Kapitel 14
Als Viktor an der Wohnungstür ankam, ließ er sich von Chandu widerstandslos nach Waffen durchsuchen und trat ein. In seiner Begleitung war die Frau von dem Bild. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden. Sie trug eine randlose Brille mit silbernen Bügeln auf der Nase, die gut zu der eleganten Perlenkette um ihren Hals passte.
Jan hatte sich neben die Couch gestellt, seine Pistole im hinteren Hosenbund. Seine Fälle hatten schon oft verrückte Wendungen genommen, aber diese gehörte zu den eigenartigsten. Max hatte den Laptop zusammengeklappt und den Beamer ausgeschaltet.
Einzig Zoe war auf der Couch sitzen geblieben und betrachtete die Neuankömmlinge mit einer Gelassenheit, als würden sie ihre Pizza anliefern.
Chandu deutete wortlos auf die Couch. Er blieb an der Tür stehen und verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle er klarstellen, dass Viktor erst wieder gehen würde, wenn er es erlaubte. Der Mann und die Frau nahmen Platz.
»Ich muss zugeben, dass mich Ihr Besuch überrascht«, begann Chandu. »Es würde mich interessieren, warum Sie hier sind, und vor allem, woher Sie wissen, wo ich wohne.«
»Wir haben einen gemeinsamen Freund«, begann Viktor. »Jonas Tungel.«
»Als Freund würde ich ihn nicht bezeichnen«, sagte der große Mann. »Ich bezahle ihn für Informationen. Das ist alles.«
»Ich habe eine ähnliche Verbindung zu ihm. Jonas hat erwähnt, dass Sie sich über Willi Milber, Pavel Namik und Urs Huebner erkundigt haben.« Er drehte sich kurz zu der Frau. »Alle drei sind einen unschönen Tod gestorben.«
»Ich war das nicht.« Chandu hob die Hände.
»Das weiß ich jetzt«, sagte Viktor. »Ich habe Sie mit einem Kripobeamten an einem Tatort reden sehen. Patrick Stein. Dann wurde mir klar, dass Sie die Informationen nicht für sich holen, sondern für die Polizei. Daher habe ich weiter nachgeforscht.«
»An deiner Stelle würde ich das Treffen für mich behalten«, sagte Chandu mit drohendem Unterton.
»Keine Sorge«, sagte er beschwichtigend. »Wir wollen nur nicht enden wie die anderen.«
»Kannten Sie die drei Männer?«, fragte Jan.
Viktor nickte. »Willi Milber war ein genialer Schmuggler«, sagte er. »Er hat Devisen und Edelsteine durch die ganze Welt transportiert, ohne dass der Zoll ihm auf die Spur gekommen ist. Pavel Namik war ein Experte für Schutzgelderpressung und Urs Huebner hat Teile von Mazurs Geld gewaschen.« Er wandte sich wieder an Chandu. »Daher sind wir hier. Wir brauchen Schutz.«
»Vor dem Mörder der drei?«
»Vor allem vor Tony Mazur.«
Jan sah kurz zu seinem Freund an der Tür und runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten Sie damit herausrücken, welche Rolle Sie in diesem Spiel haben.«
»Ich bin der Leibwächter des Buchhalters.« Viktor deutete auf die Frau neben sich. »Meiner Schwester Helena.«
Für einen Moment herrschte Schweigen in dem Raum, als müsse jeder der Anwesenden diese Information erst verarbeiten.
»Heilige Scheiße«, entfuhr es Max.
»Ich bin nicht leicht aus der Fassung zu bringen«, sagte Jan. »Aber jetzt weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll.«
»Fangen wir vielleicht mit Ihnen an«, sagte Helena mit ruhiger, warmer Stimme. »Ich dachte, Sie sind tot, Kommissar Tommen?«
Zoe deutete mit einem Grinsen auf sein Gesicht und kratzte sich an einem imaginären Schnauzer. In dem Moment wurde Jan klar, dass er vergessen hatte, seinen Bart anzukleben und seine Mütze aufzusetzen. »Das war ein Trick, um mir die Ermittlungen zu erleichtern«, versuchte er sich an einer Ausrede.
»Ein ziemlich makabrer Trick«, sagte Helena.
