Sechzehn
Cameron
T ausende Gedanken beschäftigten mich an dem Abend, während ich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Sofa meines Büros lag. Den Blick an die Decke gerichtet durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle.
Das Gespräch mit Summer hatte mich nachdenklich gestimmt. Die neuesten Entwicklungen jedoch besaßen noch einmal eine andere Qualität. Seit Pearl hier aufgetaucht und sprichwörtlich in mein Leben gestolpert war, wurde ich gezwungen, mich mit Abigails Tod auseinanderzusetzen. Die Wut und Ablehnung, die ich Pearl zunächst entgegenbrachte, galten genau genommen mir. Eine Frau zu treffen, die mich emotional berührte, fühlte sich falsch an. Ihr im Blue Velvet nicht widerstanden zu haben, kreidete ich in erster Linie mir an.
Befand ich mich urplötzlich im Prozess des Loslassens? Kam es mir deswegen befremdlich vor? Loslassen bedeutete schließlich, sich für Neues zu öffnen. Und dies barg das Risiko, verletzt zu werden. Ja, genau davor fürchtete ich mich. Der große Cameron Franklin hatte die Hosen gestrichen voll. Hier konnte ich mich nicht hinter einer Strategie oder Paragrafen verschanzen.
Bin ich inzwischen bereit dazu? Werde ich es je sein?
So lauteten die zentralen Fragen, die sich penetrant in meinem Kopf eingenistet hatten. Waren drei Jahre zu früh oder vielleicht schon zu lang? Es lag an meiner Denkstruktur, sich auf nichts einzulassen, von dem ich nicht zumindest grob den Verlauf kannte.
Doch für die eigene Trauer gab es keinen Plan.
Unerwartet erhellte sich Pearls Arbeitsplatz. Überrascht sprang ich hoch, ging an die Tür und beobachtete, wie sie sich an den Schreibtisch setzte. Sie stützte den Kopf in die Hände. Irgendetwas stimmte nicht, unabhängig davon, dass sie um fast dreiundzwanzig Uhr im Büro auftauchte. Wenn der Fall einen nicht losließ, konnte eine spontane Nachtschicht die Folge sein.
Vorsichtig öffnete ich die Glastür und trat heraus.
»Pearl?«
Wie vom Blitz getroffen sprang sie auf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte höchste Anspannung, der verlaufene Mascara und die roten Augen verrieten, wie heftig sie geweint hatte. Mein Herz zog sich zusammen.
»Warum erschrecken Sie mich so?«, fauchte sie zu meiner Verwunderung und wandte sich ab. »Ich muss an Chemical Waller Mill arbeiten.« Sie zerrte eine Akte aus einer Kiste, knallte sie auf den Tisch, schlug sie auf und nahm wieder Platz.
»Alles in Ordnung?«, stellte ich die rhetorische Frage trotz besseren Wissens.
»Ja.«
»Sieh mich an.« Die Regeln der Ansprache fanden um die Zeit keinerlei Anwendung. Ich kam einen Schritt näher und stützte mich mit den Händen auf ihrem Schreibtisch ab. Sie schüttelte den Kopf. »Bitte.«
»Zufrieden?« Flüchtig wandte sie ihr verweintes Gesicht zu mir. »Es muss für Sie doch ein Freudenfest sein, mich in dieser Verfassung anzutreffen.«
»Nein, im Gegenteil.« Die gedämpfte Stimme sollte mein Entgegenkommen signalisieren. Bewusst ruhte mein Blick auf ihr.
Schluchzend hielt sie sich die Hände vors Gesicht.
»Ich kann nicht mehr.« Endlich hob sie den Kopf und sah mich mit zitternder Unterlippe an. »Was habe ich eigentlich verbrochen, dass ich in diesem Ausmaß bestraft werde? Dabei will … will ich doch nur alles … richtig machen und gebe mein Bestes.« Mit einem Taschentuch tupfte sie sich die Tränen ab.
»He, komm mal zu mir.« Hatte ich es mit der Arbeit übertrieben, die ich ihr auftrug?
»Wieso?« Was war in ihrem Leben passiert, dass sie selbst jetzt voller Vorsicht agierte?
»Weil ich dich darum bitte.« Tatsächlich klopfte mein Herz ein weniger schneller.
»Ist das wieder ein Spiel? Ich schaffe das heute nicht. Entschuldigung.« Die Traurigkeit in ihren Augen berührte mich. Tatsächlich bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Zulassen.
