Zwei
Cameron
A rbeitstage, die mit verschüttetem Kaffee und einer respektlosen Person begannen, senkten meine Reizbarkeitsschwelle auf ein gefährliches Maß. Glücklicherweise hielt ich stets Ersatzkleidung parat. Ein Segen für diejenigen, die heute auf mich treffen würden.
Eine Sekunde stutzte ich und versäumte es, meine Assistentin aufgrund des falschen Raumes zusammenzustauchen.
»Cameron, schön, dich zu sehen.« Henry Lewis, einer unserer Seniorpartner, stand unvermittelt neben mir.
»Was hat diese Frau hier zu suchen?«, blaffte ich ohne eine Begrüßung.
Sichtlich verwundert über meine Worte, zog er die Stirn in Falten. »Das ist eine der Bewerberinnen für den Job der Anwaltsgehilfin.«
»So?« Niemals wirst du in meiner Kanzlei einen Job erhalten.
»Übrigens eine der vielversprechendsten Anwärterinnen.« Freundlich trat er auf sie zu. »Ms Noris, entschuldigen Sie die Verzögerung.«
»Kein Problem, Mr Lewis, ich habe gern gewartet«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Meine Qualifikationen rennen Ihnen nicht weg.« Ihre Tonlage strotzte vor Selbstsicherheit. Als Krönung erwies sich jedoch der kokette Blick, den sie mir zuwarf. Du legst es wohl geradezu darauf an, hier nicht zu arbeiten. Äußerlich blieb ich ungerührt.
Im Laufe meiner Karriere hatte es unzählige Junganwälte, Anwaltsgehilfinnen und potenzielle Seniorpartner gegeben, die sich ein Bein für einen Job hier ausgerissen hätten. Und was wagte sie? Eine solche Großspurigkeit war unfassbar.
Sichtlich amüsiert bot Henry ihr einen Platz an, anstatt sie postwendend hinauswerfen zu lassen. »Zum Glück, wenn ich Ihre Qualifikationen bedenke.«
Unter seinem erstaunten Blick drehte ich mich wortlos um, ließ die Tür offen und suchte verärgert den korrekten Besprechungsraum auf, in dem bereits der Mandant wartete.
Kanzleien wie unsere haben für unzählige angehende Juristen einen besonderen Reiz. Unser Wirtschaftsressort spielte global in der höchsten Liga, zusammen mit Großkonzernen und Regierungen verschiedener Staaten. Der Name stand für herausragende Arbeit und eine Menge Geld. Das sind die Zutaten, die den großen Lawfirms dieser Welt ihren Glanz verleihen, und bereits auf dem College strotzte ich vor Selbstvertrauen und wusste, dass ich genau dort hingehörte.
Die Großkanzlei, von der ich nach der Law School in Harvard angeworben wurde, zählte seit Jahren zu den Big Playern und trug damals den Namen Wilson, Hall & Young . Der Einstieg als Junganwalt bedeutete, sein Leben in einem Gemeinschaftsbüro zu verbringen, durch halbhohe Trennwände auf zwei Quadratmeter abgeteilt. Dazu einen Schreibtisch, PC, Telefon und einen Beistelltisch für die Aktenstapel, die es durchzuackern galt. Die Bosse erwarteten von uns, die gesamte Nacht durchzuarbeiten. Urlaub oder freie Tage gab es nicht.
Gewohnt, stets zu den Besten zu gehören, durchlief ich eine harte Schule. Der Seniorpartner namens Jack Carter, der sich für unsere Betreuung zuständig zeigte, mochte mich nicht und hielt mit dieser Tatsache nicht hinter dem Berg. Argwöhnisch beäugte er meine bereits damals teure Garderobe, nannte mich einen Großkotz und Emporkömmling. Gnadenlos bombardierte er mich mit Schriftsätzen, die ich zu kontrollieren hatte. In fast jedem der Fallakten entdeckte ich Unstimmigkeiten, minimale Fehler, die aber möglicherweise für den Mandanten und letztendlich die Firma einen negativen Ruf und finanzielle Einbußen mit sich gebracht hätten.
Er schaffte es nicht, mich kleinzukriegen.
Und ja, ich stimmte der Einschätzung von Carter zu. Um in einer renommierten Großkanzlei oben mitzumischen, bedurfte es, neben brillanter Arbeit, einer souveränen Persönlichkeit, idealerweise mit einem Alleinstellungsmerkmal. Mut zum Risiko und sich niemals in die Karten schauen lassen – das Spiel beherrschte ich in Perfektion. Ich verglich es mit Poker.