»Das klären wir später«, winkte Jan ab. Er nahm einen Stuhl vom Esstisch und setzte sich der Frau gegenüber. »Ich verstehe, warum Sie Schutz vor dem Dreifachmörder suchen, aber warum fürchten Sie sich vor Ihrem Boss? Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um aus dem Gefängnis zu kommen, damit er Sie beschützen kann.«
»Mazur ist nicht mehr so einflussreich wie früher«, sagte Helena. »Und außerdem gefällt es mir nicht, ständig im Verborgenen leben zu müssen, niemandem sagen zu können, was man macht, und abhängig zu sein von Mazurs Launen. Freiwillig hätte er mich nicht gehen lassen, aber die Ereignisse der letzten Wochen haben mir eine Chance eröffnet.«
»Sie kennen die Folgen eines solchen Angebots?«, fragte Chandu.
»Ein Kronzeugenprogramm, Aussagen vor Gericht, ständige Wechsel des Wohnorts und Änderung des Namens«, sagte Jan. »Sie werden Berlin verlassen müssen, und selbst auf der einsamsten Karibikinsel werden Sie sich immer umdrehen, aus Angst, dass einer von Mazurs Männern sie gefunden hat.«
»Wenn ich mit Ihnen zusammenarbeite, wird von Mazur und seinen Männern nicht mehr viel übrig bleiben«, sagte sie bestimmt.
»Also ich mag sie«, bemerkte Zoe.
»Ich brauche erst mal ein Bier.« Chandu ging an den Kühlschrank, nahm drei Flaschen heraus und reichte zwei seinen Gästen. Viktor nickte dankbar, entfernte die Kronkorken und reichte ein Bier seiner Schwester.
»Nur um etwas klarzustellen«, sagte Jan. »Auch der Mörder von Milber, Namik und Huebner ist auf der Suche nach Ihnen. Ihr Boss ist nicht Ihr einziges Problem.«
»Das ist ein Grund, warum ich aussagen möchte«, sagte Helena. »Wenn alle Geheimnisse zu Mazurs Finanzen offen liegen, bin ich wertlos geworden. Dann interessiert sich niemand mehr für mich.«
»Außer Mazur«, sagte Zoe.
»Aber aus anderen Gründen«, ergänzte Viktor.
»Wenn seine Organisation zerschlagen ist und er im Gefängnis sitzt, mache ich mir keine Sorgen mehr«, sagte Helena.
»Wer ist hinter Ihnen her? Wer tötet Mazurs Männer wie die Fliegen?«
»Es ist ein Mann marokkanischer Herkunft namens Hamid Asmari«, sagte Viktor.
»Das ist besser als Kino«, sagte Max begeistert und leerte seine Ovomaltine-Cola-Mischung in einem Zug.
»Noch nie von einem Hamid Asmari gehört«, sagte Jan.
»Er ist in Europa auch ein unbeschriebenes Blatt«, fuhr der Mann fort. »Asmari war eine Zeit lang in Frankreich aktiv, ist aber nie in Berlin in Erscheinung getreten. Aus diesem Grund wurde er engagiert. Niemand kennt ihn, also verdächtigt ihn auch niemand.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Jan.
»Von Mazur.«
»Und in wessen Auftrag handelt der Marokkaner?«
»Das hat selbst er nicht herausbekommen können«, sagte Viktor. »Es steckt wahrscheinlich ein einflussreicher arabischer Clan dahinter. Asmari verfügt über große Mittel und hat Männer für die Laufarbeit, damit er sich auf das Foltern konzentrieren kann.«
»Sind Sie sicher, dass Mazur nicht weiß, wo Sie sind?«
Viktor sah kurz zu seiner Schwester. »Ich nehme es an.«
»Sie nehmen es an?«, fuhr Chandu auf. »Das ist in diesem Fall nicht gut genug.«
»Sie wissen, was er mit Ihnen macht, wenn er Sie hier findet«, sagte Jan.
»Er wird meinen Bruder zu Tode foltern, alles aus mir herauspressen, was ich weiß, und mir dann ebenfalls einen unschönen Abschied bereiten«, sagte Helena.
»Und das ist noch optimistisch«, sagte Zoe.