»Nein, ist es nicht.« Unsicher trat sie aus ihrem Arbeitsbereich heraus.
Zwei Menschen, von denen jeder sein Päckchen trug, näherten sich Zentimeter für Zentimeter, bis die nicht mehr vorhandene Distanz eine lang vermisste und sehnsuchtsvolle Umarmung erlaubte.
»Halt mich einfach fest.« Zitternd schlang sie die Arme um meinen Oberkörper, lehnte den Kopf an meine Brust.
Stumm legte ich einen Arm um sie, streichelte über ihre Haare und küsste sie ab und zu auf den Scheitel. Bis auf leises Summen und Knacken, das von der Unmenge an Bürotechnik stammte, gab es kein Geräusch in unserer üblicherweise turbulenten Kanzlei. Das Licht der Lampe an ihrem Schreibtisch erleuchtete einen kleinen Bereich, sonst waren die Räume in ein schales Nachtgrau getaucht.
Niemals hätte ich vermutet, einen Menschen in der Nähe des Ortes, an dem Abigail starb, liebevoll im Arm zu halten. Die Erinnerungen schnürten mir den Hals zu. Wie damals verlor ich jegliches Zeitgefühl.
»Ich muss mit dir sprechen.« Mit flatternden Augenlidern suchte Pearl meinen Blick.
»Ich auch mit dir.« Ich sprach leiser. »Es wird eine Menge erklären.« Das Bauchgefühl allerdings riet mir, zunächst ihr Anliegen anzuhören.
»Reden wir im Büro«, schlug ich vor.
Seufzend nickte sie und löste sich von mir. Zusammen gingen wir hinein und ich bot ihr einen Platz auf dem Sofa an.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Wasser … Nach den vielen Tequila in der Lea Wine Bar ist das die bessere Wahl.«
»Offenbar ist der Abend anders verlaufen als geplant«, schlussfolgerte ich und setzte mich zu ihr. Vorher reichte ich ihr eine Flasche Wasser sowie ein Glas.
»Ja, leider.« Mit fahrigen Händen schenkte sie sich ein. »Es gab ein extrem unangenehmes Zusammentreffen mit Trevor King.«
»Ach?« Verwundert zog ich beide Augenbrauen hoch. »Was wollte er? Hat er dich belästigt?«
»Es wird dir nicht gefallen, weder das eine noch das andere.« Nervös wippte sie mit dem rechten Bein.
»Egal, was es ist, ich höre mir stets die Gesamtumstände an und bewerte im Anschluss.« Ob mir das hierbei gelang? Lag ich mit dem Verdacht richtig? Vermutlich.
Tief ein- und ausatmend schloss sie für eine Sekunde die Augen. »Er erpresst mich.«
»Bitte?« Mit allem hatte ich gerechnet, aber das war unglaublich. »Was hat er gegen dich in der Hand?« Augenblicklich erhöhte sich mein Pulsschlag und klopfte unangenehm an die Schläfen. »Er ist einer der Gegenanwälte, die ich am liebsten in Grund und Boden stampfen würde.«
Nun druckste sie herum, und mir war klar, dass sie mir eine Affäre beichten wollte.
»Pearl«, mit ernster Miene suchte ich Blickkontakt. »Raus mit der Sprache.«
»Okay …« Ihre Mundwinkel fielen nach unten. »In der Collegezeit arbeitete ich, wie du inzwischen weißt, bei Goldman.« Sie kratzte sich am Hals und fuhr sich gleichzeitig durch die Haare. »Wir hatten eine Affäre und … ich … Oh Mann, es fällt mir so schwer, mit dir darüber zu sprechen.« Geduldig hörte ich ihr zu. »Naiv, wie ich war, habe ich mich auf ihn eingelassen und wurde ihm hörig.« Ja, du bist der Typ dafür. Nervös presste sie die Lippen zusammen. »Um es auf das Wesentliche zu reduzieren, er zwang mich, einen Meineid zu begehen …« Unglaublich, was für ein übler Dreckskerl. »Das Sorgerecht stand auf dem Spiel, da seine Frau von seinen Seitensprüngen die Nase voll hatte. Auch von uns wusste sie.«
»Er nötigte dich, zu beteuern, dass er nie eine sexuelle Verbindung mit dir eingegangen ist, richtig?«
»Ja, woher weißt du das?« Verwundert sah sie mich an.