An ein Beispiel erinnerte ich mich immer wieder gern zurück, denn es zeigte exakt die erfolgversprechende Strategie. Bei einem wichtigen Abendessen im Kreise der Vorstände der Kanzlei trug ich eine geliehene Luxusuhr im Wert von ungefähr vierzigtausend Dollar und gab Folgendes zum Besten:
»Eine teure und edle Uhr ist eine Investition. Es ist eine elegante Art, Respekt für Qualität zu zollen und erlesenen Geschmack zu beweisen, und natürlich ist es ein Hinweis auf Ihre steile Karriere. Denn Sie können Ihren Porsche nicht in den Sitzungssaal fahren, dafür aber eine Luxusuhr tragen.«
Mit einem Jahreseinkommen von circa einer Million Dollar und der Ernennung zum Namenspartner nach fünfzehn Jahren harter Arbeit war ich zufrieden, dennoch weiterhin hungrig und bissig. Die Zielvorstellung hieß Namenspartnerschaft.
Ive Chapman, eine der wenigen Frauen, die es bis zur Spitze gebracht hatten, strebte dasselbe Ziel an. Heute standen Chapman & Franklin auf den Firmenschildern. Direkt hinter Wilson , dem Mann, der diese Sozietät gegründet und ihr Größe verliehen hatte.
Dass meine Namenspartnerschaft durch ein tragisches Ereignis für kurze Zeit am seidenen Faden hing, betrachtete ich als den einzigen Schlenker in meiner Karriere.
Der Tag setzte sich unerfreulich fort. Einer unserer Klienten, der wissentlich kostengünstige Elektronikgadgets eingebaut hatte, verhielt sich verbohrt und extrem uneinsichtig, pochte auf eine aussichtslose Klage. Damit strapazierte er mein Nervenkostüm. Bevor ich meine Statistik mit einem verlorenen Prozess befleckte, schlug ich einen Vergleich vor, den er ablehnte. Kurzerhand schickte ich ihn mit einem Ultimatum nach Hause.
»Mr Franklin, Sie sind der Ansicht, dass ich einen Fehler begehe?«, konfrontierte er mich bei der Verabschiedung.
»Tja …« Ich deutete ein abschätziges Lächeln an. »Ich weiß, dass Sie verlieren, daher ist es unklug, den Vergleich abzulehnen.« Wir schüttelten uns die Hände. »Ich werde es so lange wie möglich hinauszögern, doch wenn Sie pleitegehen oder ins Gefängnis wandern, ist das nicht mein Problem.« Der Blick, mit dem ich ihn fixierte, löste Unsicherheit aus. »Denn ich zwinge niemandem eine Entscheidung auf.«
»Ich ziehe es gegebenenfalls in Betracht, Mr Franklin.« Na also. »Vielleicht haben Sie recht.«
»Gewiss habe ich das, und es ist Ihnen bewusst. Schlafen Sie eine Nacht darüber, und geben Sie mir morgen Bescheid, ob ich das Angebot erstellen soll, das wir den Geschädigten vorlegen.«
Gemeinsam gingen wir zum Fahrstuhl. Gut sichtbar prangten die Namen Wilson, Chapman & Franklin an der Wand. Kurz bevor er einstieg, schickte ich ihn mit einer unmissverständlichen Message nach Hause. »Wissen Sie, warum inzwischen mein Name hier steht?« Es handelte sich um eine rhetorische Frage. »Ich pokere hoch, doch verzichte ich auf ein All-in, sobald ich Warnsignale empfange.« Der Mandant sah mich irritiert an. Die Türen des Lifts schlossen sich, und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er sich meiner Strategie anschließen würde.
»Miss Noris, ich bin davon überzeugt, dass Sie die besten Voraussetzungen mitbringen«, hörte ich Henry Lewis, und mein Augenmerk fiel in Richtung des Counters. Neben ihm stand sie , mit dem Rücken zu mir. Allein ihre Anwesenheit ärgerte mich. Mit forschem Schritt wollte ich ohne Reaktion an ihnen vorbeigehen.
»Cameron, wie praktisch, dass wir dich hier treffen«, bremste er mich aus. »Ich möchte dir unsere neue Anwaltsgehilfin vorstellen.« Er strahlte von einem Ohr zum anderen.
Mir entglitten wahrhaftig sämtliche Gesichtszüge.