»Deshalb sind wir hier und nicht bei der Polizei«, sagte Viktor. »Mit diesem Schachzug hat er nicht gerechnet.«
»Da ist was dran«, gab Chandu zu. »Aber Mazur hat ein gutes Netzwerk an Spitzeln.«
»Und er ist völlig paranoid«, ergänzte Zoe. »Er vertraut niemandem und geht ständig davon aus, dass ihn seine Leute hintergehen wollen. Selbst wenn man seinen Atem nicht im Nacken spürt, ist er trotzdem da.«
»Wir mussten weg«, sagte Viktor. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis Asmari uns aufgespürt hätte, und ich glaube nicht, dass Mazurs Männer sich dagegen hätten wehren können.«
»Wie gehen wir vor?«, wandte sich Jan an seinen Freund.
»Wir halten den Kreis der Eingeweihten sehr klein«, antwortete Chandu. »Lass uns Bergman informieren. Der soll einen Staatsanwalt seines Vertrauens mitbringen und dann kann man die formalen Dinge regeln.« Er wandte sich an die Geschwister. »Wenn Sie erst mal in der Kronzeugenregelung drin sind, wird alles leichter.«
»Hoffen wir, dass Ihnen niemand gefolgt ist.« Jan stand auf und griff nach seinem Handy. Er wollte Bergmans Nummer wählen, aber er bekam nur einen kurzen Warnton. »Kann mir jemand sagen, warum ich keinen Empfang habe?« Er hielt das Telefon nach oben.
Mit einem Geräusch ging das Licht in der Wohnung aus. »Das ist nicht gut.« Zoe machte ihr Feuerzeug an und leuchtete umher. Chandu ging von der Tür weg, zog seine Pistole und richtete sie auf Viktors Kopf.
»Was wird hier gespielt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete dieser und hob seine Hände.
»Wir sind hier, weil ich mich der Polizei stellen will«, ergänzte Helena.
»Außer eurem Wort haben wir nichts«, sagte Chandu.
»Ich würde Ihnen gern beweisen, dass ich Mazurs Buchhalterin bin«, sagte Helena. »Aber die Zeit haben wir jetzt nicht mehr.«
»Sie müssen uns glauben«, sagte Viktor eindringlich.
»Was sagt dein Bauchgefühl?«, wandte Chandu sich an Jan.
Er wandte den Blick zu Viktor, der ängstlich zur Tür sah. Er wirkte überrascht und verunsichert. Schließlich nickte Jan seinem Freund zu.
Chandu senkte die Pistole. »Hoffentlich bereuen wir das nicht.«
Viktor stand auf und sah aus dem Fenster. »Die Beleuchtung auf der Straße und in den anderen Häusern ist noch intakt. Jemand hat sich am Stromverteiler im Keller zu schaffen gemacht.«
Im Treppenhaus erklangen schwere Schritte. »Wir werden wohl gleich Besuch bekommen.« Jan ging zurück zur Couch. »Und das werden keine netten Leute sein.«
Chandu rannte zu seinem Wohnzimmerschrank, griff nach einer Schublade und zog sie mit einem Ruck heraus. Er drückte einen Knopf darin und LED-Lampen erleuchteten den Raum.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Max.
»Ferngesteuert und batteriebetrieben«, sagte Chandu. »Sehr praktisch bei Stromausfällen.«
»Wieso hast du …?«
»Erinnerst du dich an den Grabmörder?«, unterbrach er.
»Der hat deine Tür eingeschlagen, dir eine Blendgranate vor die Füße geworfen und dich entführt«, sagte Jan. Damals hatte sein Freund nur knapp überlebt.
»Danach habe ich geschworen, dass mir das nie mehr passiert.« Chandu nahm die Schublade vollständig heraus. »Ich habe ordentlich Geld auf den Tisch gelegt und mir einen Experten für Sicherheit geholt, der Superreiche mit Panikräumen ausstattet. Und besagter Mann hat meine Wohnung aufgepimpt.« Er legte die Schublade auf den Tisch. »Hier kommt niemand mehr leicht rein. Nicht das SEK, kein marokkanischer Folterknecht und sicher nicht Mazurs Leute.« Chandu holte eine Pistole heraus und warf sie Viktor zu. Jan entsicherte seine Waffe.
Es knallte laut an der Tür, als würde jemand etwas Schweres dagegenschlagen. »Das ist eine schwere Stahltür, kugelsicher und mit acht Zargen, die in einen verstärkten Rahmen greifen. Keine Ramme reißt die aus der Verankerung.« Chandu machte eine unflätige Geste in diese Richtung. Dann nahm er eine Taschenlampe aus der Schublade und gab sie Zoe.
