als sei er nur ein müder Obdachloser. Kurz darauf waren sie in der Wohnung, sofern man diese Unterkunft so bezeichnen konnte. Sie bestand aus einer schmalen Küchenzeile, einem Kühlschrank und einer Schlafcouch, aber an jeder nur möglichen Stelle waren Kartons auf dem Laminat aufeinandergeschichtet. Den Aufschriften nach enthielten sie Blu-Ray-Player, Fernseher, Handys und Laptops. Dazwischen lagerten Handtaschen, Damenschuhe und sogar mehrere Paar Skier.
»Brauchst du was?«, fragte Tim, als er Jans interessierten Blick sah. »Die Fernseher sind 4K und OLED. Ich mache dir einen guten Preis.«
»Ein anderes Mal«, erwiderte Jan lächelnd.
Tim zuckte die Achseln und verschwand hinter einem Stapel Kochtöpfe. Dann erklang das Mahlwerk einer Kaffeemaschine.
»Kennst du einen Arjan Bout?«, fragte Chandu, nachdem der Lärm abgeklungen war.
»Kein netter Mann.« Tim kam mit zwei Tassen Espresso nach vorne, die er Chandu und Jan reichte. »Ihn engagiert man, wenn man Informationen braucht, die einem das Gegenüber nicht freiwillig geben will.«
»Ein Folterer?«, fragte Chandu.
»Etwas in der Art«, antwortete Tim. »Was man so hört, hat er sich viele Jahre als Söldner in Westafrika und Mittelamerika verdingt. Da scheint er einiges gelernt zu haben.« Er reichte ihnen zwei angelaufene Silberlöffel. »Ich müsste mich umhören, wenn ihr mehr wissen wollt.«
»Momentan sitzt er in Untersuchungshaft«, sagte Jan. »Wir kommen nicht an ihn ran.«
»Was braucht ihr?«
»Wir müssen wissen, wo er seinen Unterschlupf hat.«
»Habt ihr es bei seinem Partner versucht?«
»Partner?«, fragten Chandu und Jan gleichzeitig.
Tim schob sich die Brille wieder hoch. »Bout ist der Mann fürs Grobe, daher hat er mit einem Einbrecher zusammengearbeitet, der auch ein guter Fälscher sein soll. Sein Name ist Noah Seeger.« Er nahm zwei Schachteln mit Pfannen von einem Sessel und setzte sich. »In meinen Kreisen hießen sie Bout und Boutachon, weil sie an das Komikerduo erinnern, Bout groß und kräftig, Seeger klein und dick.«
»Davon steht nichts in Bouts Akte«, sagte Jan.
»Du musst mir mal deine Nummer geben«, sagte Tim. »Ich kenne Leute, die Interesse an deinem Zugang zu Kripoakten hätten.«
»Ein anderes Mal«, unterbrach Chandu. »Wir brauchen Seegers Adresse.«
Tim faltete die Hände und lächelte. »Und was bekomme ich dafür?«
»Wir schaffen dir den Schläger unten vom Hals«, sagte Chandu.
»Das ist aber wenig«, sagte die Ratte enttäuscht.
»Ich kann ihn auch wecken und zu deiner Wohnung führen.«
Tim brummte mürrisch. »Ich schaue, was ich machen kann.«
»Heute Nacht noch«, sagte Chandu.
»Weißt du, wie spät es ist?« Tim deutete auf seine schlecht gefälschte Rolex. »Ich habe den ganzen Tag gearbeitet.«
»Mir egal«, sagte der große Mann. »Ich will Seeger morgen meine Aufwartung machen.«
»In Ordnung.« Tim hob abwehrend die Hände.
Sie stellten die Tassen auf den Karton einer Mikrowelle. »Danke für den Espresso«, sagte Chandu und ging mit Jan zur Tür.
»Eine Sache noch«, sagte Tim. Sie wandten sich zu ihm um. »Bout sieht gefährlich aus und mag ein kranker Bastard sein, aber sein Partner Seeger ist nicht weniger übel. Er hat ein Faible für Waffen. Seid vorsichtig, wenn ihr ihn hochnehmen wollt. Er weiß sich zu wehren.«
Es klopfte am Überwachungswagen. Zwei Sekunden später ging die hintere Tür auf und Chandu kam herein. Er rümpfte die Nase. »Ich lass hier mal frische Luft rein«, sagte er. »Sonst sterbe ich in meiner Schicht an Sauerstoffmangel.«
Jan streckte sich und stand vom Stuhl auf.
»Lan ist schon bei mir zu Hause und wartet mit dem Essen auf dich.« Er warf ihm einen Autoschlüssel hin. »Gibt es irgendetwas Neues?«
Jan schüttelte den Kopf. »Seeger war einmal draußen und hat eine Tüte in den Mülleimer geworfen. Das war die stärkste Aktivität in den letzten beiden Tagen.«
»Ich würde die Hütte stürmen und höflich um Hilfe bitten«, sagte Chandu.
