Kapitel 2
Oliver
Er schlug seinem Mitarbeiter Hannes anerkennend auf die Schulter. „Ich weiß es wirklich zu schätzen. Ehrlich, Mann. Ich bin sicher, du schmeißt den Laden, bis ich wieder zurück bin, und ich weiß, deine Frau wird über die Gehaltserhöhung begeistert sein. Immerhin könnt ihr das Geld für euren Hausbau gut gebrauchen.“
„Wohl wahr. Aber ob sie das mit den Überstunden auch so sieht? Wir werden sehen.“ Hannes lachte. Man konnte ihm ansehen, wie geschmeichelt er sich fühlte. Immerhin hatte sein Chef ihm gerade seine Firma anvertraut und ihm somit einen wahnsinnig großen Vertrauensvorschuss bewiesen. „Ich hoffe nur, du kommst auch wirklich wieder. Nicht auszumalen, wenn es dir in Brüssel besser gefällt als hier.“
„Das wird nicht passieren“, gab Oliver im Brustton der Überzeugung zurück. Er war sehr erleichtert, wie problemlos das Gespräch verlaufen war. Jetzt fehlte nur noch ein klärendes Gespräch mit Julia und natürlich mit seinem Bruder.
Simon. Mist. Er hatte Simon bisher nicht in seine Pläne eingeweiht und musste das schleunigst nachholen, ehe er es wegen eines dummen Zufalls auf anderem Wege zu Ohren bekam. Wieso hatte er nicht gleich mit ihm darüber geredet? Dann hätte er es schon hinter sich.
Ohne Zweifel würde sich Simons Begeisterung über die Idee seines Bruders, nach Belgien zu gehen, in Grenzen halten. Simon war der Skeptiker und Realist von ihnen beiden. Er würde abwägend den Kopf schütteln, ihm raten, bloß vorsichtig zu sein und das Ganze noch einmal durchzukalkulieren. Trotz des Wissens, sich wahrscheinlich rechtfertigen zu müssen, beschloss Oliver sich den kritischen Argumenten seines Bruders sofort zu stellen. Er wollte es schlicht und ergreifend hinter sich bringen.
„Ich hab noch was zu erledigen, Hannes. Es dauert nicht lange.“ Oliver schnappte sich die Schlüssel und schwang sich auf den Fahrersitz seines Transporters. Im Autoradio lief Juliet von den Bee Gees und sofort musste er an Julia denken. Er würde auf dem Weg zu seinem Bruder bei ihr vorbeifahren. Im besten Fall stand ihr Auto da und sie war zu Hause. Ansonsten konnte er es auf dem Rückweg ja bei der Praxis versuchen …
Oliver parkte gerade ein, als er im Rückspiegel einen Mann aus Julias Hauseingang stürmen sah, der sich ein Tuch gegen das Gesicht presste. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, doch es fiel ihm erst wieder ein, als er näher gekommen war. Er hatte ihn auf der Homepage der Physiotherapiepraxis gesehen. Das war Julias Geschäftspartner, ein gewisser Gerhard oder Gerald oder so ähnlich, und er hatte es mächtig eilig.
Was macht der denn hier? Ob die beiden Streit gehabt hatten, so geladen, wie der wirkt? Ja, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht solltest du dich erst einmal fragen, was es dich angeht, bevor du dir darüber Gedanken machst , sinnierte er ironisch, bis ihm ein völlig anderer Gedanke durch den Kopf schoss – einer, der ihm absolut nicht gefiel. Was, wenn Julia und dieser Typ etwas am Laufen hatten? So schnell dieser unschöne Gedanke aufgekommen war, so schnell tat er ihn als Blödsinn wieder ab. Nein. Auf keinen Fall . Dieser Kerl musste gute zwanzig Jahre älter sein als sie, so wie der aussah. Doch obwohl Oliver es ausschloss, ließ ihn die Vorstellung daran nicht mehr los.
Scheiße. Woher kamen plötzlich diese merkwürdigen Regungen? Er war doch sonst kein eifersüchtiger Typ. Dazu hast du auch keinen Grund und schon gar kein Recht.