»Ich habe in meinem Abstellraum verbotenerweise ein schmales Stück Wand herausgenommen und durch eine Stahlklappe ersetzt«, sagte er zu ihr. »Von dort kommt man in einen Versorgungsschacht. Ist stickig, warm und eng, aber am Ende des Schachts befindet sich ein Gitter. Wenn du es herausziehst, bist du am Quergang. Durch das gegenüberliegende Fenster gelangt man zur Feuertreppe in den Hof.« Er warf Helena eine handliche kleine Pistole zu. »Wenn unten irgendwelche Typen herumstehen, geht ihr aufs Dach und versteckt euch, bis wir euch holen oder die Polizei kommt.«
Ein lauter Schuss erklang und die Tür vibrierte.
»Das war eine Schrotflinte«, sagte Jan. Er richtete die Pistole auf die Tür.
»Kommt mit!«, rief er Max, Zoe und Helena zu. Er führte sie in den Abstellraum und schob ein großes Regal mit Werkzeug zur Seite. Dahinter war eine große Metallklappe, kaum einen Meter hoch und nicht viel breiter. Er zog einen schweren Riegel zurück und schob die Klappe auf.
Zoe leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Lichtstrahl fiel auf eine Vielzahl kleinerer Rohre, die von Chandus Wohnung wegführten. »Das wird eng«, sagte die Rechtsmedizinerin. »Aber nacheinander könnte es gehen.«
Ein weiterer Schuss dröhnte.
»Los jetzt«, sagte Chandu und deutete in den Gang.
Zoe boxte ihm an die Schulter. »Du passt auf dich auf«, sagte sie drohend. »Wenn dir was passiert, knall ich dich ab.«
Er nahm ihren Kopf in seine großen Hände und küsste sie auf die Stirn. »Mach, dass du wegkommst, Bitch.«
Dann drückte er Max fest an seine Brust und schlug ihm auf die Schulter. Ein weiterer Schuss ertönte.
»Sie versuchen es durch die Wand!«, schrie Jan.
Chandu zog seine Pistole und nickte Helena zu. Sie erwiderte die Geste grimmig und kroch hinterher.
Als sie im Schacht verschwunden waren, machte er die Klappe wieder zu und schob das Werkzeugregal davor. Zurück im Wohnzimmer, konnte Chandu sehen, dass der Putz neben der Tür Risse bekommen hatte. »Es ist eine tragende Wand aus Stahlbeton«, sagt er. »Das wird nicht leicht.«
»Die Schießerei muss doch jemand mitbekommen«, sagte Viktor.
»Das hört das halbe Viertel, aber unsere neuen Freunde haben irgendwo einen Störsender installiert, der den Mobilfunk blockiert«, sagte Jan. »Die Polizeiwache ist zu weit weg. Wenn nicht zufällig ein Streifenwagen vorbeifährt, bekommen wir die nächste Zeit keine Hilfe.«
Ein weiterer Schuss dröhnte und Chandu ging hinter der Couch in Deckung. »Mit wem haben wir es zu tun? Mit Mazur oder dem Marokkaner?«
»Schwer zu sagen«, sagte Viktor. »Mein Gefühl sagt mir, Mazur. Der wird durchgedreht sein, nachdem wir nicht mehr in das Versteck zurückgekommen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts mitgenommen außer unserer Kleidung, sind mit der U-Bahn gefahren und doch hat er uns gefunden.«
Mit der nächsten Explosion flog ein kleines Stück des Putzes heraus. Chandu nahm die Schublade zu ihnen nach hinten.
»Ich habe fünfhundert Schuss für Viktors und meine Glock. Außerdem noch eine Pistole für dich, wenn du eine brauchst«, sagte er zu Jan.
»Wenn die erst drin sind, werden wir nicht lange standhalten können«, sagte er. »Die Couch schützt uns vor Pistolenkugeln, aber nicht gegen Schrotflinten.«
»Wir müssen, so lange es geht, durchhalten«, sagte Chandu. »Unter meinem Bett habe ich noch eine Remington 700, die ich für meinen Bruder aufbewahre. Die wird uns aber auf kurze Distanz nicht viel nützen.«
Jan riss die Augen auf. »Ist die Bank noch in der Oranienburger Straße?«
»Ich bin sogar Kunde.«
»Sieht man sie von hier?«
»Wenn du dich etwas aus dem Fenster lehnst, siehst du sie an der Straßenecke links.«
»Hol das Gewehr«, sagte Jan. »Ich habe eine Idee.«
Chandu rannte ins Schlafzimmer, als ein weiterer Schuss den Putz bis zur Couch spritzen ließ. Er hob instinktiv den Arm, ging zum Bett und warf es mitsamt dem Rost einfach um. Dann riss er das lose Brett im Parkett ab und hob einen Koffer heraus.