»Bitte?« Empört registrierte ich, dass dieses unverschämte Ding sich weiterhin mit Summer unterhielt. Nur mit Mühe hielt ich mich zurück, da ich Henry nicht blamieren wollte. Grundsätzlich verfügte er über die Kompetenz, eine solche Entscheidung zu treffen, in dem Fall hatte er sich wohl vertan. »Wir sprechen später noch einmal in meinem Büro darüber.«
Langsam drehte sich Pearl um, ihre Augen funkelten mich an. »Entschuldigung, Mr Franklin … Sie lehnen mich ab, nur weil ich Sie versehentlich angestoßen habe und dadurch der Kaffeebecher auf den Boden gefallen ist? Aber wissen Sie was …« Sie kramte in ihrer Tasche und zog eine Fünf-Dollar-Note hervor. »Ich ersetze Ihnen den Kaffee.«
Chapeau. Summer grinste, Henry stutzte. Sie ist eine Wildkatze … gefährlich!
Mit einem Schritt näherte ich mich ihr, meine Nasenflügel bewegten sich, sie schluckte. »Das ist das Mindeste.« Dabei schnappte ich mir den Geldschein. »Mit fünf Dollar, Miss Noris, kommen Sie hier nicht weit, bei uns kostet ein guter Kaffee mindestens das Doppelte.« Ich nickte den dreien zu. »Und Henry, ich erwarte dich in meinem Büro.«
Ich drehte mich um und spürte förmlich die Blicke in meinem Rücken. Über Pearl Noris’ Einstellung war noch nicht das letzte Wort gesprochen.
»Mr Franklin, es tut mir wegen des falschen Raumes leid«, empfing mich Jenifer und sprang von ihrem Stuhl auf. Du bist die bislang dämlichste Assistentin, mit der ich mich seit drei Jahren herumschlage. Nicht eine erfüllte die Ansprüche, die ich an sie stellte. Verlegen trat sie vor ihren Tisch.
»Sind Sie überfordert?« Mit eisiger Miene baute ich mich vor der zierlichen Frau auf. Natürlich war sie überlastet, so, wie ich sie mit Aufgaben überhäufte. »Wie lange arbeiten Sie jetzt für mich?«
»Seit fünf Wochen.« Verunsichert senkte sie den Kopf und stand mit gefalteten Händen vor mir.
»Und in der Zeit ist es Ihnen nicht gelungen, sich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen?« Meine Tonlage verschärfte sich.
»Doch, es war ein Zahlendreher … wie gesagt, es tut mir leid.« Ihre Unterlippe zitterte.
»Ja, ja.« Abschätzig winkte ich ab, drehte mich um und verschwand in meinem Büro. Durch die verglaste Front verfolgte ich kurz, wie sie sich mit hängenden Schultern setzte.
»Oh man, oh man.« Übellaunig fläzte ich mich auf die Designercouch und fuhr mit den Händen übers Gesicht. Mein Blick wanderte durch das großzügige Eckbüro, das mit einem Statussymbol gleichzusetzen war. Ähnlich der kostspieligen Uhr. In diesem Raum hielt ich mich gefühlt Tag und Nacht auf, abgesehen von Außenterminen und den wenigen Stunden Schlaf, die ich mir in meinem Luxusappartement an der Upper East Side gönnte.
Auf dem großflächigen Schreibtisch aus Glas und Chrom standen ein trendiges Notebook von Apple, das Herzstück meines Schaffens, und ein Montblanc Füller zum Unterschreiben der Deals, und damit hörten die persönlichen Utensilien auf. Das aktuelle Ärgernis waren etliche Stapel ungeordneter Unterlagen, Schriftsätze, Gesetzestexte, die das stets aufgeräumte Bild beeinträchtigten.
Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück und winkelte die Arme hinter dem Kopf an. Das Telefon, das mich für meinen Geschmack viel zu oft störte, würde eh gleich klingeln, also konnte ich mir einen Fünfzehn-Minuten-Powernap gönnen.
Weshalb reagierte ich auf Pearl Noris mit einer derartigen Ablehnung? Ja, der Anrempler führte zu einem furchtbar schlechten ersten Eindruck. Aber das war nicht alles. Für einen klitzekleinen Moment war ein lang verlorenes Gefühl aus den Tiefen meiner Seele an die Oberfläche gekrochen. Eines, dem ich abgeschworen hatte. Ihre schlagfertige Reaktion überraschte mich und löste Erinnerungen aus, auf die ich ebenfalls gern verzichtet hätte. Wie war es möglich, in wenigen Sekunden emotional so unfassbar viel wahrzunehmen?