»Pearl, ich bin einer der besten Anwälte dieser gottverdammten Stadt und kenne alle Tricks und Schweinereien.«
»Um der Schmierenkomödie einen glaubhaften Rahmen zu verleihen, bestand er auf eine vereidigte Aussage meinerseits.« Sie schüttelte sich. »Weder den Kindern noch seiner Frau habe ich damit einen Gefallen getan.« Mit einem tiefen Seufzer unterbrach sie das Geständnis. »Damals sah ich das logischerweise anders.«
Tja, die Liebe zwingt uns manchmal seltsame Sachen auf.
»Was fordert er?«, fuhr ich fort, ohne auf ihre Erklärungen näher einzugehen.
»Er zwingt mich, den Fall zu boykottieren, ihm alle unsere Strategien und Erkenntnisse zu übermitteln.«
»Ist er vollends durchgeknallt?« Es fiel mir schwer, die Ruhe zu bewahren. Meine Zornesfalte grub sich tief zwischen der Nasenwurzel ein. »Dass du hierhergekommen bist, ist absolut richtig.« King, ich mach dich platt. »Der Ausschluss aus der Anwaltskammer ist ihm sicher, wenn er solche Register zieht.«
Es hielt mich nichts mehr auf dem Sofa, und ich begann, auf und ab zu schreiten. Trevor King verhielt sich dreist, keine Frage, aber ein Meineid bei einer Zivilklage hatte für Pearl lediglich geringfügige Nachteile. Er hatte nichts in der Hand, um sie derart unter Druck zu setzen.
Prüfend fixierte ich sie. Inzwischen war sie in sich zusammengefallen. »Was noch?«
»Er hat versprochen, die verdammten Bilder und das Video zu löschen.« Verzweifelt schrie sie die Wahrheit heraus. »Hardcore-Sexspiele … du verstehst … Wenn das in Umlauf gerät, hat sich das mit meinem Jurastudium für alle Zeiten erledigt. Aber ich wusste nicht, dass er mich aufnimmt, ich schwöre, dass er mich gelinkt hat.«
In mir kochte die Wut. »Wieso hasst er dich so sehr, dass er dein Leben zerstören will?« Das Gespräch nahm eine Richtung an, in dem ich von Boss und Sexpartner zu ihrem Anwalt mutierte.
»Weil ich ihn in die Wüste geschickt habe, da er immer krasser wurde.« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und brach abermals in Tränen aus. Das Gefühl von Mitleid drang tief in mein Herz.
Erschöpft rappelte sie sich auf und stellte sich vor die Panoramascheibe. Für einen Moment tauchte Abigail vor meinem geistigen Auge auf. Ich habe einmal versagt, das passiert mir kein zweites Mal. Loslassen. Cameron Franklin, ring dich durch. Entschlossen trat ich hinter sie und schlang die Arme um ihren Rumpf. Erleichtert lehnte sie sich zurück.
»Pearl, wir sorgen dafür, dass er es bitter bereut, sich mit uns angelegt zu haben.«
»Danke …« Ihr Körper bebte vor Anspannung. Sie griff nach meinen Händen und drückte sie. »Ich hatte solche Angst, gefeuert zu werden.«
»Dann hätte ich das Private mit dem Geschäftlichen vermischt.«
Sie drehte sich um und sah mich mit ihren wundervollen und heute unendlich traurigen Augen an. »Da wir ebenfalls Sex hatten … sieht es vielleicht so aus, als würde ich mich durch die Büros vögeln. Ich schwöre, so bin ich nicht, ich hoffe, du denkst das nicht von mir.«
»Ein paar Zweifel kamen auf«, gab ich unumwunden zu. »Aber wenn ich dich für so eine halten würde, ständen wir nicht hier.« Danke, Summer!
Gegen den innigen Wunsch, sie zu küssen, gab es keine Hindernisse mehr. Liebevoll legte ich meine Hände an ihre vor Aufregung heißen Wangen und zog sie ein Stück heran.
»Ich sehe bestimmt schrecklich aus.« Verlegen lächelte sie.
»Manchmal gehört ein verweintes Gesicht mit verschmierter Schminke dazu.«
Endlich berührten sich unsere Lippen. Ein prickelndes Glücksgefühl wanderte von Kopf bis Fuß. Vorsichtig, so, als hätten wir uns körperlich noch nie berührt, spielten unsere Zungenspitzen das zuckersüße Spiel der Verführung.
Loslassen, zulassen und ab sofort beschützen.