Ein weiterer Schuss ertönte. Als Chandu ins Wohnzimmer kam, war die Luft von Staub erfüllt. Jan und Viktor knieten hinter der Couch und schossen auf das melonengroße Loch in der Wand. Ein Mann im Gang schrie.
»Das lässt sie vorsichtiger werden«, sagte Jan zufrieden und ging wieder in Deckung.
»Was hast du vor?«, fragte Chandu, als er das Gewehr zusammensetzte.
Die Antwort ging in einem Schuss und einem Hagel an Putz unter.
»Verschafft mir zwanzig Sekunden«, sagte Jan. Er öffnete das Fenster, legte das Gewehr an und schoss auf die Straße.
Max hatte kein Problem mit engen Räumen, aber der Gang war bedrückend schmal. Sie mussten sich an den Rohren vorbeiwinden, immer in der Angst, stecken zu bleiben. Im Licht der Taschenlampe konnte er das Ausstiegsgitter vor ihnen sehen, kaum zehn Meter entfernt, aber auf dem Bauch kriechend, wirkte es unendlich weit. Unter normalen Umständen wäre das schon schwierig gewesen, aber das Haus hatte sich inzwischen in eine Hölle verwandelt. Das Mauerwerk vibrierte von den dumpfen Schüssen, dazu die Schreie eines verletzten Mannes und das Trampeln von Stiefeln auf den Treppenstufen.
»Weiter, weiter«, feuerte er sich an. Der Gedanke, seine Freunde zurückzulassen, war unerträglich, aber er wäre nur im Weg gewesen. Seine Waffe war die Tastatur, und damit konnte er umgehen, aber gerade wünschte er sich nichts stärker, als ein wenig mehr wie Jan zu sein. Oder wie Chandu. Mit Pistolen schießen zu können und nicht beim ersten Knall ängstlich zusammenzuzucken.
Doch sie würden sich nicht verkriechen. Vielleicht gab es auf der Straße eine Möglichkeit, Hilfe zu holen, und wenn sie ein Auto entführen und in die nächste Polizeistation rasen mussten. Irgendetwas würden sie versuchen, aber dazu mussten sie erst hier rauskommen.
»Weiter, weiter«, murmelte er wieder. Schweiß lief ihm die Stirn hinunter und er keuchte vor Anstrengung.
Dann hielt Zoe an. Sie waren am Gitter. Max hob den Kopf. Soweit er über ihre Schulter sehen konnte, war niemand draußen im Gang. Sie rüttelte kurz am Metall, drückte es nach außen und ließ es vorsichtig zu Boden gleiten. Dann streckte sie ihren Kopf hinaus und rutschte anschließend selbst in den Gang. Von draußen packte sie Max an den Armen und zog, bis auch er aus der Röhre war. Er atmete hörbar aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als ihn ein weiterer Schuss zusammenzucken ließ. Der Knall war viel zu nah. Zoe lief zum Außenfenster, entriegelte es und kontrollierte die Umgebung.
»Alles in Ordnung«, sagte sie leise. »Wir gehen runter.«
Sie zog ihre Schuhe aus, stieg über den Notausgang auf die Feuertreppe und über diese nach unten. Max und Helena folgten ihr. Der Hof war leer. Wahrscheinlich hatten ihre Angreifer nicht mit einem geheimen Fluchtweg gerechnet und bewachten nur den Ausgang. Die Bewohner hatten vor Angst die Rollläden heruntergelassen und lagen wahrscheinlich zitternd unter ihren Betten. Überall war das Licht gelöscht, niemand zeigte sich.
Zoe deutete nach links. »Das ist der Haupteingang«, sagte sie leise. »Dort würden wir den Angreifern direkt in die Arme laufen, also gehen wir hinten raus.« Sie drehte sich nach rechts um und schlich los. Nach zwanzig Metern hatten sie eine kleine Tür erreicht. Zoe drückte die Klinke vorsichtig hinunter und spähte durch den Schlitz nach draußen. Dann öffnete sie die Tür vollständig und hastete weiter.
