Siebzehn
Pearl
D er innige Kuss stellte für mich eine Wendung dar, an die ich niemals geglaubt hätte. Dennoch rechnete ich damit, dass Cameron die Entwicklung unserer Verbindung vorerst geheim halten würde. In Anbetracht der Klage gegen CWM gestand ich ihm das zu. Zunächst hieß es, Trevor King beruflich zu zerstören. Wenn ich eines aus der gemeinsamen Zeit mit ihm gelernt hatte, war es, dass der Job sein Leben darstellte. Er definierte sich darüber und überschritt Grenzen, um Namenspartner zu werden. Für Trevor bedeutete das Mandat den entscheidenden Karrieresprung, was er mir gegenüber schamlos geäußert hatte.
»Bist du weiterhin fit?«, fragte Cameron mit einem leichten Schalk im Nacken.
Wie lange hatten wir Arm im Arm vor dem Panoramafenster gestanden? Nach dem Auf und Ab des Abends hatte ich völlig das Zeitgefühl verloren.
»Du meinst wegen des Tequila?« Seine Nähe und Wärme zu genießen, entschädigte mich zu eintausend Prozent für diesen gottverdammten Tag. Sich mit uns angelegt zu haben, welch traumhafte Formulierung.
»Genau …«
»Mal ehrlich, das Zusammentreffen mit Trevor hat jeglichen Alkohol verfliegen lassen.« Ich neigte den Kopf zur Seite. »Willst du dich jetzt dem Fall widmen?«
»Unter Umständen.«
»Wäre ich sonst hierhergekommen?« In meinem Magen flatterten die Schmetterlinge.
»Das ist auch wieder wahr …«
»Auf geht’s!« Ich klatschte in die Hände und machte mich von ihm los.
Sogleich schnappte Cameron sich eine Kiste mit den Unterlagen und trug sie zu seinem Schreibtisch.
»Mein Vorschlag ist, dass jeder von uns einen Stapel durcharbeitet und nach Verbindungen oder Parallelen sucht.« Erwartungsvoll schaute ich ihn an.
» Jawohl, Boss
»’Tschuldigung.« Unsicher hielt ich mir die Hand vor den Mund. »Ich wollte nicht vorpreschen.«
»Alles gut, genau dies waren ebenfalls meine Überlegungen.« Rasch stellte er drei weitere Kisten neben den Tisch. Mit einem leisen Seufzer holte ich Akten heraus und teilte sie in zwei Stapel auf, von denen meiner um einiges umfangreicher ausfiel. Ihm überließ ich die, die ich inzwischen gesichtet hatte. Möglicherweise fiel ihm ein Hinweis auf, den ich übersehen hatte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie er den Krawattenknoten löste, die ersten Knöpfe seines Hemdes öffnete und die Weste über die Stuhllehne hing.
»Wir brauchen eine feste Grundlage, um die Nacht durchzuarbeiten. Ich rufe Mason an, magst du Thai?«
»Nee, oder?« Begeistert leckte ich mir über die Lippen. »Ich lasse mir bei solchen Arbeitsnächten ebenfalls von ihm liefern.« Unfassbar, welche Gemeinsamkeiten bestehen.
»Umso besser.« Sofort rief er seinen Chauffeur an und gab eine umfangreiche Bestellung auf. »Wer weiß, wie sich unser Hungergefühl entwickelt.«
»Wieso bist du dir sicher, dass mir deine Auswahl gefällt?«
»Weil ich zufällig eine deiner Bestellungen mitgehört habe.« Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Seit Kurzem arbeitet eine Frau für mich, die ein wenig Aufmerksamkeit aufgrund ihrer Leistungen verdient hat.«
»Mr Franklin, so eine Charmeoffensive hätte ich Ihnen niemals zugetraut.«
»Wenn man mich morgens nicht mit Kaffee bespritzt und einen Umweltsünder nennt, bin ich recht umgänglich.«
»Ja, der Start war eher suboptimal.« Bei der Erinnerung grinste ich breit.
»Kein Kommentar zu deinem Gesichtsausdruck.« Allerdings belustigte der Zusammenstoß ihn heute ebenso. »Gehen wir es an.«
Konzentriert arbeiteten wir an den Fallakten. Eifrig las ich die Aussagen von den Betroffenen, kritzelte Notizen auf Post-its und klebte sie an die jeweilige Seite. Selbst beim Essen gönnten wir uns keine Pause. Je detaillierter ich in die Materie eintauchte, desto gewaltiger wurde das Ausmaß.
»Was ist?« Ein Magenkribbeln stellte sich ein. Wie lange beobachtete Cameron mich schon?
»Deine Arbeitsweise ist interessant.« Er lehnte sich zurück, fixierte mich geradezu. Allein der Satz genügte, um zu erröten. Was ihm natürlich ein Grinsen entlockte. Die Lachfältchen und die ersten Bartstoppeln, die markanten Gesichtszüge, ich konnte mich nicht daran sattsehen.
Mein Herz schlug Purzelbäume.
»Es ist erschütternd, wie viele der Kinder fürs Leben gezeichnet sind«, lenkte ich mit einer betrüblichen Feststellung ab.