»Das ist eine verdammte Festung, auch wenn es nicht so aussieht«, sagte Jan. »Äußerlich wirkt es wie ein normales Einfamilienhaus, das sich perfekt in die Umgebung des Neubaugebiets einfügt. Ein Vorgarten mit Büschen, der Zaun nicht höher als üblich, weder Stacheldraht noch Alarmanlagen oder
anderer sichtbarer Sicherheitskram.« Jan deutete auf die vier Überwachungsbildschirme. »Doch dank der guten Zoomfunktion haben wir sechs verborgene Kameras entdecken können. Um das ganze Haus sind Bewegungsmelder angebracht. Die Eingangstür ist mit einer unauffälligen Holzverkleidung abgedeckt, darunter jedoch aus Metall und mit einem hochwertigen Schloss ausgestattet. Die Fenster sind wahrscheinlich aus Sicherheitsglas.« Jan deutete auf den Vorgarten. »Der eins vierzig hohe Zaun sieht unauffällig aus, aber ich wette, dass Seeger sofort mitbekommt, wenn jemand drüberklettert. Neben dem Eingang ist ein Klingelschild ohne Namen und der Briefkasten ist nicht beschriftet. Unser Mann bekommt weder Briefe noch Pakete, einzig Werbung wird ab und an eingeworfen.« Er wandte sich Chandu zu. »Er bemerkt sofort, wenn wir auf seinem Grundstück sind. Und wenn Tim mit seiner Vermutung richtigliegt, wird er wahrscheinlich gleich das Feuer auf uns eröffnen, vor allem wenn wir bewaffnet oder maskiert hineinstürmen. Und dabei ist er noch im Recht, weil wir keine Legitimation dafür haben.«
»Was ist hinter und neben dem Haus?«, fragte Chandu.
»Der Aufnahme von Max’ Drohne nach gibt es dahinter nur Gras und eine kleine Hütte, aber selbst aus der Luft können wir wegen des dichten Laubs der Bäume kaum etwas sehen. Von der Seite ist eine Überwachung ebenfalls schwierig, weil wir uns dafür in den Gärten der Nachbarn aufhalten müssten.«
Er deutete auf eine Aufnahme neben dem Monitor. »Die Gärten der Umgebung sind durch einen schmalen Gehweg miteinander verbunden, der sich den ganzen Straßenzug entlangzieht. Wir haben eine Kamera dort, aber da Seegers Zaun mit Brombeergestrüpp zugewachsen ist, können wir von dort aus auch nicht viel vom Grundstück erkennen.«
»Warum überwachen wir es überhaupt?«, fragte Chandu. »Durch die Brombeeren kann er nicht hinaus.«
»Aber er könnte das Gartentor eines Nachbarn nutzen, indem er einfach über den Zaun springt«, erklärte Jan.
»Und von vorne?«
»Die schmalen Wege rechts und links am Haus entlang sind von Efeu überwachsen, außerdem steht rechts noch Seegers abgedeckter SUV in der Einfahrt, der uns auch viel Sicht wegnimmt.« Jan schüttelte den Kopf. »Trotz aller technischen Möglichkeiten können wir nur ein Drittel des Grundstücks einsehen. Der Rest bleibt uns verborgen.«
»Wir müssen näher ran, ohne dass er misstrauisch wird«, sagte Chandu.
»Wie willst du das machen?«, fragte Jan. »Eine Verkleidung als Post- oder Paketbote funktioniert nicht. Einen Lieferservice habe ich in den letzten Tagen nicht gesehen und die Nummer mit den Stadtwerken klappt nur in Filmen.«
»Er muss doch irgendwann da rauskommen.«
»Gerade jetzt nicht«, sagte Jan. »Wenn Bout wirklich hier seinen Unterschlupf hatte oder zumindest öfter vorbeigekommen ist, dann weiß Seeger, dass etwas nicht stimmt. Er wird auf maximale Paranoia geschaltet haben, sich von seinen Vorräten ernähren und die Bilder seiner Überwachungskameras nicht aus den Augen lassen.« Er rieb sich über das Kinn, das noch immer vom Bartkleber juckte. »Ohne Legitimation können wir das Grundstück nicht gefahrlos betreten, und nur weil Tim gesagt hat, dass Bout hier wohnen könnte, bekommen wir keinen Durchsuchungsbefehl. Seeger ist ein unbeschriebenes Blatt, von außen ist alles unauffällig, und es gibt keinen Hinweis, dass er in Milbers Entführung verwickelt ist.«
Chandu sah auf die Uhr. »Was für ein Datum ist heute?«
»Der 30. Oktober.«
Er wandte sich grinsend zu Jan. »Und weißt du, was morgen für ein Tag ist?«
»Der 31. Oktober«, antwortete er, unschlüssig, worauf die Frage abzielte.
»Halloween.« Chandu schlug ihm auf die Schulter.
»Ein eigenartiges Fest«, sagte Jan.
»Für unsere Zwecke ist es perfekt.«
»Was hast du vor? Willst du dich als Geist verkleiden und durch die Wände schweben?«
»Eine Querstraße weiter wohnt eine Freundin von mir. Die hat Kinder, die an Halloween stundenlang durch die Straßen ziehen und Süßigkeiten einsammeln.«
»Du willst Kinder auf das Grundstück eines Irren lassen?«
Chandu strafte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Red keinen Blödsinn. Wenn wir dort Kameras installieren wollen, brauchen wir einen Erwachsenen.«
»Das ist aber schon auffällig, wenn die Kinder draußen warten und der Erwachsene sich über den Zaun schwingt, um nach Süßigkeiten zu fragen.«
»Exakt. Daher brauchen wir jemanden, der für diesen Besuch als Kind durchgehen könnte«, sagte Chandu. »Und ich weiß genau, wen wir dafür fragen.«