Wieder dröhnte ein lauter Schuss. Dann schien das Feuer erwidert zu werden, als Pistolenschüsse durch die Nacht hallten.
»Wir müssen zur Hauptstraße.« Zoe rannte barfuß bis zur Ecke des Hauses. Sie streckte ihren Kopf nach vorne. Dann erstarrte sie. Die Schuhe fielen ihr aus den Fingern und sie ballte eine Faust.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Max besorgt.
Mit grimmigem Gesicht drehte sich Zoe um und riss Helena die Pistole aus der Hand.
»Ihr wartet hier«, sagte sie bestimmt. Bevor Max etwas antworten konnte, war sie schon losgerannt.
Viktor erhob sich aus seiner Deckung, gab drei schnelle Schüsse ab und ging wieder hinter die Couch. Er wirkte erfahren und gut trainiert. Seine Bewegungen waren kontrolliert, ohne Nervosität. Chandu war froh, dass er bei ihnen geblieben war. Sie konnten alle Hilfe gebrauchen, aber selbst dann wusste er nicht, ob sie überleben würden.
Der große Sessel neben der Couch war in Stücke geschossen. Das Füllmaterial war durch das Wohnzimmer verteilt. Noch war das Loch in der Wand zu klein, um durchzukriechen oder den Kopf durchzustrecken, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis es ausreichend war. Die Männer nutzten die Ramme, die bei der Tür versagt hatte, um systematisch Stücke aus der Wand herauszuschlagen.
Jan kam vom Fenster zurück und legte das Gewehr auf den Boden.
»Erledigt«, rief er.
»Auf was hast du geschossen?«
»Auf die Bankfiliale«, sagte Jan. »Genau genommen auf das Fenster.«
»Das ist kugelsicher.«
»Nicht wenn man zehn Mal dieselbe Stelle trifft«, sagte Jan. »Dann zerspringt die Scheibe und es zerlegt den Geldautomaten dahinter.« Er zog seine Pistole. »Die Sicherheitsanlagen von solchen Geldinstituten sind unabhängig vom allgemeinen Strom- und Funknetz«, fuhr Jan fort. »Der Alarm geht direkt zur nächsten Dienststelle. Wahrscheinlich ist schon eine Streife auf dem Weg zur Bank und die werden mitbekommen, was hier läuft.«
»Hoffentlich halten wir so lange durch«, sagte Chandu.
»Das werden wir«, sagte Jan und schlug ihm auf die Schulter.
Der große Mann erwiderte das Lächeln, als Viktor zu ihnen sprang und sie zu Boden drückte. »Granate!«, schrie er.
Dann kam die Detonation.
Die schwere Explosion ließ Zoe nur kurz zucken. Glasscherben fielen klirrend auf die Straße, Staub rieselte zu Boden, aber ihr Blick war auf das Auto vor ihr gerichtet, einen schwarzen SUV mit protzigen Reifen.
Der Mann davor bemerkte sie einen Moment zu spät. Marcel drehte sich um, hob seine Waffe, aber Zoe hatte schon abgedrückt. Sein Knie explodierte in einer Blutfontäne. Marcel fiel schreiend zu Boden. Zoe gab einen zweiten Schuss ab, der ihn in die rechte Schulter traf, während ihre andere Hand am Autogriff zog. Sie riss die Tür auf und richtete ihre Waffe auf den Kopf des darin sitzenden Mannes. Seine Hand war unter seinem Mantel, verharrte aber, bevor er etwas herausziehen konnte.
»Hallo, Tony«, sagte Zoe und setzte sich neben ihn. Draußen wälzte sich der blutende Marcel schreiend am Boden, daher machte sie die Tür zu.
Ihr Vater zog die Hand vorsichtig hervor.
»Du nimmst jetzt dein Funkgerät und rufst deine Leute zurück oder ich ballere den Rest meines Magazins in dich rein.« Ihre Augen blitzten vor Wut und ließen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit.
»Zoe, versteh doch …«
Sie schoss ihm durch die linke Hand. Das Blut spritzte bis an die Fenster. Mazur schrie vor Schmerz und starrte auf das Loch in seinem Handballen. Sein Hemdsärmel färbte sich rot.