Oliver beobachtete im Spiegel, wie sich der Mann schnellen Schrittes auf der Beifahrerseite näherte. Er blutete und musste Schmerzen haben, so wie er dreinschaute. Wow. Ob Julia ihn verdroschen hatte? Für den Bruchteil eines Augenblicks verzogen sich Olivers Mundwinkel zu einem Grinsen, doch dann traf ihn eine andere, weniger schöne Annahme wie ein Vorschlaghammer. Was, wenn sie sich hatte verteidigen müssen? Energisch zog er den Zündschlüssel ab und stieg aus, eine Bewegung, die dem angeschlagenen Mann auffiel, denn er blieb stehen und wandte sich um. Als er Oliver sah, erstarrte er.
Der überraschte Blick des Mannes ließ nur einen einzigen Schluss zu – er kannte ihn – und er wünschte ihm nichts Gutes, das stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Oliver hingegen war sich sicher, ihn noch nie zuvor persönlich getroffen zu haben, weshalb er kombinierte, er könnte von Julia und ihm wissen.
Julias Geschäftspartner murmelte etwas Unverständliches und wollte weitergehen, doch Oliver war mit zwei großen Schritten um seinen Wagen herum und hinderte ihn daran.
„Was ist hier los?“, fuhr er den Verletzten an, der vorsichtshalber einen Schritt zurückwich. Der jedoch schüttelte lediglich den Kopf und funkelte ihn hasserfüllt an, woraufhin Oliver einen weiteren Schritt auf ihn zumachte. „Na los, reden Sie schon, Mann. Was. Ist. Passiert?“
Der Mann nahm das Handtuch von seinem Gesicht und spuckte aus, direkt vor Olivers Füße, der ihn angewidert anstarrte. Die linke untere Gesichtshälfte des Kerls war dick angeschwollen und sah gar nicht gut aus. Doch Oliver hätte ihn am liebsten gepackt und geschüttelt, nur um zu erfahren, was zur Hölle hier vor sich ging. Als der Kerl nur etwas Unverständliches nuschelte, reichte es ihm.
„Rede schon. Und zwar verständlich.“ Mittlerweile klang er so genervt, wie er sich fühlte, erntete jedoch nur ein hämisches Grinsen, begleitet von einem schmerzgeplagten Laut.
„Deine Schlampe hat mir den Kiefer zertrümmert“, quetschte er hervor. „Das wird sie bereuen und du und dein Bruder auch.“ Damit trat er den Rückzug an. Er hastete zu seinem Auto und konnte gar nicht schnell genug wegkommen.
Oliver überlegte nicht lange. Auch er sprintete los, allerdings in Richtung Haus, wobei er dem Kerl hinterherrief: „Wenn ihr etwas fehlt, kümmere ich mich um die andere Seite deines Gesichts, Freundchen.“ Am Haus angekommen, drückte er mit fliegenden Fingern ihren Klingelknopf und murmelte nach einigen Sekunden, in denen nichts geschah: „Na komm schon, mach auf.“
Allerdings wurde er nicht erhört, also betätigte er energisch alle anderen Klingeln des Wohnhauses, bis sich endlich jemand erbarmte und ihn hineinließ. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hechtete er die Treppen nach oben, bis er schließlich vor ihrer Wohnungstür stand.
Er entschloss sich, anzuklopfen, doch nichts geschah. Also verlegte er sich aufs Rufen. „Julia, ich bin’s, Oliver. Bitte mach auf.“ Er wartete und lauschte, doch von drinnen war keine Bewegung zu hören. Etwas lauter rief er: „Julia. Mach auf. Na komm schon. Lass mich rein.“ Wieder geschah nichts. So langsam machte er sich ernsthafte Sorgen um sie. „Ich weiß, du bist da. Wenn du also nicht öffnest, gehe ich davon aus, du kannst nicht zur Tür kommen, und öffne sie gewaltsam.“ Schweigen. „Komm schon. Lass mich nicht hier stehen“, fluchte er und lehnte sich gegen die Tür, um zu lauschen, doch es war nichts zu hören. Verdammt. So hatte er sich seinen Besuch wahrlich nicht vorgestellt.
Eigentlich hatte er sie mit seinen Plänen überraschen und sie fragen wollen, ob sie nicht mitkommen wollte. Doch nun sah er nicht nur diesen zugegebenermaßen ehrgeizigen Plan zerplatzen, sondern auch die verwegene Idee, sie könnten in Brüssel eine gemeinsame Wohnung mieten. Julia reiste gerne. Was also sprach dagegen, ihn zu begleiten? Sie würde mit Sicherheit in ihrem Beruf auch in Belgien Fuß fassen. Und ihre Praxis hier hätte – zumindest für das nächste halbe Jahr – ihr Partner leiten können, was alles nur eine Frage der Organisation gewesen wäre.