»Aus dem Grund war das Angebot inakzeptabel.« Unablässig drehte er den Füller in seiner Hand, während er über den Akten brütete. »Der Konzern hat eingeräumt, für die Umweltschäden verantwortlich zu sein.« Cameron richtete sich wieder auf, so, als hätte er einen Geistesblitz gehabt. »Sorgt eifrig für die kostenintensive Dekontaminierung, was ihm in der Öffentlichkeit Pluspunkte einbringt.«
»Daher ist eine Sammelklage nicht im Interesse von CWM, somit werden sie definitiv nachbessern«, warf ich ein. Langsam kämpfte ich gegen die Müdigkeit an und unterdrückte ein Gähnen.
»Das ist Taktik, denn wenn sie uns sofort ein vernünftiges Angebot unterbreitet hätten, würde es den Verdacht schüren …«
»Den wir eh haben.« In meinem Kopf ratterte es. »Vielleicht müssen wir das Ganze aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Was will CWM noch vor uns verheimlichen?« Schwungvoll lehnte ich mich nach hinten und wuschelte mir durch die Haare.
»Das ist es!« Cameron tippte sich an die Stirn. »Wo ist die Auflistung aller Mitglieder des Sport- und Freizeitcenters?«
»Die mit den Ein- und Austrittsdaten?«
»Ja.« Er legte die Stirn in Denkerfalten.
Ich sprang auf und kramte danach. »Nach was suchen wir?«
»Gehen wir die Namen gemeinsam durch. Setz dich zu mir.« Eine banale Aufforderung, die jedoch ein Kribbeln von Kopf bis Fuß auslöste, da ich ihm ein weiteres Stück näher kommen konnte. Am liebsten hätte ich ihn wieder geküsst oder zumindest berührt. Beides traute ich mich nicht. Trotzdem blieb es komisch, wie meine Müdigkeit abrupt verschwand. Cameron, mein Koffein.
»Überprüfen wir insbesondere die Austrittsdaten.« Von meinem innerlichen Aufruhr schien Cameron nichts mitzubekommen.
»Genau, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt überdurchschnittlich viele Abmeldungen erfolgten, könnte man daraus schlussfolgern, dass es Personen gab, die über die schleichende Vergiftung informiert waren«, griff ich die Idee auf.
»Miss Noris, schlau kombiniert.« Verlegen schaute ich auf die Unterlagen.
»Weichst du meinem Blick aus?« Sein Ton klang belustigt. »Schau mich an.«
Ich schluckte und wandte den Kopf zu ihm. Wir waren uns so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht wahrnahm. Die bislang stets distanzierten und teilweise grimmigen Gesichtszüge waren verschwunden. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Wie unwirklich. Stumm streichelte er meinen Handrücken. Diese Berührung hätte ewig andauern dürfen. Das Knistern zwischen uns kehrte zurück, ich stellte es mir wie kleine Blitze vor, die hin und her zischten.
»So, widmen wir uns der Liste.« Seine Hand ruhte weiterhin auf meiner.
Nickend legte ich den Fokus auf die Austrittsdaten und der Frage, ob es in einem Zeitraum vor dem Bekanntwerden des Skandals Auffälligkeiten gegeben hatte. Die Zahlen flogen in Windeseile durch mein Gedächtnis.
»Sommer vor zwei Jahren!«, stieß ich schließlich aufgeregt aus.
Cameron sprang auf und wanderte wortlos hin und her, währenddessen verhielt ich mich mucksmäuschenstill. In seinem Denkprozess unterbrochen zu werden, hasste er wie die Pest.
»Wir unterstellen, dass das Wissen um die Verseuchung intern viel früher bekannt war«, sprach er mit sich. »Wenn ich ein Unternehmen führe, will ich meine Angestellten schützen.« Gebannt lauschte ich den Überlegungen, die sich zu einem roten Faden entwickelten. »Die erkrankten Kinder und Jugendlichen, aber auch die Erwachsenen, die finanziell nicht übermäßig gut aufgestellt sind … Gibt es da einen Zusammenhang?«
Hektisch zog ich die Namensliste der Mitarbeiter zu mir, die in höheren Positionen bei CWM arbeiteten. Mit den Augen überflog ich die Namen.
»Ich hab’s!« Wie ein Pfeil schoss ich hoch, sodass der Stuhl fast umkippte.
Neugierig stellte er sich neben mich. »Was?« Urplötzlich wirkte er genauso aufgeregt.
»Schau mal, die Namen derer, die in der fraglichen Zeit ausgetreten sind und …« Mit dem Zeigefinger tippte ich auf die Liste.
»Was für Arschlöcher!« Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich.
»Da reicht die angepeilte Summe bei Weitem nicht, und die Chance steigt, das Antragsverfahren zu unseren Gunsten zu entscheiden.« Ein Adrenalinschub peitschte durch mich hindurch und spuckte gewaltige Mengen an Glücksgefühlen aus. Meine Wangen glühten. »Ich verwette meinen, sorry, Arsch darauf!«
»Pearl, du bist genial!« Völlig unerwartet packte er mich und wirbelte uns im Kreis herum. »Ein erster stichhaltiger Hinweis.«
»He, mir wird schwindelig«, lachend klopfte ich ihm auf den Rücken.
Doch die Nähe, die er offen zuließ, wusste ich zu schätzen, denn dass wir heute Nacht auf diese Art miteinander umgingen, glich irgendwie einem Wunder.