»Glücklicherweise bist du Rechtshänder.« Sie drückte ihm die Pistole auf ein Knie. »Ruf deine Männer zurück oder du wirst nie wieder richtig laufen können. Und zwar in drei Sekunden, zwei Sekunden …«
»Okay!«, schrie er und griff mit seiner unverletzten Hand hektisch nach dem Gerät.
»Eine Sekunde.«
»Abbruch!«, schrie Mazur. »Sofort abbrechen!«
»Bitte bestätigen«, hakte ein Mann nach. Im Hintergrund krachte ein Schuss.
»Zurückziehen«, sagte Mazur. »Sofort.«
»Wird gemacht.«
Zoe nahm ihm das Funkgerät aus der Hand und wartete. Die Schüsse hatten aufgehört. Es war gespenstisch still, bis eine Sirene ertönte. Dann sah sie das Blaulicht des Einsatzwagens. Zoe ließ das Funkgerät fallen und blickte in die Augen ihres Vaters. Sie konnte seine Angst sehen, die Schmerzen von der durchschossenen Hand und seine Panik wegen der näher kommenden Polizei. Verschwunden waren die Arroganz und Sicherheit, dass er irgendwie entkommen könnte. Seine Aura der Macht war dahin. »Ich habe dich gewarnt, Tony.« Sie drückte ihm die Pistole auf die Stirn. »Hier endet es.«
Obwohl der Beschuss aufgehört hatte, kam Jan erst aus der Deckung, als er die Sirenen der Polizeiautos vernahm. Seine Augen tränten von dem Staub. Er konnte kaum atmen und sein Hals kratzte rau. Das Fenster war zerstört und die Scherben knirschten, als er sich erhob. Die Couch war zerfetzt und die Schaumstofffüllung lag überall im Wohnzimmer verteilt, vermischt mit den Resten der Knüpfteppiche. Die Stühle am Esstisch waren umgeworfen und Splitter der Granate hatten sich in die Küchenschränke gebohrt. Er legte die Pistole an und zielte auf die zerstörte Wand, aber die Männer dahinter schienen verschwunden zu sein.
Blaulicht erhellte die Straße. Jan hastete zur Öffnung neben der Tür. Er vernahm keine Stimmen und hörte keine Schritte. Er spähte vorsichtig hinaus, konnte aber in dem dunklen Gang niemanden sehen. »Die Luft ist rein«, sagte er.
»Granaten«, fluchte Chandu hinter den Resten der Couch. »Warum muss jeder, der bei mir einbricht, immer gleich mit einer Granate kommen? Gibt es die irgendwo im Supermarkt?« Er erhob sich aus seiner Deckung. Seine schwarzen Haare waren weiß von Gips. Kleine Schaumstoffflocken klebten an seinem Hemd. »Nach dem Grabmörder habe ich das ganze Parkett erneuern müssen und jetzt schau dir das an.« Er deutete auf den Boden, in dem sich ein kleiner Krater gebildet hatte. »Das ist amerikanische Walnuss, ihr Ärsche!«, schrie er hinaus in der Hoffnung, dass seine Angreifer ihn noch hören konnten. »Wisst ihr, was das kostet?«
»Die Kripo Berlin wird dir bei den Verhandlungen mit deiner Versicherung helfen«, sagte Jan.
»Das will ich hoffen«, erwiderte der große Mann. »Sonst treffen wir uns zukünftig bei Bergman im Wohnzimmer.«
Viktor kroch hinter einem Metallgestänge hervor, das kaum noch an einen Sessel erinnerte. Er hatte eine blutende Schramme an der Stirn, die aber nicht tief zu sein schien. Er fasste an die Wunde und betrachtete ungerührt das Blut an seinen Fingern.
»Seid ihr in Ordnung?«, fragte Jan. Viktor und Chandu nickten. »Unsere Besucher sind weg und laufen direkt in die Arme der Polizei.«
»Schauen wir doch mal nach.« Chandu überprüfte das Magazin seiner Pistole. »Vielleicht brauchen deine Kollegen noch Hilfe und wir wollen doch artig Auf Wiedersehen sagen.« Der große Mann machte sich nicht die Mühe, die Tür zu nehmen, sondern sprang durch die Öffnung und rannte los.
»Das nenne ich mal einen großen Fang«, sagte Bergman. Zufrieden lächelnd beobachtete er, wie Mazur in das Polizeiauto geführt wurde. Seine Hand war dick verbunden und er schien starke Schmerzen zu haben.