Ja, es war extrem kurzfristig, und ja, auch sehr früh. Immerhin kannten sie sich noch nicht einmal einen Monat. Aber es war auch aufregend und spannend. Und war es nicht das, was einem einen neuen Kick verschaffte, wenn man ab und zu auch einmal ein Risiko einging? Dass Julia experimentierfreudig war, hatten die letzten Tage gezeigt, warum also nicht im Ausland neu durchstarten? Ihm war auch klar, wie unfair die ganze Aktion seinem Bruder gegenüber war, doch einmal mehr wollte er sich darüber jetzt keine Gedanken machen.
Oliver hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und erschrak heftig, als er den Ausdruck in ihren Augen sah. Julia wirkte müde und abgekämpft, irgendwie fast apathisch, und eine Welle verschiedener Gefühle überschwemmte ihn, die von Besorgnis bis zu Erleichterung reichten, sie augenscheinlich unversehrt zu sehen.
„Na los, komm schon rein, ehe du das ganze Haus alarmierst“, sagte sie leise und verschwand wieder in der Wohnung, ließ jedoch die Tür für ihn auf. Kein warmes Willkommen, kein Küsschen, keine Umarmung, nichts dergleichen. Angespannt folgte er ihr langsam ins Wohnzimmer, wobei ihm der durchdringende Geruch von Katzenfutter auffiel, der ihm entgegenströmte. Unschlüssig blieb er mitten im Raum stehen und betrachtete Julias völlig neutral wirkende Miene. Sie hatte sich in ihren großen Sessel gesetzt, also setzte er sich ihr gegenüber auf die Couch. Während er noch überlegte, was er sagen sollte, fragte sie ihn: „Wieso bist du hier?“ Sie klang anklagend und ja, ihre Frage war durchaus berechtigt, denn er selbst hatte das Treffen erst für morgen vorgeschlagen. Trotzdem wollte er sich nicht so leicht abspeisen lassen.
„Ich wollte zu Simon und deine Wohnung liegt auf dem Weg“, antwortete er wahrheitsgemäß, woraufhin sie ihn mit einem merkwürdigen Blick bedachte.
„Verstehe, aber das wäre nicht nötig gewesen. Wir sehen uns ja morgen.“
Oliver war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Ihm war klar, etwas hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Es passte nicht zu ihr, handgreiflich zu werden. Seine Menschenkenntnis war gut genug, dies bereits nach der kurzen Zeit, die sie sich kannten, sagen zu können. Er scannte sie erneut nach Verletzungen ab, doch er konnte nichts dergleichen an ihr erkennen – nichts, was darauf hindeutete, es sei etwas vorgefallen.
„Ja, aber nun bin ich ja mal da. Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee, bevor ich wieder gehe?“, fragte er betont beschwingt.
„Hör zu, Oliver. Bitte. Bitte geh. Ich will mich hinlegen“, versuchte sie ihn zum Gehen zu überreden. Aber das würde er nicht tun – nicht einfach so – auf keinen Fall.
„Herr im Himmel. Sag mir endlich, was passiert ist“, entfuhr es ihm ungeduldig, woraufhin sie ihn entgeistert anstarrte.
„Was soll denn passiert sein? Mir ist gerade nicht so gut, das ist alles.“
Das war alles? Oliver mahlte mit den Zähnen, so fest biss er den Kiefer zusammen, um ja nichts Voreiliges zu sagen. Entspann dich , sagte er sich, so wird das nichts. Dann sagte er betont ruhig: „Ich habe deinen Geschäftspartner getroffen. Er ist mir unten auf der Straße entgegengekommen. Ach ja, seine eingeschlagene Fratze fand ich übrigens ganz witzig. Was er übrigens nicht tut – es witzig finden, meine ich.“
„Oh.“ Erschrocken horchte sie auf und ihre Mir-geht-es-gut-und-es-ist-alles-in-Ordnung-Maske fiel. Ihr Blick wurde abweisend. „Und? Was hat er dir erzählt?“
„Erzählt? Nicht viel. Eigentlich hat er lediglich Gift und Galle gespuckt. Darf ich fragen, was du ihm um die Ohren gehauen hast?“ Oliver versuchte nicht zu hinterfragen, was passiert war, denn er war sicher, sie würde es von alleine erzählen, wenn sie so weit war. Er befürchtete, sie könnte sonst zumachen und ihm gar nichts mehr erzählen.