Die Erleichterung, ihr in dem Moloch New Yorks nie wieder zu begegnen, hatte sich schlagartig in Ärger und Ablehnung verwandelt. Was für ein beschissener Zufall. Ihr fast liebliches Aussehen mit ihren ebenen Gesichtszügen, einer Stupsnase und den wohlgeformten Lippen mit einem ausgeprägten Lippenherz standen im krassen Gegensatz zu ihrem Verhalten. Eine widerspenstige Person in einem 08/15-Kostüm von der Stange, der ich nicht mehr über den Weg zu laufen gedachte.
Ohne anzuklopfen, stürmte Henry in mein Büro und riss mich aus den Gedanken. Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können. Optisch klein und auch damals in Harvard nicht der Sportlichste, gehörte er nicht zu denen, die wie ich von zig Bewunderern umgeben waren. Henry besaß bereits zu der Studienzeit ein Gespür dafür, in Fettnäpfchen zu treten. Bei ihm trafen ein genialer Zahlenmensch und der beste Anwalt in Finanzfragen auf einen Hypochonder. Mit einer Hingabe zelebrierte er seine vermeintlichen Leiden und investierte ein Vermögen für die skurrilsten Heilmethoden. Liebenswert, dennoch anstrengend.
Seine übertriebene Dynamik nervte immens, entsprechend fiel meine Reaktion aus.
»Schon mal was von Anklopfen gehört?« Das folgende Gespräch wollte ich nicht in relaxter Haltung auf dem Sofa führen und stand auf.
»Seit wann muss ich das?«
»Seit heute.« Ich setzte mich an den Schreibtisch.
»Ich übergehe jetzt bewusst deine miserable Laune, denn ich habe die perfekte Mitarbeiterin gefunden.« Es fehlte lediglich ein begeisterter Luftsprung, um die überschwängliche Freude seines vermeintlich personellen Coups zu unterstreichen.
»Vielleicht punktet sie mit einer gewissen Leistung, definitiv nicht mit angemessenem Benehmen.« Der Montblanc-Füller wanderte spielerisch durch die Zwischenräume meiner Finger und ich wippte mit dem Stuhl minimal hin und her.
»Du wirst deine Meinung über sie revidieren, sobald du ihre Zeugnisse und Empfehlungen siehst.« Obwohl es mich nicht interessierte, warf er mir die Mappe auf den Tisch. »Los, schau sie dir an.«
»Ich vertraue auf deine Kompetenz in Sachen Qualifikation, allerdings ist Menschenkenntnis nicht deine Stärke.« Ungerührt verfolgte ich, wie seine Euphorie verblasste. »Sie passt nicht zu uns.«
»Was redest du da?« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Sie verfügt über eine Art fotografisches Gedächtnis, es ist der Wahnsinn.«
Bevor er weiter ausholte, bremste ich ihn aus. »Genau das ist es, was ich meine.« Er lieferte mir eine Steilvorlage. »Bei einer solchen Begabung handelt es sich meistens um Menschen mit Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus.« Dynamisch sprang ich auf und ignorierte Henrys Irritation. »Kontakt- und Kommunikationsstörung, Einschränkungen im Interaktionsverhalten, mangelndes Einfühlungsvermögen, Inselbegabung und das Festhalten an Gewohnheiten und Ritualen«, ratterte ich die medizinischen Symptome herunter. »Reicht das?«
Zu meiner Verwunderung knickte er nicht ein, sondern griff sich die Mappe mit ihren Unterlagen. »Cameron, es ist mir scheißegal, was du ihrer Fähigkeit an Merkmalen zuordnest …« Seine Stimme wurde lauter. »Ich besitze die Kompetenz, eine passende Mitarbeiterin zu finden, und die heißt Pearl Noris, ob es dir gefällt oder nicht.«
»Ich bin Namenspartner, und das letzte Wort habe ich.« Mit den Handflächen stützte ich mich auf der Glasplatte ab und neigte den Oberkörper vor. Innerlich baute sich ein Sturm auf. »Ist das bei dir angekommen?« Du reagierst völlig über. Bei dem Gedanken, ihr täglich zu begegnen, schnellte mein Puls in die Höhe.
»Gut, Cameron, wenn das so ist, wende ich mich an Ive, sie ist geschäftsführende Partnerin«, rieb er mir die Hierarchie unter die Nase. »Sie hat das letzte Wort.« Ohne eine Reaktion von mir abzuwarten, rauschte er aus dem Raum.