»Könnte man so sagen«, bemerkte Jan, während er sich den Staub von der Kleidung klopfte. »Vor zwei Stunden wussten wir nicht, wie wir weitermachen sollen, und jetzt haben wir Mazur und seine Buchhalterin.«
»Nicht zu vergessen auch einen Hinweis auf den Mörder von Milber, Namik und Huebner«, ergänzte Chandu. Er hatte sein Hemd ausgezogen und versuchte, den Schaumstoff abzuschütteln.
»Bei Letzterem werde ich mit Interpol zusammenarbeiten«, sagte Bergman. »Den irren Marokkaner ziehen wir aus dem Verkehr. Und seine Helfer gleich mit.«
»Dann brauchen wir nur noch eine Spur zu Jans Beinahemörder«, sagte der große Mann und rieb sich den Gips aus dem Haar.
»Wir haben nicht nur Mazur, sondern auch noch vier seiner Männer ergreifen können«, sagte Bergman. »Einer von denen wird reden. Dann können wir auch dieses Kapitel abschließen.«
Jan betrachtete Chandus Wohnung von unten. Die Fenster waren zerstört und die Rahmen herausgebrochen. Teile der Fassade lagen auf der Straße.
»Während der Renovierung kannst du gern bei mir übernachten«, sagte Jan. »Jetzt, wo ich wieder unter den Lebenden weile.«
»Wir werden dafür aufkommen«, sagte Bergman fröhlich. »Versprochen.«
»Haben Sie was getrunken?«
»Noch nicht, aber das hole ich nach.«
Jan sah mit einem fragenden Seitenblick zu Chandu.
»Morgen ist meine Anhörung«, fuhr Bergman fort. »Eigentlich sollte ich dort gekreuzigt und gevierteilt werden, aber jetzt ist die Sache eine andere. Ich werde diese Geschehnisse noch vor der Presse geheim halten und dann morgen die Bombe platzen lassen.« Er seufzte zufrieden. »Jetzt gehe ich nach Hause und öffne meinen fünfzig Jahre alten Bourbon.« Bergman hob die Hand zum Abschied. »Gute Arbeit, Leute. Und schön, dass du zurück bist, Jan.«
»Einen Schluck von dem Bourbon hätte ich auch genommen«, murrte Chandu und zog sein Hemd wieder an.
Jan sah sich um und erntete einige verwunderte Blicke. Die meisten Kollegen waren auf seiner Beerdigung gewesen. Aber jetzt war nicht der Moment, um alles aufzuklären. Dafür gab es noch zu viel zu tun.
Helena kam zu ihm und schüttelte seine Hand. »Ich danke Ihnen, Kommissar Tommen. Ihnen und Ihren Freunden. Auch im Namen meines Bruders.« Viktor stand nur wenige Schritte hinter ihr und war in ein Gespräch mit Patrick verwickelt.
»Dafür bin ich bei der Kripo.« Jan nickte ihr zu. »Wir werden uns im Rahmen der Ermittlungen sicher noch öfter sehen.«
Sie lächelte ihm zu. Dann ging sie zu ihrem Bruder und hakte sich bei ihm unter.
»Na, toll«, sagte Max und hob die Reste seines kaputten Laptops hoch. »Letzte Woche habe ich noch das Motherboard ausgetauscht.«
»Du findest einen neuen.« Jan umarmte den Hacker. Er war glücklich, dass sein junger Freund diesen Wahnsinn unversehrt überlebt hatte.
»Es geht hier um den ideellen Wert«, erklärte Max. »Ich hänge sehr an meinen Geräten.« Er strich mit den Fingern über das Gehäuse.
Jan gab ihm noch einen Klaps auf die Schulter, als er sich aus der Umarmung löste. Neben einem Einsatzfahrzeug stand Zoe, barfuß, eine Decke umgehängt und eine Zigarette in der Hand. Sie verfolgte die Verhaftung ihres Vaters, wie er ins Auto gebracht wurde, wie die Sirene und das Blaulicht angingen. Sie sah dem Auto nach, bis es am Ende der Straße abbog und nicht mehr zu sehen war.
Jan stellte sich neben sie und nahm sie in den Arm. Eigentlich hasste sie Zutraulichkeit, aber in diesem Moment fühlte es sich richtig an. Sie wehrte sich nicht und ließ es geschehen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Jan.
»Gut«, sagte sie lächelnd. »Wirklich gut.«