„Ich habe ihm mit der Dose Katzenfutter ins Gesicht geschlagen. Nicht, dass ich ihn unbedingt dort treffen wollte, aber … es ging nicht anders.“
„Katzenfutter? Ah ja. Das erklärt den Geruch“, gab Oliver schmunzelnd zurück. „Wie gut, die griffbereit zu haben, nicht wahr?“
Mit einem Mal schien ihre Anspannung verflogen, und das nur, weil er einen unterschwelligen Witz gemacht hatte. Sie sah ihn an und sagte: „Ja, das fand ich auch. Ach Oliver, Gerald hat uns gesehen. Zusammen, meine ich. Er spioniert mir hinterher, beobachtet mich und sagt, er liebt mich.“ Sie seufzte tief. „Ich wollte ihn nicht so verunstalten, aber er ließ mir keine andere Wahl. Er wird mich wohl anzeigen, befürchte ich.“
Noch immer hatte sie kein Wort darüber verloren, womit er ihre Attacke herausgefordert hatte. Also nahm er einen erneuten vorsichtigen Vorstoß. „Darf ich fragen, womit er sich das Katzenfutter verdient hat?“
„Nichts Dramatisches“, wiegelte sie ab und rieb sich unbewusst über die Arme. „Er ist … zudringlich geworden und hat dabei meine persönliche Grenze überschritten.“
Ihre persönliche Grenze war überschritten worden? Er musste sie nur ansehen, um zu wissen – Julia sagte ihm nicht die Wahrheit. Sie spielte herunter, was immer zwischen den beiden vorgefallen war. Er ballte die Fäuste so fest zusammen, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Hat er dich verletzt?“
Die Frage schwebte einen langen Augenblick lang im Raum, ehe sie zaghaft den Kopf schüttelte und den Blick senkte. „Nein. Nur ein paar blaue Flecke und meinen Stolz. Ansonsten … na ja.“
Zwei Sekunden später kniete Oliver vor ihr. „Zeig es mir.“ Er kochte innerlich vor Zorn über den Mann, dem sie das Gesicht verschönert hatte, doch das sollte Julia auf keinen Fall bemerken.
„Es ist nichts. Wirklich. Nur …“
„Mach schon – zeig her“, unterbrach er sie ungehalten, sauer über ihre Versuche, ihm auszuweichen, und auf sich selbst, weil er so harsch darauf reagierte. Als sie zusammenzuckte, wurde er schlagartig ruhiger. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist nur … ich mach mir wirklich Sorgen um dich.“ Und das ist ziemlich ungewohnt für mich , fügte er in Gedanken hinzu.
Sie nickte, schob den Ärmel ihres Sweatshirts nach oben und entblößte dunkel verfärbte Handabdrücke, die sich deutlich auf der blassen Haut ihrer Oberarme abzeichneten und auf Olivers Stirn eine steile Zornesfalte zauberten. „Er hat mich festgehalten und ist dabei grob geworden.“
„Was noch?“, fragte Oliver mühsam beherrscht, während er vorsichtig über die großen, dunklen Flecken auf ihrer hellen Haut strich.
„Nichts sonst. Das ist alles.“
Wieder eine ausweichende Antwort. Oliver fühlte, wie sich ein fester Knoten in seinem Magen bildete. „Julia. Du hast doch nicht umsonst so zugeschlagen. Bitte. Rede mit mir“, appellierte er an ihre Vernunft. „Hat er dir etwas angetan? Ich meine, hat er dich …?“
„Nein“, fiel sie ihm ins Wort. „So weit kam es nicht. Ich habe ihm vorher die Dose übergebraten. Aber er wollte, ich meine, er hat es versucht.“
Er atmete hörbar aus. „Du ahnst nicht, wie froh ich über deinen kleinen Kater bin.“ Beschwingt fügte er hinzu. „Ich sage nur – autsch. Sicherlich wird er Katzen jetzt für immer hassen. Wo ist denn das kleine Fellknäuel überhaupt?“
„Ja, das denke ich auch. Katzen und widerspenstige Frauen.“ Sie grinste verschmitzt und sah sich suchend um. „Karlchen. Wo steckst du?“, versuchte sie ihren Kater zu locken, doch der ließ sich nicht blicken. Wahrscheinlich hatte er für einen Tag genug Aufregung.