Keine fünfzehn Minuten später bekam ich den erwarteten Besuch von Ive. Sie gehörte zweifelsohne zu den knallharten Anwältinnen in New York City und darüber hinaus. Trotz unserer Differenzen verband uns ein inniges Vertrauensverhältnis, insbesondere nach jenem gravierenden Vorfall vor drei Jahren.
»Cameron, ich muss dich sprechen.« Die groß gewachsene Frau rauschte auf ihren Stilettos und in einem perfekt sitzenden, figurbetonten Designerkleid hinein. Es entlockte mir ein Grinsen, denn vor meinem Büro harrte Henry aus. Dieser Schlappschwanz hat sich bei Mommy ausgeheult.
»Cameron.«
Ich unterbrach die Arbeit am Laptop. »Ive, du siehst wie immer fantastisch aus«, empfing ich sie, obwohl ich ihre Abneigung für Komplimente kannte. »Was kann ich für dich tun?«, fragte ich überflüssigerweise, was bei ihr das typische Augenfunkeln auslöste, sobald sie sich veräppelt vorkam.
»Die Floskeln und die Vorrede spare ich mir«, kam sie direkt auf den Punkt. »Wieso weigerst du dich, Pearl Noris einzustellen? Insbesondere, da du mit ihr keine Berührungspunkte haben wirst.«
Ihr prüfender Blick gefiel mir nicht, und erst recht nicht, dass sie auf Henrys Drängen hin hier erschien. »Sofern dieses Mädchen tatsächlich über eine Art Supergedächtnis verfügt, was zunächst jeder behaupten kann, habe ich meinen Standpunkt deutlich formuliert.« Der gereizte Tonfall blieb ihr nicht verborgen und sie zog die Stirn in Falten.
»Was stört dich daran, sollte das zutreffen? Inselbegabung, Kommunikationsdefizite, alles völlig unwichtig, wenn sie sich durch die Akten wühlt und ihren Job erledigt.« Bevor ich antwortete, sprach sie weiter. »Unsere Kanzlei beschäftigt exakt 2342 Mitarbeiter und generiert einen Jahresumsatz von 779.000 Millionen Dollar, dazu brauchen wir die Besten, Rohdiamanten, die wir nach eigenen Vorstellungen schleifen … Und sie ist definitiv eine solche Person.«
»Was macht dich da so sicher?«, hielt ich weiterhin dagegen. »Außerdem ist ihr Benehmen unmöglich. Nein, ich stimme ihrer Einstellung nicht zu.«
Zu meiner Verwunderung grinste Ive. »Mit schlagfertigen Frauen stehst du auf dem Kriegsfuß.«
»Summer hat natürlich sofort wieder die Geschichte herumgetratscht.« Genervt klappte ich den Deckel des Laptops zu.
»Nein, sie hat es ausschließlich mir erzählt, und das auch nur, weil ich sie gefragt habe.«
Meine Argumentationskette beeindruckte Ive nicht, und die persönlichen Beweggründe weigerte ich auszusprechen. Für einen Augenblick driftete ich ab, und sofort tauchte das unerwünschte Gefühl auf.
»Cameron?« Sie trat einen Schritt heran und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist der wahre Grund?«
Abrupt fühlte ich mich wie ein in die Ecke gedrängtes, wildes Tier. Meine Kieferknochen bewegten sich und ich wich ihrem Blick aus. »Macht doch, was ihr wollt.« Der Zorn, überhaupt in eine solche Lage gekommen zu sein, entlud sich glücklicherweise nicht in vollem Umfang. Dynamisch stand ich auf und drehte ihr den Rücken zu.
»Damit sind wir uns einig. Pearl Noris wird bei uns den Job der Anwaltsgehilfin in der Position einer Springerin bekommen.« Auf die Verkündung ihrer Entscheidung reagierte ich nicht.
Niederlage auf der ganzen Linie, herzlichen Glückwunsch, Mr Franklin.
»Ach Cameron.« Unvermittelt stand Ive neben mir und berührte mich mit den Fingerspitzen am Arm. Konzentriert fixierte ich einen Punkt irgendwo am Horizont. Mein Herz verkrampfte sich, und es gelang mir nicht, sie anzusehen.
»Ich kenne den wahren Grund, aber darauf darf und werde ich nicht länger Rücksicht nehmen.«