„Also ich liebe widerspenstige Frauen“, witzelte Oliver, wurde jedoch schnell wieder ernst. Zärtlich strich er ihr eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie geht es dir jetzt? Ich meine, es war sicher beängstigend und nicht gerade einfach.“
„War es“, bestätigte sie seine Vermutung. „Ehrlich gesagt – jetzt bin ich froh, dich hier zu wissen. Ich hatte kurz die Befürchtung, er könnte zurückkommen.“
Oliver schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das glaube ich nicht. So wie er geblutet hat, muss er zum Arzt. Ich denke, er wird die nächsten Tage, wenn nicht Wochen, nicht gerade gut sprechen können, geschweige denn vernünftig essen.“
Beunruhigt nagte sie an ihrer Unterlippe. „Meinst du, ich habe zu hart zugeschlagen? Eigentlich dachte ich, es genau richtig gemacht zu haben.“
„Hör mal“, erwiderte er beschwichtigend. „Ich habe das nicht gesagt, um dich zu verunsichern, sondern wollte dich eigentlich beruhigen. Das ist wohl nach hinten losgegangen. Du hast genau das Richtige getan und ich bin heilfroh darüber.“ Er erhob sich, zog Julia aus ihrem Sessel und nahm sie liebevoll in seine Arme. Dann setzte er sich auf ihren Platz und zog sie auf seinen Schoß.
„Musst du nicht arbeiten?“, murmelte sie und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals.
„Eigentlich ja, aber das kann warten. Was ist mit dir? Hast du heute keine Termine?“
„Doch, ich habe Termine. Du meinst also, er wird nicht arbeiten können? Weißt du, ich mag ihm ungern begegnen. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so richtig, wie es weitergehen soll. Wie soll ich ihm nach dieser Geschichte gegenübertreten?“
„Am besten erst einmal gar nicht. Hast du dir überlegt, ihn anzuzeigen? Du musst gewappnet sein, falls er dich wegen Körperverletzung anzeigen sollte, was er vermutlich auch tut.“
„Aber wie soll ich … ich meine, wer glaubt mir schon? Da steht doch Aussage gegen Aussage. Er kann etwas vorweisen.“
„Du auch. Wir machen Fotos von deinen blauen Flecken. Wenn du willst, begleite ich dich zur Polizei. Dort machst du deine Aussage. Dann ist es wenigstens aufgenommen.“
„Mhm.“
Sie fühlte sich weich und warm in seinen Armen an und obwohl sie nach Katzenfutter roch, war es für ihn in diesem Moment der beste Geruch, den er sich vorstellen konnte. Oliver streichelte zärtlich über ihren Rücken bis hoch zu ihrem Haaransatz und wieder zurück. Es war schön, sich um sie zu kümmern, und gab ihm seit Langem mal wieder das Gefühl, gebraucht zu werden. „Nicht einschlafen, meine Süße. Was hältst du davon, zuerst auf die Wache und dann zu Simon zu fahren? Dann können wir von dort aus unseren Anwalt anrufen, der uns vielleicht einige Tipps geben kann. Was meinst du?“
Er strich ihr zärtlich über das Haar und als sie nicht antwortete, versuchte er einen Blick in ihr Gesicht zu erhaschen, doch ihr gleichmäßiger Atem sagte es ihm auch so. Sie schlief. Julia war in seinen Armen einfach eingeschlafen. Es war unbeschreiblich, wie sehr ihn ihr bedingungsloses Vertrauen anrührte – wie sehr es ihn ehrte. Er hauchte einen liebevollen Kuss auf ihr Haar und drückte sie vorsichtig an sich. Mit einem Mal war es undenkbar, ohne sie nach Brüssel zu gehen. Es war nicht mehr wichtig, diesen Job anzunehmen oder hierzubleiben. Ihm wurde bewusst, was ihm all die letzten Jahre gefehlt hatte. Was er versäumt hatte. Dazu hatte es lediglich eine innige Umarmung und eine schlafende Frau gebraucht …